18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Die Tomate und das Ziehen am Mädchenhaarzopf


 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
Aporie
Geschlecht:männlichErklärbär
A


Beiträge: 4



A
Beitrag09.04.2010 15:02
Die Tomate und das Ziehen am Mädchenhaarzopf
von Aporie
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Mein erstes Erinnern beginnt mit einer Ohrfeige. Nicht die, die mein Vater mir kurz darauf gab. Das ist nur die erste Erinnerung an seine Hand. Ich war bereits fünf Jahre alt (was vorher war, liegt im Dunkeln) und stand in einem Garten, in dem mehrere Reihen von Tomatenstauden sich dicht aneinanderdrängten. Der Junge, dessen Vater der Garten gehörte, stand neben mir. Ich war auf dem Weg zum Kindergarten, und der Junge hatte mich über den Gartenzaun hinweg zu sich gewunken. Er war mindestens doppelt so alt und entsprechend kräftiger und größer. Er sah er auf mich herab, zeigte auf eine der fetten roten Früchte und fragte „Willst du eine Tomate?“
 „O ja, gern!“ sagte ich, und als ich zu dem Jungen aufblickte, gab er mir die Ohrfeige. Obwohl ich mich des metaphorischen Zusammenhangs sogleich bewusst wurde - Tomate hieß in der Umgangssprache der damaligen Jungs auch Ohrfeige -, sagte ich wiederum Ja, als er mich fragte „Willst Du noch eine Tomate?“ Ich hielt die erste Frage für eine Art von Scherz, wie er unter etwas älteren Jungs üblich war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand so gemein sein könnte, einen derartigen  Scherz zu wiederholen. Möglicherweise wusste ich auch bereits, sei es aus eigener Erfahrung oder aus frühreifen Beobachtungen, dass Scherze sich entwerten, wenn man sie wiederholt. Der Junge jedoch holte nun mit der linken Hand aus und gab mir eine Ohrfeige auf die rechte Backe.
Als ich weinend weglief, vergoss ich nicht Tränen, weil meine dem Doppelsinn nach wahrscheinlich tomatenrot angelaufenen Backen mir weh taten, mich schmerzte die Erkenntnis, dass ich nicht darauf vorbereitet war, Anderen ausgeliefert zu sein, wenn ich sie beim Wort nahm. Auf dem Weg zum Kindergarten, der auch der Weg war, an dem der Tomatengarten lag, beschloss ich, fortan auf der Hut zu sein bei der Begegnung mit anderen Knaben und  mein Interesse vermehrt auf Mädchen zu richten.
  Da war zum Beispiel Rosemarie, die mir allein schon ihres Namens wegen schon immer wie eine Blumenknospe erschienen war, neben der mir Namen wie Max, Rolf oder Hugo wie Steinschleudern vorkamen. Rosemaries Haar war streng und glatt nach hinten gezogen, wo es sich in gebündelten Strähnen, schmiegsam in sich verschlungen, als lange dicke Zöpfe über ihre Schultern fiel. Als ich mich an diesem Tag mit leichter Verspätung zu den andern Kindern nieder hockte, die bereits in das Spiel mit Bauklötzen vertieft waren, saß Rosemarie nur drei Armlängen von mir entfernt auf dem Boden. Ich war noch ganz benommen von den falsch ausgelegten Tomaten und noch nicht zum Mitspielen bereit. Stattdessen blickte ich eine gute Weile lang auf Rosemaries über ihren Rücken baumelnde Zöpfe. Einem an mir ziehenden Drängen folgend, machte ich mich auf den Knien von hinten an sie heran. Ich streckte die Hand aus und zupfte, mit wohl noch immer geröteten Backen an einem der beiden Zöpfe. Rosemarie warf den Kopf herum, und der Zopf, den ich nicht in meiner Hand hatte, flog dabei über ihre Schulter nach vorn auf ihre Brust, die noch nicht die zugespitzten Formen angenommen hatte, die mich später an Frauen so sehr beeindrucken sollte. Obwohl ich den anderen Zopf noch immer nicht losließ, verwandelte sich Rosemaries Blick auf mich und meine roten Wangen aus einem verschreckten Anflug von Unwilligkeit sogleich in Sanftmut, als sie mir in die Augen sah, und sie wertete die ebenfalls metaphorisch belastete Bedeutung, am Zopf gezogen zu werden, als eine Geste der Zärtlichkeit, und täuschte sich nicht in dem, was gemeint war: Ich wollte ihr Haar berühren.
  Meine Hand dort streicheln zu lassen, wo es eng an ihrer Haut lag, hätte ich nicht gewagt, oder es wäre mir etwas übertrieben vorgekommen. Das Mädchen am Zopf zu zupfen, lag im Schatten einer zweideutigen Auslegung, und ich war froh zu sehen. dass Rosemarie der richtigen auf der Stelle gewachsen war und sich nicht täuschte wie ich zwischen Tomate und Tomate.

(Fortsetzung später)

Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
*Gast*
Klammeraffe
*


Beiträge: 504
Wohnort: Rheinland-Pfalz


*
Beitrag09.04.2010 17:43

von *Gast*
Antworten mit Zitat

Hallo Aporie,

herzlich Willkommen erstmal.

Deine Geschichte ist fesselnd geschrieben, auch wenn ich mich schwer damit tue, die Gedankengänge für die eines Jungen im Kindergartenalter zu halten. Du erzählst sehr bildhaft, und lässt mich die Szenen gut miterleben.

Ein paar Kleinigkeiten:

Zitat:
Mein erstes Erinnern beginnt mit einer Ohrfeige.
Für mich liest sich "das Erinnern" merkwürdig, auch wenn es sicher korrekt ist. Ich würde eher Erinnerung nehmen, oder "Das Erste, woran ich mich erinnere, war eine Ohrfeige."

Zitat:
Ich war bereits fünf Jahre alt (was vorher war, liegt im Dunkeln)
Die Klammer ist eigentlich überflüssig. Es war doch die erste Erinnerung. Auch das "bereits" erübrigt sich.

Zitat:
Er sah er auf mich herab
Ein er zuviel

Zitat:
Obwohl ich mich (mir) des metaphorischen Zusammenhangs sogleich bewusst wurde - Tomate hieß in der Umgangssprache der damaligen Jungs auch Ohrfeige -, sagte ich wiederum Ja, als er mich fragte „Willst Du noch eine Tomate?“
Ein Fünfjähriger wird sich eines metaphorischen Zusammenhangs bewusst? Eher nicht.

Mit Fieseln hör ich hier erstmal auf. Die Sprache ist schön, bildhaft, passt aber einfach nicht zu einem kleinen Kind. Genauso wenig wie die spätere Betrachtung der Kindergartenfreundin. Klar kannst du sagen, es ist eine Erinnerung, von daher wird aus der Sicht eines Erwachsenen geschrieben. Dann ist aber, was ich nicht so gern mag, jeder kindliche Gedanke einem erwachsenen Filter und dessen Urteil unterzogen worden. Wenn Du die Fortsetzung einstellst, werde ich sie trotzdem lesen, weil ich neugierig bin, ob sich die Widersprüche vielleicht durch die Geschichte erklären, und weil ich Deine Art zu schreiben mag.

Lieben Gruß
Sabine
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
ono
Eselsohr
O


Beiträge: 347



O
Beitrag09.04.2010 18:34

von ono
Antworten mit Zitat

hallo aporie,

ich schließ mich dem urteil sabines an und ergänze, dass die erinnerungen an die "tomaten" viel zu detailliert sind, als dass sie als die ersten überhaupt durchgingen. so "schlagartig" pflegen erinnerungen nicht einzusetzen, wie wir alle, die wir mal kinder waren, wissen. da war gewiss schon viel früher was, und die details, mit denen du uns im weiteren verlauf der geschichte überraschst, sind ein bisschen zu deutlich.

bei kindergartenkindern deren brüste zu besprechen und über hautberührungen zu singen, halte ich auch dann für grenzwertig, wenn das lyrich fünfjährig zu sein vorspielt. tipp: lass das. sowas hat momentan überhaupt keinen marktwert, sondern bringt, wenns ganz dumm kommt, den webmaster in schwierigkeiten. mag sein, dass das jetzt arg wichtig gemacht klingt, aber bei "sachen" wie diesen ist ono ziemich direkt - er bremst auch für die ganz kleinen.

nichts für ungut und liebe grüße aus dem gar nichts

ono
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Gast2
Eselsohr
G


Beiträge: 459



G
Beitrag09.04.2010 19:04
..
von Gast2
Antworten mit Zitat

Hallo Aporie,

auch mich stört, dass du die Geschichte zwar schön erzählst, aber zu erwachsen.
Den Hinweis mit der Brust des Mädchens solltest du wirklich weglassen, wenn du aus der Sicht eines Fünfjährigen erzählst. Fünfjährige finden Mädchen ihres Alters nur cool, wenn sie Chef der Clique sind. Ansonsten sind sie so interessant Duschen und Mode!

Demzufolge versteh ich auch nicht, wieso er sich für Mädchen interessiert? Nur wegen der Ohrfeigen eines Älteren?

Ansonsten schön geschrieben und gern gelesen!

Liebe GRüße

Heidi
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
ZamHoTai
Gänsefüßchen
Z


Beiträge: 19



Z
Beitrag09.04.2010 20:34

von ZamHoTai
Antworten mit Zitat

In "Extrem laut und unglaublich nah" nervt mich der kleine Zwerg, der auf Erwachsen tut.
Diese Geschichte finde ich in Ordnung. Und leider ist es nunmal so, dass Kinder nicht erzählen; nicht schriftlich.
Wer lesen will wie ein Kind schreibt, der hat noch nie gelesen, was und wie Kinder schreiben.

@Aporie

Ich gebe dir den ganz einfachen Tipp, die Geschichte solange zu lesen und zu bearbeiten bis du sie sehr gerne liest und sie einen Kreis in sich schließt.
Handlung = klar
Lektüre = zerkaut
Summe = Lesefluss wird durch die zerkaute Lektüre gehemmt.

Zudem solltest du dich bzgl. der Handlung fragen, für wen die Geschichte zum Lesen geeignet ist. Mich interessiert, ob mehr dahinter steckt als nur eine Erinnerung aus einer Kindheit.


_________________
Schreiben bedeutet Wortknochen zu beleiben und niemals Worte zu verschweigen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
*Gast*
Klammeraffe
*


Beiträge: 504
Wohnort: Rheinland-Pfalz


*
Beitrag09.04.2010 21:26

von *Gast*
Antworten mit Zitat

@Zam:
Zitat:
Wer lesen will wie ein Kind schreibt, der hat noch nie gelesen, was und wie Kinder schreiben.
Würde Dir kaum jemand widersprechen, auch wenn Kinder manchmal erstaunliche Sachen schreiben, so sie es denn schon können. (Lass Dir mal ein Bild von einem Kind erklären) Es ging um Gedankengänge von Kindern, nicht darum, was sie wie schreiben. Wenn ich eine Kindheitserinnerung beschreibe, kann ich mich der Sicht des Kindes annähern und das ist hier nicht geschehen, sondern es sind erwachsene Gedankengänge auf eine kindliche Sicht aufgepfropft worden. Das kann manchmal funktionieren, weil auch Kinder "altkluge" Gedanken äußern. Aber hier ist es viel zu kompliziert ausgedrückt, als dass es auch nur im Ansatz glaubhaft wirken würde.

Lieben Gruß
Sabine
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Aporie
Geschlecht:männlichErklärbär
A


Beiträge: 4



A
Beitrag09.04.2010 22:12

von Aporie
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Vielen Dank für die intensive Beschäftigung mit meinem Text.
Der Haken liegt dort, wo der Text etwas einsam an ihm hängt, weil ihm zwei Fortsetzungen fehlen.

Ich wollte mich bei meinem ersten Auftritt an die Regel halten, Geschichten mit mehr als 500 Worten stückweise hier reinzustellen. Wenn man die Geschichte im Ganzen liest, wird sehr rasch klar, wer hier spricht, welches die Gedanken des Knaben sind, und wo sie bloß kommentiert werden.
Ich ging davon aus, dass das Suchen nach Kindheitserinnerungen eigentlich schon voraussetzt, dass es sich beim Erzähler um einen Erwachsenen handelt. Allerspätestens dort, wo der Erzähler bereits weiß, was ihn an Frauen einmal so sehr beeindrucken wird.
Hinzu kommt, dass die Metasprache, also die Reflexionen über das gleichzeitig sich Fortschreibende eine wichtige Rolle in dieser Geschichte spielt. Gleiches ist zu sagen zum Spiel mit den Zeiten.

Ich tue wohl besser daran, den Mittelteil und das Ende der Geschichte nicht auch noch voneinander zu trennen, um sie nicht weiteren Missverständnissen auszusetzen. Schon der erste Satz dürfte sie zerstreuen.

Kritik ist mir trotzdem willkommen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Aporie
Geschlecht:männlichErklärbär
A


Beiträge: 4



A
Beitrag09.04.2010 22:16
Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf (Ganzabdruck)
von Aporie
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Die auf meine beiden Textteile gefolgten, beziehungsweise nicht erfolgenden postings haben mich bewogen, den überarbeiteten Gesamttex in diesen Strang zu stellen. (um Nachsicht bittend
für die Überlänge.)


Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf


Ich wollte schon als Kind ein Erwachsener sein, was mich, als ich es endlich wurde, nicht daran hindern konnte, mich nun kindischer zu benehmen als vorher. Ich hatte mich gut darauf vorbereitet, hatte viel gelesen, war in der Schule sehr aufmerksam, hatte an Erwachsenen genau beobachtet, wie sie sich in bestimmten Situationen verhielten, und während andere Kinder Verstecken spielten oder mit Bauklötzen Türme bauten, legte ich mich unter einen Baum ins Gras oder setzte mich zwischen alten Leuten auf eine Parkbank und machte das verträumte Gesicht von Kindern, die über das Leben nachdenken. Als mich dann das  Leben selbst zu einem Erwachsenen machte, zeigte es sich von einer Seite, die ich nicht bedacht hatte. Die Zeit, auf die ich so lange gewartet hatte, verging nun so rasch, dass ich auf das jeweilige Gebot der Stunde gar nicht angemessen reagieren konnte, und was von mir verlangt wurde, traf mich meistens auf dem falschen Fuß  und entsprach überhaupt nicht den Schritten, die ich für mein Leben als Erwachsener vorbereitet hatte.

   Wie immer, wenn etwas schnell in einem abläuft, muss man Kopf und Sinne auf die unmittelbare Gegenwart richten und gleichzeitig die möglichen Folgen falschen Handelns bedenken. Vielleicht ist das der wichtigste Grund, dass ich das, was ich oft nur mit mangelhaftem Erfolg hinter mich gebracht hatte, ebenso rasch wieder vergass. Ich blickte nicht zurück, sondern beharrlich vorwärts. All dies hat nun dazu geführt, dass ich mich erst im Alter mit meiner Kindheit beschäftige, und nun etwas ratlos vor diesem brachen Feld stehe, in das ich, statt seine Früchte zu ernten, immer nur Vorstellungen gepflanzt habe.
Wenn andere Menschen über ihre frühesten Kindheitserinnerungen sprechen, hat ihr Leben schon vom zweiten oder dritten Jahr an Spuren hinterlassen, während sich der Nebel über meinen Erinnerungen erst zu lichten beginnt, wenn ich mir als einem fünfjahrigen Knaben auf seinem Weg in den Kindergarten begegne. Zwar glaubte ich manchmal, flüchtige Bilder aus früherer Zeit aufscheinen zu sehen, aber als ich vor ein paar Wochen im Fotoalbum meiner Mutter blätterte, stieß ich auf täuschend ähnliche Momentaufnahmen aus dem Vorbewusstsein. In Wirklichkeit hatte ich mich nur an ein Foto erinnert, das ich mir so lange und so oft angesehen hatte, bis es sich als Erinnerung abspielen konnte.

Meine erste Erinnerung beginnt mit einer Ohrfeige. Nicht die, die mein Vater mir kurz darauf gab. Das ist nur die erste Erinnerung an seine Hand. Ich war fünf Jahre alt und stand in einem Garten, in dem mehrere Reihen von Tomatenstauden sich dicht aneinanderdrängten. Der Junge, dessen Vater der Garten gehörte, stand neben mir. Ich war auf dem Weg zum Kindergarten, und der Junge hatte mich über den Gartenzaun hinweg zu sich gewunken. Er war mindestens doppelt so alt und entsprechend kräftiger und größer. Er sah auf mich herab, zeigte auf eine der fetten roten Früchte und fragte „Willst du eine Tomate?“
„O ja, gern!“ sagte ich, und als ich zu dem Jungen aufblickte, gab er mir die Ohrfeige. Obwohl ich mich des metaphorischen Zusammenhangs, wie ich es heute ausdrücken würde, sogleich bewusst wurde - Tomate hieß in der Umgangssprache der damaligen Jungs auch Ohrfeige - sagte ich wiederum Ja, als er mich fragte „Willst Du noch eine Tomate?“ Ich hielt die erste Frage für eine Art von Scherz, wie er unter etwas älteren Jungs üblich war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand so gemein sein könnte, einen derartigen Scherz zu wiederholen. Möglicherweise wusste ich auch bereits, sei es aus eigener Erfahrung oder aus frühreifen Beobachtungen, dass Scherze sich entwerten, wenn man sie wiederholt. Der Junge jedoch holte nun mit der linken Hand aus und gab mir eine Ohrfeige auf die rechte Backe.
Als ich weinend weglief, vergoss ich nicht Tränen, weil meine dem Doppelsinn nach wahrscheinlich tomatenrot angelaufenen Wangen mir weh taten, mich schmerzte die Erkenntnis, dass ich nicht darauf vorbereitet war, Anderen ausgeliefert zu sein, wenn ich sie beim Wort nahm. Auf dem Weg zum Kindergarten, der auch der Weg war, an dem der Tomatengarten lag, beschloss ich, fortan auf der Hut zu sein bei der Begegnung mit anderen Knaben und mein Interesse vermehrt auf Mädchen zu richten.

Da war zum Beispiel Rosemarie, die mir in der Erinnerung wie eine Blumenknospe entgegenwächst, allein schon ihres Namens wegen, neben dem mir Namen wie Max, Rolf oder Hugo wie Steinschleudern vorkommen. Ich erinnere mich an einen Blick aus Rosemaries Augen, obwohl ich sie zunächst nur von hinten sehe,  das streng und glatt über den Kopf gezogene Haar, das in gebündelten Strähnen, schmiegsam in sich verschlungen, als lange dicke Zöpfe über ihre Schultern fällt.
   Als ich mich an jenem Tag mit leichter Verspätung zu den andern Kindern niederhockte, die bereits in das Spiel mit Bauklötzen vertieft waren, saß Rosemarie nur drei Armlängen von mir entfernt auf dem Boden. Ich war noch ganz benommen von den falsch ausgelegten Tomaten und noch nicht zum Mitspielen bereit. Stattdessen blickte ich eine gute Weile lang auf Rosemaries über ihren Rücken baumelnde Zöpfe. Einem an mir ziehenden Drängen folgend, machte ich mich auf den Knien von hinten an sie heran. Ich streckte die Hand aus und zupfte, mit wohl noch immer geröteten Backen an einem der beiden Zöpfe. Rosemarie warf den Kopf herum, und der Zopf, den ich nicht in meiner Hand hatte, flog dabei über ihre Schulter nach vorn auf ihre Brust, die noch nicht die zugespitzten Formen angenommen hatte, die mich später an Frauen so sehr beeindrucken sollte. Obwohl ich den anderen Zopf noch immer nicht losließ, verwandelte sich Rosemaries Blick auf mich und meine roten Wangen aus einem verschreckten Anflug von Unwilligkeit sogleich in Sanftmut, denn  als sie mir in die Augen sah, wertete sie den ebenfalls doppeldeutigen Begriff, am Zopf gezogen zu werden, als eine Geste der Zärtlichkeit, und täuschte sich nicht in dem, was gemeint war: Ich wollte ihr Haar berühren.
   Meine Hand dort streicheln zu lassen, wo es eng an ihrer Haut lag, hätte ich nicht gewagt, oder es wäre mir etwas übertrieben vorgekommen. Das Mädchen am Zopf zu zupfen, lag im Schatten einer zweideutigen Auslegung, und ich war froh zu sehen. dass Rosemarie der richtigen auf der Stelle gewachsen war und sich nicht täuschte wie ich zwischen Tomate und Tomate.
  
Zurückblickend auf diesen Tag, mit dem mein Erinnern beginnt, fällt mir der Unterschied zwischen der Ambiguitätstoleranz des Knaben, der ich damals war, und jener des Mädchens auf. Meine bestand darin, dass ich die Doppeldeutigkeit zwar schon reflektierte, bevor ich die zweite Ohrfeige bekam, mich aber nach der ersten dennoch blitzartig entschloss, an das Gute im Menschen zu glauben, obwohl ich noch keine Ahnung hatte von der Bergpredigt. Als ich drei oder vier Jahre später den Satz „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ zum ersten Mal las, war ich erst hell begeistert, nicht nur von Jesus, sondern auch von mir selbst, denn schließlich hatte ich im Alter von fünf Jahren, obwohl mit Jesus nur aufgrund frommer Sprüche meiner Mutter vertraut, sozusagen exemplarisch gehandelt. Doch mein Stolz darauf geriet schon nach wenigen Sekunden ins Wanken, da ich inzwischen auch gelernt hatte, die Faust zu machen. Ich ließ das verwirrende Gedankenspiel mit einem Unentschieden enden, weil ich den Kern des Guten in diesem Satz zwar bejahen konnte, nach ihm zu handeln, mir jedoch als Feigheit erschienen wäre. Es ging mir dabei wie mit ein paar anderen Bibelworten, die ich inzwischen kannte, und die ich des Öfteren hervorkramte, um sie altklug und überheblich als lapidaren Kommentar zwischen Fragen und Bemerkungen anderer Kinder zu streuen. Wahrscheinlich nicht aus Frömmigkeit, sondern weil ich den Eindruck erwecken wollte, ich hätte die Weisheit  mit Löffeln gegessen, wobei ich, was mich selbst betraf, stets darauf achtete, mich an einem solchen Löffel niemals zu verschlucken. Als ich mir zum Beispiel die Zehn Gebote näher ansah, fanden neun davon meine spontane Zustimmung. Aber dieses befremdliche Sechste erinnerte mich sogleich wieder an Rosemarie, und das Verbotene zog mich so sehr an, dass ich geradezu danach gierte, bei der nächstmöglichen Gelegenheit weit heftiger dagegen zu verstoßen. Obwohl meinem Körper einige Voraussetzungen dafür noch immer fehlten, betrachtete ich nachts im Bett liegend das kleine Zipfelchen zwischen meinen Beinen mit großer Andacht, etwa so, wie ich bei der Ersten Kommunion die Hostie betrachtet hatte, mit der Vikar Willfinger vor meinen Augen ein Kreuz schlug, bevor er mir den Fleisch gewordenen Herrn in den Mund schob.

Die Ambiguitätstoleranz des Mädchens war jedoch. wie ich nun feststellen muss, in ihrer stofflichen Relevanz viel zielgerichteter und feiner gewirkt als die meine. Es kannte die eine Bedeutung sehr wohl, denn auch andere Knaben rissen an Rosemaries Zöpfen. Die ihr sehr geläufige Bedeutung schloss sie jedoch reflexartig aus, als sie mir in die Augen sah. Während ich im alles entscheidenden Moment auf die Tomate geblickt hatte, sah Rosmarie mir ins Gesicht und wusste sofort Bescheid: So blicken Knaben nicht, wenn sie einem übel wollen.
Aus heutiger Sicht und dem Halbwissen des Knaben um ihre Bedeutung entwickelte sich aus dieser spielerisch kindlichen Begegnung der rote Faden, an dem ich weiterhin spinnen sollte, angesichts all der   körperlichen Verlockungen, mit denen ich mich später von Frauen  umgarnen ließ. Mein Reißen an Rosemaries Zopf und der Blick, den  mir das kleine Mädchen als Antwort schenkte, so weiß ich nun, steht nicht von ungefähr am Anfang meines Erinnerns.

   Auch Rosemaries Mutter sah wohl Rot, als ihr gewahr wurde. mit wem ihre kleine Tochter sich da einließ, und sie verbat Rosemarie, sich weiterhin den von ihr so genannten Doktorspielen hinzugeben, zu denen ich Rosemarie angeblich verführt hatte. Doch mein Verlangen war damals  weit harmloser. Ich erinnere mich noch heute an das Hellblau ihrer Unterhose (metasprachlich würde mir jetzt Rosa besser gefallen, aber um bei der Wahrheit zu bleiben), es war tatsächlich Hellblau, und so soll es in meiner Erinnerung auch bleiben, die mir, während ich an ihr arbeite, zusehends unzuverlässiger vorkommt, weil ich nie genau weiß, wo sie auf Wirklichkeit und wo sie auf Erfindung baut.
 
 Jedenfalls riss ich Rosmarie nie das Höschen herunter, ich beließ es dabei, an dessen kurzen Beinstößen zu fingern, die Haut darunter blieb unberührt, so wie ich vorher Rosemaries Haar, obwohl daran reißend, nicht dort berührte, wo ich ihre Haut hätte spüren können. So also sahen Mädchenunterhosen aus. Dieses Geheimnis zu lüften und es sogar mit Händen berühren zu können, genügte mir vollkommen.
   Rosemarie, die genau genommen Myriam hieß, was jedoch, wäre ich bei der Wahrheit geblieben, nach komplizierteren Metaphern als Blumenknospe verlangt hätte, öffnete ihre Knospe nicht mir, sondern sehr viel später Jungs wie Max, Rolf oder Hugo, wobei ich das so genau gar nicht wissen konnte. Es blieb nur als schmerzliche Ahnung zurück, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, weil sich meine Eltern nach einer günstigeren Wohnung umsehen mussten. Beim Abschied am Tag vor dem Umzug ergab sich die Gelegenheit, uns zum ersten (und letzten) Mal zu umarmen.

   Danach sahen wir uns nie mehr. Nur zufällig lernte ich an einem vom Art Directors Club Schweiz veranstalteten Essen Rosmaries kleinen Bruder kennen, der zu der Zeit, als ich seine Schwester am Zopf riss, noch gar nicht auf die Welt gekommen war und nun als Grafiker in einer Basler Werbeagentur arbeitete. Als ich mich bei ihm nach Rosemarie erkundigte, sagte ihr Bruder, dass sie jetzt in Rimini lebe, verheiratet mit einem Italiener, der Battisti hieße. Obwohl er danach auch betrunken war, setzte ich mich in seinen Porsche, weil er sich anerboten hatte, mich nach Hause zu fahren. Erst als ich gestern damit begann, zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen zurückzufinden und dabei auf Rosemarie stieß, wurde bei der Suche nach der Zeit, in der wir uns kurzfristig ineinander verloren hatten, der Wunsch in mir wach, bei Google und bei youtube zu recherchieren, um Rosemarie wieder in ihre mich einst so betörende Gegenwart holen zu können. Ihrem Bruder kann ich nicht mehr um nähere Auskunft bitten. Schon vor mehreren Jahren hat er seinen Porsche auf dem Weg nach Paris an einen Baum im freiburgischen Jura gefahren und war sofort tot. Doch Battisti und Rimini sind mir haften geblieben. In einem Eintrag bei Google fand ich einen Giovanni Battisti, der sechs Jahre nach seiner Pensionierung verhaftet wurde, weil er kurz vor seinem Rücktritt Versicherungsgelder unterschlagen haben soll. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft im Carcere di San Marino, der auf dem Foto in Google aussieht wie ein Ferienhaus für den Mittelstand, allerdings so üppig vergittert wie die die Villen der Reichen. Nun erinnerte ich mich auch, dass mir Rosemaries Bruder erzählt hatte, ihr Mann wäre Direktor einer Versicherungsgesellschaft des Stadtstaates San Marino. Über Rosemarie, die sich nun wohl Rosa Maria oder vielmehr Myriam oder Mariam Battisti nennt (um sicher zu gehen, habe ich alle drei Vornamen eingegeben), fand ich leider weder bei Google noch bei youtube einen Eintrag. Den Gedanken, dass sie, während ihr Mann im Gefängnis sitzt, womöglich bereits in einem Grab des Cimitero Municipale von Rimini liegt, verdrängte ich erfolgreich, obwohl mir die Nähe zu Federico Fellini, der im gleichen Friedhof untergebracht ist, als ein sehr geeigneter Ort erscheinen würde, Rosemarie nur noch als meine erste Kindheitserinnerung fortleben zu lassen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du keine Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Formsache und Manuskript / Software und Hilfsmittel
Satzzeichen vor und nach kursivem Wor...
von Golovin
Golovin Formsache und Manuskript / Software und Hilfsmittel 24 27.04.2024 13:45 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Roter Teppich & Check-In
Hallo Welt! sagte die schreibende Tig...
von Tigerlilie
Tigerlilie Roter Teppich & Check-In 8 26.04.2024 16:33 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Dies und Das
Was bedeutet das Wort dialogal?
von PatDeburgh
PatDeburgh Dies und Das 5 26.04.2024 13:57 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Agenten, Verlage und Verleger
Nur mal in die Runde gefragt
von Alfred Wallon
Alfred Wallon Agenten, Verlage und Verleger 8 26.04.2024 13:01 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Rechtschreibung, Grammatik & Co
Semikolon und Apostroph
von Golovin
Golovin Rechtschreibung, Grammatik & Co 13 25.04.2024 22:56 Letzten Beitrag anzeigen

EmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlung

von MosesBob

von Enfant Terrible

von Mogmeier

von Raven1303

von LightVersionXX

von Raven1303

von Ruthi

von MoL

von Mercedes de Bonaventura

von Münsch

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!