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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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30.07.2010 10:18 Noch Vier Tage von Kino Vollbart
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Hi.
Ist eine ganze Weile, dass ich zuletzt hier war. Jetzt mal ein neuer Kurztext.
Vier Tage
Eine Mauer im Nichts. Rundherum nichts, schwarze, trübe Dunkelheit. Oder ein schmales Sims, das sich an die Flanke einer Felswand schmiegt, kilometerweit unten Geröllhänge, irgendwo diesig im Bodendunst. Nichts, woran ich mich festhalten kann. Ich weiß, was passieren wird.
Dann der unvermeidliche Sturz. Das schreckliche Gefühl, als die Fliehkräfte an den inneren Organen reißen. Scherkräfte zwischen Wollen und Realität. Und so furchtbar das Gefühl des Fallens – schlimmer noch ist die Angst vor dem Aufprall; das Wissen: vollkommen zerschmettert werde ich überleben –
Schweißgebadet, zitternd und allein erwachte ich. Diesen Traum hatte ich als Kind lange Zeit immer wieder. Die Örtlichkeiten wechselten; Mauern, Klippen, Türme – umgeben stets von verschwommener Dunkelheit, Konturlosem. Der Sturz blieb der gleiche.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Das Kind von einst ist erwachsen geworden.
Noch vier Tage.
Frühe Stadt, Morgenwolken noch unbeschienen, das diffuse Licht einer Sonne, die sich unmutig hinter dem Horizont hin und her wirft.
Eine Zigarette zwischen den Fingern auf dem kleinen Balkon, eine Tasse Kaffee in der Hand, rauche ich in die feuchte halbnächtliche Luft. Noch ist sie frisch und klar und kühl.
Unten der Parkplatz einer Softwarefirma, auf dem zwei Autos stehen, eine Audi Cabriolet, grau mit orangefarbenen Felgen, und ein dunkelblauer Van.
Hinter mir, von mir getrennt durch das Treppenhaus, die Wohnung. Heimisch bin ich in ihren vier Wänden nie wirklich geworden, nie wirklich heimisch in dieser Stadt.
In vier Tagen muss ich raus sein.
Vor etwas über einem Jahr, in einem Straßencafé: Am Tisch neben mir jemand, der seine spärlichen Habe auf einem liederlichen Rollkoffer zusammengeschnallt hat; lange Haare, ungepflegter Bart, dreckige Finger, zu lange Hose. Er beugt sich herüber und fragt, was ich schreibe. – Der Anfang eines langen Gesprächs.
Ich erfuhr, wie es zur Obdachlosigkeit kam: Arbeit verloren; Verlust der Selbstachtung und Würde. Scheidung. Depression. Zur Obdachlosigkeit war dann nur noch ein kleiner Schritt.
Schon damals dachte ich: Das könnte meine Geschichte sein.
Er sagte: Solange sich der Wert eines Menschen aus seiner Arbeits- und Konsumkraft schöpft, wird es Menschen geben wie uns: die auf der Straße leben, in Bruchbuden hausen, abhängig von der Gnade eines Systems, dem wir das zu verdanken haben. Aber eine Gnade sei das nicht. Seinen Selbstwert wiederzufinden – wie das gehen solle, wenn der Selbstwert an wirtschaftlichen Erfolg geknüpft sei?
Ich wisse es nicht, sagte ich, das sei mir zu politisch.
Es geht nicht um Politik, sagte er. Es geht um Menschenwürde.
Auf dem Balkon, die Sonne räkelt sich über den Horizont. Das erste direkte Licht. Es ist noch immer kühl.
Keine neue Wohnung in Sicht. Wie viele habe ich schon antelefoniert? Viele.
Vor eineinhalb Jahren – wer weiß, vielleicht schon Jahre vor meiner Geburt – begann der Sturz; aber seit eineinhalb Jahren spüre ich das Reißen an den inneren Organen. Die Scherkräfte zwischen dem, was sein sollte und was ist. Die Träume hörten irgendwann auf, an ihre Stelle trat die Realität.
Der Aufprall wird furchtbar sein. Furchtbarer aber, dass ich ihn überleben muss.
Weitere Werke von Kino Vollbart:
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Alogius Kinnbeber
Alter: 47 Beiträge: 3206
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30.07.2010 11:44
von Alogius
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Moin,
ein sehr düsterer Text, dessen Wirklichkeit für manche Menschen bittere Wahrheit ist. Ohne das Gefühl zu kennen, behaupte ich, Du hast es sehr gut in Worte gebracht.
Zu Anfang die Beschreibung eines Traums. Und zwar von Geschehnissen, die in der Kindheit und Jugend oft so geträumt werden (wie man so sagt; ich träume sie zwischendurch auch jetzt). Erst durch den weiteren Textverlauf wird klar, dass es sich hierbei nicht (nur) um diese Art Traum handelt, sondern auch um eine ungeahnte Voraussicht auf die Dinge, die da kommen werden.
Wenn nämlich Dein Protagonist sich daran erinnert, an die Bilder, an das Gefühl, dann kehren sie zurück, kehrt alles davon zurück und wird so wahr, wie es ihm damals traumwirklich erschienen war.
Sprachlich ist das meiner Ansicht nach sehr gekonnt eingefangen, komprimiert und ungeschönt.
Vielen Dank dafür.
Gruß.
Tom
_________________ Aus einem Traum:
Entsetzter Gartenzwerg: Es gibt immer noch ein nullteres Fußballfeld. Wir werden viele Evolutionen verpassen.
Busfahrer: Tröste dich. Mit etwas Glück sehen wir den Tentakel des Yankeespielers, wie er den Ereignishorizont des Schwarzen Loches verlässt. |
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denLars Klammeraffe
Alter: 31 Beiträge: 522 Wohnort: Düsseldorf
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30.07.2010 11:52
von denLars
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Willkommen zurück, Kino Vollbart!
Eine Geschichte über den Absturz; erst das geträumte Fallen, dann der soziale Niedergang und schließlich sind es nur noch vier Tage, bis die Wohnung geräumt werden muss und Obdachlosigkeit droht. Wir haben eine Traumsequenz, das nachdenkliche Rauchen draußen auf dem Balkon, das Gespräch mit dem Obdachlosen und schließlich einen letzten Abschnitt, in dem die losen Fäden zusammengeführt und verknüpft werden. Für mich scheitert der Text an zwei Dingen: 1) Zum einen weist er eine metaphysische, sehr lyrische Ebene auf, in der das geträumte Fallen übergeht in das Stürzen in der sozialen Realität. Zum anderen ist da das Gespräch mit dem Obdachlosen, in dem eine doch sehr konkrete Kritik am sozialen System und der Reduzierung eines Menschen auf Arbeits- und Konsumkraft angebracht wird. Diese beiden Elemente sind für sich gesehen passend und gut, lassen den Text aber gemeinsam zerfahren wirken. 2) Vor allem in der ersten Traumsequenz und auch, als dein Protagonist zu anfangs auf dem Balkon steht, macht dein Stil Ausscherungen, die für mich an manchen Stellen nicht ganz nachvollziehbar waren und das Lesen erschwerten. Ich suche mal einige konkrete Beispiele heraus:
Zitat: |
Eine Mauer im Nichts. Rundherum nichts, schwarze, trübe Dunkelheit. |
Wenn bereits im ersten Satz gesagt wird, dass die Mauer im Nichts steht, ist es meines Erachtens überflüssig zu erwähnen, dass rundherum nichts ist.
Zitat: |
Dann der unvermeidliche Sturz. Das schreckliche Gefühl, als die Fliehkräfte an den inneren Organen reißen. Scherkräfte zwischen Wollen und Realität. Und so furchtbar das Gefühl des Fallens – schlimmer noch ist die Angst vor dem Aufprall; das Wissen: vollkommen zerschmettert werde ich überleben – |
Nur um das mal fürs Protokoll und für die Nachwelt festzuhalten: Diese Stelle und ihre Wiederholung am Ende des Textes halte ich - im Hinblick auf die Metapher des sozialen Absturzes - für eine der stärksten, die ich bisher in diesem Forum lesen durfte.
Zitat: | Morgenwolken noch unbeschienen |
Womöglich liegt es an mir, aber diesen Einschub kann ich nicht nachvollziehen. Morgenwolken noch unbeschienen - von was? Die Sonne sendet ja bereits diffuses Licht aus. Sind es die Lichter der Stadt, die sie noch nicht beleuchten?
Zitat: | die sich unmutig hinter dem Horizont hin und her wirft. |
"mutlos" würde vielleicht runder klingen.
Zitat: | Unten der Parkplatz einer Softwarefirma, auf dem zwei Autos stehen, eine Audi Cabriolet, grau mit orangefarbenen Felgen, und ein dunkelblauer Van. |
Haben die Autos für die Story irgendeine weitere Bedeutung? Natürlich, du willst ein Panorama vom Ausblick aus dem Balkon zeichnen - aber könntest du nicht einige andere Details beschreiben, die möglicherweise passender sind und nicht noch extra in so einen Satz geschustert werden müssen?
Ansonsten ist dein Stil absolut sicher. Ich kann noch nicht voll und ganz beurteilen, ob mir die letztendliche Botschaft des Textes nicht zu flach ist, aber im Grunde gefällt mir das Ganze. Vielleicht finden andere eine Antwort und sehen den Text in einem völlig anderen Licht.
Liebe Grüße,
denLars
_________________ One whose name is writ in water. |
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The Brain Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1966 Wohnort: Over the rainbow
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30.07.2010 12:43
von The Brain
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Hallo, Kino Vollbart,
Zitat: | Unten der Parkplatz einer Softwarefirma, auf dem zwei Autos stehen, eine Audi Cabriolet, grau mit orangefarbenen Felgen, und ein dunkelblauer Van. |
Der Satz ist Sch....
Zitat: | Heimisch bin ich in ihren vier Wänden nie wirklich geworden, nie wirklich heimisch in dieser Stadt. |
ein bisschen viel heimisch ...
das mit den Wolken und der Sonne hatten wir ja schon ...
ansonsten finde ich den Text sehr gelungen!
Liebe Grüße
The Brain
_________________ Dinge wahrzunehmen,
der Keim der Intelligenz
(Laotse)
***********
Die Kindheit endet nicht mit dem Erwachsenwerden.
Sie begleitet dich durch all deine Lebenstage.
***********
Alle Bücher dieser Welt
Bringen dir kein Glück,
Doch sie weisen dich geheim
In dich selbst zurück.
(Hermann Hesse) |
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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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31.07.2010 04:49
von Kino Vollbart
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Hi.
Zu den einzelnen Kritikpunkten:
Die genaue Erwähnung der Autos war nicht nur als Detailbeschreibung des Panoramas gedacht, auch als "Geldkontrast" zur Wirklichkeit des Protagonisten.
Die Mauer im Nichts und nochmal nichts. Es schien mir wichtig, nicht nur logisch, sondern atmosphärisch dieses Bild wiederzugeben.
Und mit "unmutig" meine ich nicht "mutlos", sondern "voll Unmut" - da fällt mir doch glatt was anderes ein: missmutig... ich werd's ändern.
"Morgenwolken noch unbeschienen" - mein Bild waren Wolken über der Stadt, diffus erhellt zwar, aber von der Sonne nicht unmittelbar beschienen, nicht orange angestrahlt.
Alles in Allem stilistische Dinge, die man so, aber auch anders sehen kann.
Ein für mich gewichtigerer Kritikpunkt ist der, dass die beiden Ebenen von Traum und Gesellschaftskritik nicht recht zusammengehen wollen. Ich werde den Text dahingehend nochmal überprüfen und überarbeiten.
Danke.
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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31.07.2010 08:18
von MosesBob
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Moin Kino!
Willkommen zurück. Wie geht's dir? Was hast du getrieben im letzten Jahr? Freut mich, dass du wieder da bist.
Zum Text: Gefällt mir sehr gut. Dein kühler, komprimierter und nüchtern-rationaler Stil hat nach wie vor Wiedererkennungswert. Ich könnte bemäkeln, dass mir ein Wort wie "schweißgebadet" bei deiner Schreibweise viel zu phrasenhaft und abgelutscht ist (kurioserweise hätte ich gegen ein "schweißnass" nichts einzuwenden) und dass mir das Bild mit den unbeschienenen Wolken auch nach deiner Erklärung nicht so recht stimmig erscheint (zuerst hatte ich übrigens "unbeschriebene Wolken" gelesen; gefiel mir). Aber das sind Kleinigkeiten, die nicht weiter ins Gewicht fallen, denn über alledem steht dein Schreibstil, der durch eine gefühlte Wortkargheit unheimlich viel zu vermitteln vermag. Inhaltlich frage ich mich, ob der Traum vom Sturz eine Vorahnung ist, oder ob hier eine nicht weiter erklärte Angst aus der Kindheit, vielleicht ein Trauma, das hautnahe Erleben dieses Sturzes hervorgebracht hat und in der Perspektivlosigkeit der Gegenwart und der damit verbundenen Schwammigkeit der Zukunft lediglich neue Nahrung findet?
Wie auch immer: Starker Text.
Beste Grüße,
Martin
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
(Sir Peter Ustinov)
Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
(Laotse) |
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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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31.07.2010 15:00
von Kino Vollbart
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Hi, Moses
ich will's mal so sagen: die letzten eineinhalb Jahre waren desaströs;
Tendenz: anhaltend.
Aber lassen wir das unerfreuliche Zeugs.
Hab das letzte Jahr an einem Roman gearbeitet, der demnächst fertig sein könnte.
Mal schau'n, vielleicht finde ich den Kopf, öfter mal wieder vorbeizuschauen,
ist jedenfalls schön, wieder da zu sein.
P.S. "unbeschrieben" - gute Idee...
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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31.07.2010 16:24
von MosesBob
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Kino Vollbart hat Folgendes geschrieben: | Mal schau'n, vielleicht finde ich den Kopf, öfter mal wieder vorbeizuschauen, |
Nur zu, immer gerne.
Stammt der Text da oben aus deinem Roman?
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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01.08.2010 07:52
von Kino Vollbart
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Nein, das ist ein selbstständiger Kurztext - der erste seit Langem.
Ich bin einfach kein Freund davon, Romane als Stückwerk zu verklappen - quasi...
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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01.08.2010 08:57
von MosesBob
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Kino Vollbart hat Folgendes geschrieben: | Ich bin einfach kein Freund davon, Romane als Stückwerk zu verklappen - quasi... |
Verständlich. Na dann, beginnen wir den Tag mit einer Zigarette und einem Kaffee (schwarz).
Hau rein,
Martin
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(Laotse) |
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