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[ENT] Bekenntnisse eines Verstockten

 
 
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reißwolf
Leseratte


Beiträge: 138



Beitrag03.06.2007 22:22
[ENT] Bekenntnisse eines Verstockten
von reißwolf
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Und noch ein etwas umfangreicheres Textlein aus Reißwolfs Schublade, Thema: Schule. Es ist ein etwa drei Jahre alter Entwurf zu einer nur vage angedachten Satire. Für das gesamte Projekt waren maximal 100 Normseiten geplant, dies hier ist die erste Version des Anfangs. Inzwischen habe ich die Form gewechselt (es ist eine Art Briefroman geworden) - da der vorliegende Text also ohnehin nicht mehr verwendet wird, braucht sich niemand Mühe mit einer allzu minutiösen Korrektur zu geben. Dennoch viel Spaß!

Bekenntnisse eines Verstockten

Vorweg: Der langen Reihe der Erzieher, die durch meine dickfellig träge Arbeitshaltung regelmäßig an ihre pädagogischen Grenzen gestoßen wurden, selbstlose Philantropen größtenteils, dieser Riege gebührt Respekt, ja: Hochachtung. Nicht für die Stunden der Verzweiflung allein, die meine Lehrer wegen mir zu durchleiden hatten. Vielmehr sind es die vielen trotzdem unternommenen, zum Teil sehr kreativen Versuche, den für das spätere Leben sich als untauglich Abzeichnenden doch noch für das institutionalisierte Lernen zu gewinnen, mir wenigstens ein Notpaket an Bildung mit auf den sicheren Scheiterweg zu geben, und wenn sie es mir hinterherwarfen.

Ich habe die meisten Namen vergessen. Niemand vergißt die Namen seiner Grundschullehrer, ich schon – ein bekümmerndes Indiz für meine damalige Gleichgültigkeit gegenüber der Anstalt und ihren Vertretern, insbesondere, weil sie so wenig auf Gegenseitigkeit beruhte. Es besteht nämlich kaum Zweifel, daß umgekehrt mein Name sich eingebrannt hat bei den Erziehern, vielleicht in Verbindung mit mancher Stirnfurche oder womöglich - und dieser Gedanke ist mir keinesfalls lieb - als Personifizierung eines beginnenden Haders mit der gefaßten Berufsentscheidung. Aber vielleicht lasse mich an dieser Stelle auch viel zu weit aufragen über das Normal-Null des Meeres aus Kindern, durch das so ein Lehrerleben sein Schifflein lenken muß, und ich war nicht halb so erinnerlich, nicht halb so furchtbar, nicht halb so wichtig, wie ich mich hier mache. Und außerdem: Wer seinen Beruf bezweifelt, tut es aus anderen, wohl triftigeren Gründen – der einzelne, schwer domestizierbare Schüler, der solche Zweifel zufällig auslöst, ist nicht selbst die Ursache. Von Schuld ist er freizusprechen.

Ich darf mich also als entlastet betrachten. Ich war ja auch noch klein. Dennoch ist es seltsam und hoffentlich nur Zufall, daß mindestens drei meiner Erzieher, nachdem es dem Schicksal gefiel, ihre Wege mit dem meinen zu durchkreuzen, sich offenbar aus den Halterungen eines normierten Lebens lösten. Meine Religionslehrerin der ersten Tage war darunter (wie hieß sie doch gleich?), jene Frau, die uns keifend an den Haaren zog und - wenn es sein mußte - auch mal trat, kratzte und sogar biß, um die Kontrolle herzustellen. Nach nur zwei Jahren quittierte sie den Dienst - es hieß, sie habe ein „Nervenleiden“. Sie wurde danach verschiedentlich beim Ladendiebstahl erwischt, was sofort in unserer kleinen Stadt, einem Marktflecken im Niedersächsischen, von den Dächern trompetet wurde. Manchmal sah man sie allein durch die Straßen schleichen, eine krummrückige Gestalt mit traurigen Augen, die Haare zum pietistisch anmutenden Knoten gebunden. Sie murmelte unablässig vor sich hin, wenn sie ihren Spaziergang machte. Hinter ihrem Rücken raunte man sich Gerüchte zu über ein unbestimmtes, dunkles Schicksal, was diese Frau „gebrochen“ habe.
 
Noch eine andere Lehrkraft lenkte nach der Auseinandersetzung mit mir auf abwegige Geleise um. Es war ein junger Geschichtslehrer der für ein knappes Jahr durch unsere Institution marschierte, ein Vielredner mit stechendem Blick, der von den gesetzten, älteren Kollegen immer nur als „Dutschke“ belacht wurde, und dessen Geschichtsinterpretation wir – so unser Direktor hinter vorgehaltener Hand – nicht für bare Münze nehmen sollten. Schließlich sei dies ein Mensch, den man auf politischen Demonstrationen antreffen könne. Herr Dutschke seinerseits spöttelte auch gern, und zwar über mich, weil mein Vater bei der Kirche arbeitete. Religion werde, so Herr Dutschke, schon im Verlauf der nächsten Generation weltweit in Vergessenheit geraten, ich könne das ruhig meinem Vater ausrichten. Die Religionen der Welt würden ins Abseits gestellt, überschattet von der sich immer mehr zuspitzenden, eigentlichen Frage des 21. Jahrhunderts: Wann schafft es der Sowjetkommunismus, den maroden Kapitalismus zu überflügeln? Ich fand seine Ansichten nicht sonderlich originell. Genaugenommen waren es Binsenweisheiten, denen wohl jeder zustimmte: Es waren die Siebzigerjahre. Trotzdem betrachtete er mich als eine Art Widerpart.

Meine guten Arbeiten in seinem Fach waren in Wahrheit schlecht. Das ist auf Anhieb nicht leicht zu verstehen, zugegeben, denn es steckt eine anspruchsvolle Dialektik darin. Meine Antworten waren nämlich nicht einfach korrekt, sondern nur formal korrekt, während der eigentliche Grund für ihrer Korrektheit – und Herr Dutschke durchschaute diesen komplexen Zusammenhang sofort – zutiefst unkorrekt, ja, böswillig war: Gezielte, gegen seine Person gerichtete Provokation steckte hinter meinen richtigen Antworten. Allein, um ihm ein Dorn im Auge zu sein habe ich, sozusagen unbefugt, gute Arbeiten geschrieben. Aber Herr Dutschke war nicht der Mann, den man so leicht täuschen konnte. Ich sah es in seinen Augen, als er mir, dem Sohn des „Kirchenheinis“ zähnerknirschend mein erstes „Sehr gut“ auszuhändigen gezwungen war. „Ich habe verstanden“ sagten seine Augen. „Ich hebe den Fehdehandschuh auf.“ In dem Moment wußte ich, daß ich mit meiner Tour nicht durchkommen würde und erwog kurz, in Zukunft ein paar falsche Antworten beizumischen, um die Situation zu entschärfen. Aber zu spät. Schon bei der nächsten Arbeit hatte Herr Dutschke ein probates Mittel gefunden, meine Arbeit trotz richtiger Antworten schlecht zu benoten: Meine „gewollt elitäre“ Ausdrucksweise sei dem Gegenstand unangemessen und habe lediglich den Zweck, ihn zu provozieren. Es sei die Sprache der "Bourgeoisie"; sie würde den Inhalt verdunkeln, den er deshalb leider nicht bewerten könne. Mangelhaft.
Noch in derselben Woche war dieser Lehrer verschwunden; nach Mittelamerika, wie es hieß, um dort eine Waldorfschule zu gründen.
Er sei sowieso nur ein „Weltverbesserer“ gewesen, sagte unser Direktor damals und wir würden bald eine neue, kompetente Lehrkraft bekommen. Später hörte ich dann, daß Herr Dutschke einer rassistischen Sekte namens „Arische Lichtträger“ in Chile angehörte, die eine paradiesische Entrückung aller Sektenmitglieder voraussagte, während der Rest der Menschheit in den ewigen Feuersee geworfen würde, und zwar am 5. September 1982. Die Sekte tilgte sich dann durch kollektiven Selbstmord aus dem bunten Garten religiöser Blüten. Nicht am fünften September übrigens, sondern am sechsten.

Naja, und dann gibt es noch jenen Direktor der Berufschule, der auch meinen dritten, unbelehrbaren Versuch, den Realschulabschluß über den zweiten Bildungsweg nachzuholen mit Bravour vereiteln konnte. Den unrettbaren Niedergang hat er mir brüllend ins Gesicht prophezeiht, als er mich aus der mündlichen Matheprüfung rausschmiß. Ich sah ihn dann ein, zwei Jahre später mit knittrigem Anzug hinter dem Hamburger Hauptbahnhof herumlungern. Er kramte in den Müllkontainern nach etwas Eßbarem. An diesem Tag fuhr ich direkt nach Hause. Ich machte keine Umwege.

Es sind also drei. Jedenfalls fällt mir keine weitere Lehrkraft ein, die nach der Begegnung mit mir gescheitert wäre. Hat das jetzt mit mir zu tun? Nein, ich glaube, die Zahl von dreien liegt noch im statistischen Mittel, vor allem, wenn man bedenkt, daß ich ungleich viel mehr Schulen besucht habe als der Durchschnittsdeutsche, in diesen ungleich viel mehr verschiedene Klassen durchlaufen mußte, und daß ich also auch ungleich viel mehr Lehrern begegnet bin. Wenn von all denen wirklich nur drei drogensüchtig, kriminell, obdachlos oder verrückt geworden sind, so liegt dieser Anteil wohl noch innerhalb der Gaußschen Glocke, und man darf sich eigentlich freuen.

Gruß, Reißwolf

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Pencake
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Beitrag04.06.2007 18:03

von Pencake
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Hi Reißwolf.

Inhaltlich und sprachlich tadellos - du weißt mit Sprache umzugehen und das Thema fand ich auch interessant.
Habe vor kurzem nach ewigen Jahren meinen alten Klassenlehrer per Zufall in einem Krankenhaus wiedergesehen. Er war das Highlight in meiner Schülerkarriere - hart, intelligent und menschlich integer - das Wiedersehen hat auch einiges in Gang gesetzt.

Ein Hinweis zu deinem Stil: Trotz oder gerade wegen deiner einfallsreichen und geschliffenen Sprache bist du für meinen Geschmack immer dann am besten, wenn du kürzere Sätze einstreust. Sobald du zu lange damit wartest, verliert sich ein wenig dein Rhythmus, der mich ansonsten spielend leicht im Text hält.

Niko
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reißwolf
Leseratte


Beiträge: 138



Beitrag05.06.2007 18:12

von reißwolf
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Danke für das ermutigende Statement!
Zitat:
Ein Hinweis zu deinem Stil: Trotz oder gerade wegen deiner einfallsreichen und geschliffenen Sprache bist du für meinen Geschmack immer dann am besten, wenn du kürzere Sätze einstreust. Sobald du zu lange damit wartest, verliert sich ein wenig dein Rhythmus, der mich ansonsten spielend leicht im Text hält.

Damit hast du ziemlich genau das benannt, woran ich seit einer Weile intensiv arbeite (das Verfassen der geposteten Texte liegt vor dieser Zeit). Ich versuche die Pointen in ultrakurze Sätze, mitunter "Ein-Wort-Sätze" zu packen, die umsomehr "knallen", wenn man vorher längere, die Pointe vorbereitende Gebilde vorausschickt. Es ist vielleicht eine Masche, aber man muß es dennoch ein bischen üben. Und es ist ein Gutes Mittel, wenn man Atem in den Text bringen will: Längerer Satz, kürzerer Satz, Doppelpunkt, Pointe. Längerer Satz, kürzerer Satz, Doppelpunkt, Pointe. (natürlich nicht jedesmal mit wirklichem Doppelpunkt).

Gruß, Reißwolf
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Nihil
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Moderator
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Beiträge: 6039



Beitrag09.06.2007 02:37

von Nihil
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Grüße, Reißwolf!
Selbst sagst du ja, du möchtest keine ausführliche Rezension mehr für diesen Text, also belasse ich es dabei. Es würde deinem Standard sicherlich ohnehin nicht gerecht.
Mir gefällt sowohl die Sprache als auch der Inhalt sehr, sehr gut. Meine Bewertung ist zwar zu 90% subjektiv und oberflächlich, aber das war eine Erzählung, die ich wirklich gern gelesen habe. Bei manchem anderen hier habe ich es nicht einmal über die Grenze des dritten Satzes geschafft. An einer Stelle fehlt ein Wort, hie und da finde ich das verwendete Wort nicht ganz treffend vom Ausdruck her. Nicht zuletzt sind die Lehrerschicksale ein wenig überspitzt, aber wohl gerade deshalb so interessant und unterhaltsam. Besonders das Sektenbeispiel hat mir sehr gefallen. ;)

Bis dann,
- Ganymed
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MosesBob
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Administrator
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Beiträge: 18344

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Beitrag21.08.2007 12:50

von MosesBob
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Ach, Reißwolf! Werter Reißwolf!

Muss ich wirklich in die Vergangenheit blättern, um die Gegenwart mit dir verbringen zu dürfen? Muss ich über die Schulter schauen, um dich vor mir sehen zu können? Ich hätte nicht gedacht, dass es einmal so weit kommen würde.

Ich frage mich, was du gerade machst.
Ich frage mich, mit welchen Worten du deine Umgebung beschreibst.
Ich frage mich, welchen Menschen du gegenüberstehst.
Ich frage mich, ob du jetzt denkst, ich sei schwul?

Lass mal wieder was von dir hören, compadre! smile

Beste Grüße,

Martin


_________________
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(James Herbert)

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