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Johann Wolfgang will Netto betreten


 
 
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wallenstein
Eselsohr
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Alter: 61
Beiträge: 331
Wohnort: Duisburg


W
Beitrag21.03.2010 20:03
Johann Wolfgang will Netto betreten
von wallenstein
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Eigentlich ist hier alles beim alten. Zwischen zwei Lehrbriefen und der unumstößlichen Erkenntnis, dass die große Prosa kein Einlass in mein Hirn findet, sah ich dann vor drei Wochen meine geliebte PLUS-Filiale ums Duisserner Eck plötzlich verschwinden, stattdessen ein gelb-rotes-Knüllerlogo prangen und da dachte ich bei mir: wer kauft heute noch im real life ein, sind die wahren Dinge, die wir benötigen -- heutzutage, nicht alle längst im Internet?

Ich wünsche gute Unterhaltung und freue mich auf euer Feedback.



Johann Wolfgang will Netto betreten

„Johann Wolfgang will Netto betreten“, poppte die Denkblase auf. Er sah sich bei Netto um. Wieder nur diese beräderten Einkaufsgitter! Herrgott, dachte er, warum konnten die Leute nicht Körbe nehmen, vernünftige Taschen oder gar einen Gehilfen, warum musste auch er sich abplagen, warum gesellte sich keine Christiane an seine Seite? War er nicht lange genug hier, hatte er keine der niederen Frauen anziehen können?
Er brauchte 200 Cybs, er hatte 190, das hieß, Netto musste ihm die fehlenden 10 Cybs einbringen. Irgendwie.
„Hi Mephistoles!“ – eine hagere Frau schob sich ihm in den Weg. Ihre Haare waren blau, standen igelig ab.
Ein Punk, durchzuckte es ihn. Ein Punk. Wie hatte er auf einen Punk zu reagieren? Mit einem Klick verstellte er die Mimik auf „Wegsehen“ und drehte seinen Avatar um 90 Grad. Puh! Er musste aufpassen. Wenn er sich nicht avatargemäß verhielt, würde ihm das 22 Cybs Abzug kosten, aber bei Netto sich avatargemäß zu verhalten, das war schon eine Kunst für sich! Dabei hatte er nicht übel Lust, dieser gutbürgerlichen Punkerdirne zu zeigen, dass sie in Wirklichkeit eine studierte Altphilologin war. Dann hätte er 170 Cybs im Sack und konnte sich den ganzen Einkaufsrummel sparen. Doch die Zeit war knapp. Er musste binnen zwanzig Minuten seine Cbys eingesammelt haben, sonst verpasste er die Umkleide.
Wie hatte er überhaupt so blöd sein können, ärgerte er sich. Er kam jetzt zu den Fischkonserven. Ich hatte den Weibern mit Johann Wolfgang imponieren wollen, räumte er ein. Gewiss, aber nicht denen mit blauen Haaren. Auch auf Altphilologinnen stand er eigentlich nicht. Wie aber ... Neben seiner Denkblase poppte ein Sternchen auf: „Knuff gegen Oberarm.“ Oh, was denn jetzt? Er zoomte in die Totale – und blickte auf eine bis auf feinste Pixel gerenderte Gucchi-Leinenjacke. Oh mein Gott, Scherenhände? Johnny? – Sparrow? War das Sparrow? Wenn ja, welcher? Es wimmelte nur so von Sparrows hier. War das der, der ihm im Moulin Rouge gestern Blutsbrüderschaft angeboten hatte? „Hi, Sparrow“, tippte er. Shit, wenn der jetzt Smalltalken wollte, würde das sein Zeitfenster sprengen. Aber wenn er ihn abwies, würde er 20 Cybs wegen fehlender Konversation zahlen und weil er Johann Wolfgang war, sicher das Doppelte. Langsam verfluchte er diesen Johann Wolfgang!
„Haste den Stilbruch gesehen, direkt bei den Möhren“, erschien in Sparrows Sprechblase, „da muss ein Genitiv hin und in der Frischtheke tummelt sich wieder ein Deppenapostroph. Johann, klemm dich dahinter, das bringt dir, geschickt ausformuliert, 800 Cybs!“
Oh mein Gott, war dieser Sparrow etwa der Gunhild aus seiner Studentenzeit? Gunhild, der vertrocknete Germanist?
Sein unveränderter Gesichtsausdruck brachte ihm 10 Cbys Strafe und dem anderen ein fettes Smiley-Lachgesicht.
Sparrow hatte Recht, die 800 Cbys waren nicht zu verachten. Aber schaffte er die noch? Er setzte 100 Cbys für eine dringende personal message: „Johann Wolfgang ruft den Netto-Filialleiter.“
Ein Avatar mit unbedecktem Oberkörper, muskelpaketet wie ein Bodybuilder, eilte herbei. Orgafresh, stellte er sich vor und weiter: „Eh, bissu Goethe, wa?“
Welch ein Akzent! Johann Wolfgang ließ seine Mimik lächeln. „Es gibt eine Kleinigkeit“, tippte er, „und zwar –“ er führte das auf, was Sparrow ihm angetragen hatte und bemerkte, dass sein Gegenüber zu lange brauchte. Zu lange. Gott, der musste handeln, wenn der nicht bald handelte, wurde aus der Umkleide nichts.
„2 Cbys Abzug wegen unerlaubt langem Aussitzen einer Antwort“, schlug er als Strafe vor, im selben Moment kam Leben in den Muskelbepackten, „Orgafresh wird zu einem wichtigen Telefonat gerufen“, gab die Sprechblase bekannt.
Oh Shit, Johann Wolfgang zuckte zusammen, das konnte nicht wahr sein!
Ihn durchfuhr ein Gedanke. Der Anruf war ein fake. Sollte er den Joker setzen? Er sah im Screen seine Lebenszeit abtickern, fünf Minuten, keine Zeit, ein Tribunal von Zweitlebern aufs Tapet zu rufen. Wenn er sich nicht sputete, hatte er diesen  Johann Wolfgang sieben weitere Tage am Arsch!
Er anvisierte die rechte Schulter des Filialleiters, mausklickte auf: „Stehen bleiben, Freundchen!“ und wartete, dass sein Text in dessen  Sprechblase erschien. „Seit wann rennt ein Netto-Filialleiter mit nacktem Oberkörper durch die Cyberwelt, hm?“, ereiferte er sich.
Orgafresh antwortete mit einem Ascii-Schimpfwortzeichen, das ihm prompt 7 Cbys Strafe kostete, drei weitere stellte ihm Johann Wolfgang sofort in Rechnung, weil er Filialleiter war und er sich vor seiner Kundschaft nicht so zu echauffieren hatte!
Es fehlten noch 107 und ihm blieben kaum mehr als drei Minuten.
Doch Orgafresh schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Goethe, Goethe, Goethe! Der hätte gereimt, nicht so gesprochen!", verkündete er.
Verflixt. "Leck mich!", tippte er,  grübelte. Rasch drückte er alt+tab und überführte sich ins Internet, googelte nach „Leck mich“, und „Goethe“ – falls der Andere ihn darauf festnagelte. Einen Moment war er versucht, seine hochzufriedene Mimik seinem Avatar zu übertragen, doch er gab sich besonnen.
800 Cbys tickerten auf seinem Konto ein. STRIKE! Hatte Orgafresh freiwillig gezahlt oder Sparrow ihm eine wohltätige Summe überwiesen? Egal, er hatte mehr Cybs, als er brauchte und benutzte den Teletransporter zurück zum Portal. Er kaufte vierzehn Minuten Extralebenszeit und verschwand in der Umkleide.
Man zog ihm die Kleidung vom Leib, der altbackene Körper des 50-jährigen verschmolz zu einem 2nd-Live-Standard, zur Rechten blätterte sich eine Bibliothek prominenter Existenzen auf, doch er hatte genug von diesen. Dort, die einfachen, er klickte sie einzeln an: billige Landmädchen, die auf Gelegenheiten warteten, Gesindel, das bettelte. Ein fahrender Gaukler wollte er werden, ja, das wollte er. Ein Gaukler mit Narrenkappe, der dem Musikus mit Rassel und Eulenspiegel diente, ja, das wollte er.
Höheres, Prominenteres – das hatte er eigentlich hinter sich.

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anuphti
Geschlecht:weiblichTrostkeks

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Beiträge: 4320
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Beitrag22.03.2010 15:07

von anuphti
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Hallo Wallenstein!

lol

Also, ich habe das aus Zeitmangel jetzt nur diagonal überflogen, desegen auch (maximal) 13, 7 % verstanden, aber so laut gelacht, dass meine Rezeption meine Bürotür präventiv geschlossen hat.

So witzig, so originell, und perfekt umgesetzt.

Wenn das Lyrik wäre, wären es 9 Federn!!

Wenn ich Zeit habe, werde ich es noch einmal gründlich lesen, und mir jede Zeile auf der Zunge zergehen lassen.

Vielen Dank für dieses Gustostückerl!

Liebe Grüße
Anuphti


_________________
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Scribus
Geschlecht:männlichWortedrechsler


Beiträge: 82



Beitrag22.03.2010 20:33

von Scribus
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Hallo Wallenstein,

erster Eindruck: Konzentriertes Lesen erforderlich, welches dann unweigerlich zum Kopfkino führt, das einen - am Ende des Textes angekommen - erkennen lässt, dass die Geschichte den Leser so fesselt, dass man sie zu einer technischen Beurteilung mindestens ein zweites Mal lesen muss.
Das habe ich allerdings nicht gemacht. Stattdessen habe ich darüber nachgedacht, welche mannigfaltigen Möglichkeiten solch ein Stoff bietet. Da liegt viel Arbeit vor Dir, die sich aber sicherlich lohnt. Also weiter so.
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wallenstein
Eselsohr
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Alter: 61
Beiträge: 331
Wohnort: Duisburg


W
Beitrag23.03.2010 11:53

von wallenstein
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Hallo ihr zwei,

besten Dank fürs Lesen und Für-Gut-Befinden Smile
Nein, eine Fortsetzung ist nicht geplant, das war eher eine Fingerübung, mehr nicht.

Herzliche Grüße,
von Elke aka Johann Wol wallenstein
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*Gast*
Klammeraffe
*


Beiträge: 504
Wohnort: Rheinland-Pfalz


*
Beitrag24.03.2010 16:23

von *Gast*
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Hallo Frau von ...,  Wink

schön abstrus, auch wenn die Cyberwelt mir etwas fremd ist. Warum muss Goethe eigentlich den Punk ignorieren? Ist das unter der Würde vom Geheimrat?
Ich hoff mal, dass es außer den Umkleidepausen noch so etwas wie ein richtiges Leben gibt.

Feines Gedankenspiel auf jeden Fall und sehr schön geschrieben.

Lieben Gruß
Sabine
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Vivaria
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
V


Beiträge: 29
Wohnort: Heidenau, Sachsen


V
Beitrag25.03.2010 12:54

von Vivaria
Antworten mit Zitat

Wenn das bloß eine Fingerübung war, dann kann ich nur sagen: Hut ab. Echt (tragi-)komisch, aber auch tiefsinnig, was dabei herausgekommen ist.

Ich verirre mich selbst ab und zu auch in die Cyberwelt (allerdings nicht zu Second Life sondern in das eine oder andere MMORPG). Deshalb fühlte ich mich in der von dir skizzierten Netto-Welt sofort heimisch. Das "Kopfkino", wie ihr hier so schön schreibt, funktionierte perfekt.
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wallenstein
Eselsohr
W

Alter: 61
Beiträge: 331
Wohnort: Duisburg


W
Beitrag26.03.2010 10:21

von wallenstein
pdf-Datei Antworten mit Zitat

ja, danke, Sabine  und Vivaria, fürs Lesen.

Es war in der Tat eine Fingerübung (was sollte man mit so einem Text auch groß anfangen?), und zwar leite ich eine kleine aber feine Schreibschule, in der als Übungsaufgabe vor zwei Wochen gestellt war, Sturm und Drang und die Romantiker mit der "Heutzeit" zu verbinden. Was liegt also näher, als Goethe in die Jetztzeit zu teleportieren?

Second Life ist mir fremd, ich bin dafür zu dusselig (zu alt?), aber ich bin immer neugierig auf die Typologie der Charaktere, besonders dem Verhalten, das diese "Egos" in virtuellen Räumen an den Tag legen. Im Prinzip kann doch jeder Hans Wurst, wenn ich einmal so böse ausformuliere, sich zu Höherem berufen fühlen und aufschwingen. Aber verrät er sich nicht auch immer wieder an seiner Sprache?

Bevor ich ins Philosophieren komme, muss ich husch husch, zurück in mein eigen Schreibkörbchen Wink

Herzliche Grüße und einen schönen Tag,
wünscht wallenstein
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