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Rosanna Richter und Henker
Alter: 30 Beiträge: 1055
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21.04.2011 22:09 Der Bonbondom (erster Teil) von Rosanna
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Der Bonbondom 1
Der staubige Mantel schleifte nicht über den Boden, sondern endete knapp zwei Handbreit unterhalb seines Knies. Warum sie in Handbreiten statt Zentimetern dachte, wusste sie wohl selbst nicht genau. Vielleicht, weil sie fühlen wollte, ob seine Beine wirklich so schmal waren, wie sie unter den abgetragenen Hosen aussahen.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und wandte sich von dem angelehnten Zugfenster ab, hinter dem sie saß. Das Buch lag auf ihrem aufgeklappten Schoß, ja wirklich, ein Dutzend mal ein dutzend unberührter weißer Seiten zwischen einem Paar bäuerlich gespreizter Schenkel. Von oben tropfte Bratenfett auf den Einband. Dort schwamm es wie ein triefendes Auge in einem Meer aus Sonnenuntergang.
Das Mädchen richtete seinen Blick auf die eigenen Hände. „Du wirst kitschig. Lass sie sein.“ Am rechten Mittelfinger, direkt unterhalb des abgekauten Nagels, hing ein Stück Haut. Es riss ihn mit den Zähnen ab, hastig, verstohlen, mit linkischer Handbewegung. Blut tropfte auf die Sitzbank. „Scheiße.“ Schnell setzte es sein spöttisch – genervtes Gesicht auf, damit jeder, der schaute, es für ganz normal hielt.
Es wusste, dass einige schauten.
Das Mädchen leckte seinen Finger sauber. Nun schien der Staubmantel besonders zu starren. „Ich weiß, wie das aussieht.“, dachte es mit immer noch spöttischer Miene. Und: „Wenn jetzt Nacht wäre und niemand sonst da und ich käme zu dir“ – andererseits wäre wohl er es, der sich nähern müsste. Es würde aufsehen, vielleicht von einem Buch, und erschrocken fragen… aber auch das passte nicht recht. Das Einzig Sichere war, dass er es an der Wand des Wartesaals nehmen würde Und es würde kalt sein, mit gekeuchten Atemwolken um sie beide. Ansonsten Stille, abgesehen von ein paar Güterzügen und ihrem metallischen Rattern. Mit dem Geruch von Schmierfett und billigem Rasierwasser. Ob er überhaupt etwas anhatte unter dem Umhang? Gab es eigentlich Strapsen, die wie Männerhosen aussahen?
Der Gedanke brachte das Mädchen zum Kichern. Ringsherum wich man befremdet einen Schritt zurück. Es schien nicht normal, dass eine Person, alleine, lachte, grundlos. Das Mädchen hätte sie am Liebsten alle zu Tode gestarrt, aber es hatte Angst vor dem, was in den Blicken lauerte.
Plötzlich erschien das alles so müde, so unendlich grau und verlassen, hüllenartig schwach und zerfallen, dass es sich zwischen all die Schatten hinlegen und schlafen wollte. Auf dem einen Sitz zusammengedrängt, den Rücken zur Glaswand, die Beine zur Brust gezogen, sich selbst umarmend. „Schlafen, bitte schlafen.“ Schwere Ruhe.
Der alte Mann auf dem Sitz daneben glotzte eindringlich. „Du hast mich doch überhaupt nicht hören können, du alter Sack.“, zischte es in einem Anfall von Bosheit, dachte „Ohne Hörgerät geht bei euch doch nichts, und dann hockt ihr da, ihr spinnerten Weisen, und habt ein Kind im Ohr.“ Dachte es und sagte und bereute es im gleichen Moment, als der Alte freundlich fragte: „Wie bitte?“. Das Mädchen fragte nach der Uhrzeit und lehnte sich erneut auf seinem Sitz zurück. „Du kannst nicht richtig gemein sein,“, dachte es, „auch wenn sie alle das Gegenteil behaupten. Es tut dir schnell doch leid. Und dann tust du die dümmsten Sachen, um dich wieder gut zu tun.“ Das war doch alles Unsinn.
Das letzte Mal, als es „gemein“ gewesen war, hatte es seine Mutter eine Hure genannt. Einfach so, weil es wusste, dass unvorbereitetes am meisten schmerzte. Es hatte sie mit weichen Augen angesehen und gelächelt und als sie zurückgelächelt hatte… Das Mädchen schauerte. Es hatte auch damals gezittert, als es den Blick gesehen hatte, der auf seine Worte folgte. Der ihm zu sagen schien, du bist wie ich. Du bist nicht alt, aber du wirst es sein. Du wirst lieben, und du wirst es verlernen. Du wirst ein Kind bekommen und es wird lernen, dich zu hassen. Und dann wirst du sterben. So wie ich.
Das Mädchen hatte ihrem Vater Geld aus der Tasche stehlen und es der Mutter ins prall gefüllte Portemonnaie stecken müssen, damit es sich besser fühlte. Es hatte zu Hause aus und zu ihrer Mutter ziehen müssen und sie geküsst jeden Tag, drei Monate lang, bis dann der Vater fast an seiner Einsamkeit erstickte und sie zurückging und die Mutter wieder eine Hure nannte (nur jetzt nicht mehr, wenn sie es hören konnte).
Das Mädchen wünschte sich ein Buch, um ihr Gesicht dahinter zu verstecken, das der Frau hinter dem spiegelnden Zugfenster, das ihrer Mutter, beide tanzten vor ihr auf dem im Schatten liegenden Bahnsteig. Die Sonne schien auf das Zugdach und rieselte einen halben Meter vor ihm auf den Asphalt. Eigentlich war ihm kalt, aber bewegen war ausgeschlossen. Die Schockstarre aufzugeben, wo doch noch immer Leute hinsahen, wie Aasgeier gierig mit dem Kopf ruckten und dann den Schnabel aufrissen und halbleise Worte murmelten und zwischendurch immer wieder die Augen nach ihr verdrehten. Das Mädchen wünschte, es könnte jeden von ihnen töten, ganz ohne das Starren, einfach so, mit Händen, Messern, Gewehren, egal. Denn jeder Blick, der dem Mädchen begegnete, schien ihm das Gleiche zu sagen. Die Verkrüppelten oder Debilen, die es anlachten, lachten es mit ihren Augen aus. „Ich bin dumm, so dumm, ich bin widerlich, aber du, hinter den sieben Bergen, mit dem Zwergenherzen, bist noch tausendmal hässlicher als ich.“ Sicher dachten die, die das mit ihren Blicken sangen, dass sie vollkommen normal wären. Das Mädchen dachte dasselbe von sich. Manchmal. Wenn ihm nicht die Hässlichen einfielen, die stinkenden, lallenden, in der Straßenbahn torkelnden Gestalten. Die alten, zerfurchten Gesichter. Gedunsene Zungen. Knotige Glieder. Es gab zu viele Alte in dieser Stadt, zu viele Alte und Säufer, manchmal waren sie beides. Sie machten ihm Angst, so große Angst, dass es hätte schreien können, als ihm der Greis neben ihr eine Hand voll Bonbons unter die Nase schob. Das Mädchen starrte auf den Sonnenfleck vor ihm. „Nein danke“, sagte es mit fester Stimme.
Die Hand vor ihm schüttelte sich. Sie war so nah, dass das Mädchen den Dreck unter den Nägeln erkennen konnte, der bläulich schimmerte wie die dicken Adern, die sich wie Flüsse durch die wachsbleiche Haut zogen. Die Haare auf den Fingern quollen dort wie schaurige Wasserpflanzen.
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lady-in-black Bitte nicht füttern
Beiträge: 1474 Wohnort: Killer Förde
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22.04.2011 09:44
von lady-in-black
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Moin Inko/a,
Zitat: | Es gab zu viele Alte in dieser Stadt, zu viele Alte und Säufer, manchmal waren sie beides. Sie machten ihm Angst, so große Angst, dass es hätte schreien können, als ihm der Greis neben ihr eine Hand voll Bonbons unter die Nase schob. Das Mädchen starrte auf den Sonnenfleck vor ihm. „Nein danke“, sagte es mit fester Stimme. |
Es gibt da das Forenmitglied lady-in-black und die nervt es etwas, dass du ständig "es", "sie", "ihr", "ihm" usw. verwendest, damit seine Konzentration beim Lesen störst. Du tust ihm, äh ... ich meine ihr, also der LiB, keinen Gefallen damit.
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Rosanna Richter und Henker
Alter: 30 Beiträge: 1055
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22.04.2011 10:49
von Rosanna
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Oh Gott. Stöhn.
Kann das mal jemand in die Werkstatt verschieben?
Ich kann nicht fassen, dass ich das tatsächlich hochgeladen habe...
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Maria Evolutionsbremse
Alter: 52 Beiträge: 6000
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22.04.2011 10:55
von Maria
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bittesehr
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Rosanna Richter und Henker
Alter: 30 Beiträge: 1055
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22.04.2011 11:02
von Rosanna
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dankeschön
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