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Die Leichen im Keller


 
 
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yoghurt
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Beiträge: 11



Beitrag20.01.2010 22:47
Die Leichen im Keller
von yoghurt
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

/ Ein älterer Text, den ich schon oft überarbeitet habe, mich aber immer noch beschäftigt. Weiss nicht genau warum. /



In einer einzigen Sekunde nur schoss das Universum in sich zusammen und jagte auf einen einzigen Punkt zu, durchzog mit kreischenden, schwingenden Kanten meinen Körper, endlos laut, um danach wieder zu seiner normalen Form zurück zu explodieren. Ich liess die Nackenwirbel knacken, eine ganz allgemeine Antwort auf alles Mühsame und Unangenehme, und blickte auf die Schere, die mit lautem Toben zu Boden gefallen war, und sich nun scheinheilig auf dem Boden räkelte. Ich hasse laute Geräusche. In einer merkwürdigen Verrenkung, und eigentlich nur zu faul um aufzustehen, reckte ich mich lange und umständlich Richtung Schere, um sie dann mit den Fingerspitzen so lange anzustubbsen, bis ich sie ergreifen konnte. Sie lachte schadenfroh, als ich sie so silberblau in meiner Hand wog, stolz darüber, dass sie mich dazu zwingen konnte, mich zu ihr zu bücken. Ich tat dasselbe, was ich immer tue, wenn jemand denkt mich in seiner Hand zu wissen: ich warf sie zurück auf den Boden.

Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, und zerriss ihn so lange, bis sich die nun schon beinahe, oder zumindest in meinen Augen, mikroskopisch kleine Stücke sich nicht weiter trennen liessen und mir nur noch von der einen Hand in die andere rutschten. Ich öffnete das Fenster und streute den Brief ins Universum zurück, wo er hergekommen war, wo er hingehörte, flieg weg, dacht ich, und markier dir irgend ein anderes Gebiet. Zumindest hätte ich mir gewünscht, dass ich wütend gewesen wäre.

Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, und legte ihn zurück in die Schachtel, die sich normalerweise gut versteckt unter meinem Bett genau unterhalb meines Kopfkissens befand. Ich stich wehmütig über die Schachtel, und stellte sie unter mein Bett zurück. Dann packte ich mein Schwimmzeug, und machte mich auf den Weg. Das Wasser war wie alles um diese Jahreszeit kalt und nein, grau war es nicht, es war blau und freundlich hell, ich durchzog es gerne mit meinen Armen, mich auf meine Nackenhaltung konzentrierend, der mir immer noch gerne wegrutschte, wenn ich nicht die kleinen, frech tanzenden Plättchen des Grundes, die auf der Wasserfläche hüpfen, anstarrte. Ich wusste genau du würdest hier sein, ich wusste du würdest nicht mit mir reden wollen, und ich meinerseits würde nicht einen Zentimeter auf dich zu schwimmen, wir würden uns dulden, das Wasser teilen, welches so freudig gestimmt und chlorgeladen war, dass es uns beide dulden würde. Wenn ich zwischen zwei Bahnen kurz Pause machte, beobachtete ich dich heimlich, möglichst uninteressiert, sah, wie du die Wogen kräuseln liessest, wie deine Arme unzerbrechlich glänzten, und diese grauenhafte Schwimmbrille. Ich wünschte, das wärst du gewesen.

Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, und griff ins Leere. Ich blickte auf die Schere und den Brief, die nun gemeinsame Sache zu machen schienen, zuckte so achtlos wie möglich mit den Schultern, und verliess das Zimmer. Der Fernseher lief vereinsamt und leise im Wohnzimmer. Ich setzte mich zu ihm, streichelte mitfühlend über sein schwarzes, obwohl gerade gestern abgestaubt schon wieder mit grauem Dunst überzogenes Gehäuse. Er flimmerte zur Antwort. Ich suchte die Fernbedienung, konnte sie nicht finden. Irgend jemand musste sie ihm weggenommen haben. Die Katze strich mir um die Beine, doch sie konnte es kaum gewesen sein. Ich hob sie auf meine Beine, fragte sie sicherheitshalber, ob sie diesen grauen Kasten vielleicht aufgegessen hätte. Versehentlich. Sie schnurrte und räkelte sich ahnungslos. Mit den kleinen, doofen Knöpfen, die jeweils unten am Fernseherrand angebracht sind, zappte ich mich durchs Programm. Ich erwischte deine Lieblingssendung. Ich zappte weiter. Zumindest hätte ich es versucht.

Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, drehte ihn um, und malte dein Gesicht. An die Nasen kann ich mich immer am Schlechtesten erinnern, aber bei deiner wäre es kein Problem gewesen. Ich hatte dein Gesicht schon so oft in Gedanken gemalt, wie ich es mit allem mache, dass ich nicht vergessen will. Der Bleistift kannte seinen Weg und ging ihn behende. Irgendwo zwischen Augenbraue und deinem rechten Auge verlor ich das Gefühl für Zeit. Die Schraffuren waren nicht zu aufdringlich, und auch nicht zu schüchtern. Was du mit deinem Herzen malst, gelingt dir immer am Besten. Doch nun starrtest du mich so sehr an, von diesem Blatt, dass du noch vor wenigen Tagen wohl von einer Seite auf die andere gedreht hattest, starrtest mich an, verständnislos, ungläubig, durchbohrtest mich mit deinem Blick, stachest mir mit ihm meine Augen aus, es wurde mir zuviel und ich faltete dich von mir weg. Ich zog einen neuen Briefumschlag aus meinem Schreibtisch, schob das gefaltete Papier mit leicht stockendem Atem in sein neues Zuhause, schrieb mit vorsichtigen, und plötzlich so kindlichen Buchstaben deinen Namen und deine Adresse auf den Umschlag. Den Absender liess ich weg. Du hättest bescheid gewusst. Wäre ich so mutig gewesen?

Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, und hielt ihn. Ich hielt ihn, und hatte Angst ihn zu zerknittern. Ich hielt ihn, und hatte Angst ihn fallen zu lassen. Ich hielt ihn, mit geschlossenen Augen, jede Zeile aufsagend, hielt ihn, um nicht hin zu fallen, hielt ihn, und wusste nicht wohin damit. Ich wog ihn, mit der einen Hand, und dann mit der anderen, seine Echtheit prüfend, hielt ihn schräg ins Licht, um die Drucktechnik auszumachen. Und es war seltsames Papier, graugrün, klang seltsam, wenn man mit den Fingerkuppen darüberstreifte. Es hatte schon ein Eselsohr. Ich legte ihn zurück in die Schachtel, die sich normalerweise gut versteckt unter meinem Bett genau unterhalb meines Kopfkissens befand. Was für ein Abgang. Aber ich war nicht stolz auf dich. Ich setzte mich neben die Schachtel, konnte den Brief durch ihren Deckel hindurch glühen sehen. Ich schob die Schachtel unter mein Bett. Wie man das halt so macht, mit den Leichen im Keller.

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Dunkelblaue Kunst
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 40
Beiträge: 46



Beitrag21.01.2010 00:47

von Dunkelblaue Kunst
Antworten mit Zitat

Hallo,

Ein cooler Text. Mir hat er gefallen. Besonders der Idee, ein und dieselbe Situation immer wieder als neuen Startpunkt zu nehmen und es in teilweise gänzlich unterschiedliche Richtungen zu bringen ist sehr einfallsreich. Ich kam mir vor, als wenn der Erzähler ständig mit den Gedanken abschweift, und plötzlich wieder in der selben Situation aufwacht.  Daumen hoch

Was mir nicht ganz so zusagt, ist der Bandwurm-Satzbau. Es hat wohl den Sinn, die einfach aufeinanderfolgenden Gedanken des Erzählers darzustellen. Es liest sich aber zum Teil echt anstrengend.
Beispiel:

Zitat:
Das Wasser war wie alles um diese Jahreszeit kalt und nein, grau war es nicht, es war blau und freundlich hell, ich durchzog es gerne mit meinen Armen, mich auf meine Nackenhaltung konzentrierend, der mir immer noch gerne wegrutschte, wenn ich nicht die kleinen, frech tanzenden Plättchen des Grundes, die auf der Wasserfläche hüpfen, anstarrte.


Man weiß am Ende fast gar nicht mehr welches Subjekt zu welchem Verb gehört. Mein Rat: Sätze aufteilen und in mehrere kurze Stücke zerlegen.

Auf bald.


_________________
Was soll all dies?
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag21.01.2010 15:17

von Alogius
Antworten mit Zitat

Hi,

die Idee, eine bestimmte Gegenständlichkeit (beginnend mit der personifizierten Schere, der Brief folgt) mit Sachverhalten zu verbinden und einen kosmischen Zusammenhang in Form einer endlos scheinenden Wiederholung von Möglichkeiten entstehen zu lassen, ist tatsächlich sehr gut. Sie ist genau betrachtet nicht neu, doch unabhängig davon gelingt es dem Text (das "Stattdessen" ist sehr gut gesetzt!), seine Intention zu formulieren. Grandiose Idee, die solide umgesetzt ist, da mir doch ein paar Kleinigkeiten aufgefallen sind:

Zitat:
u seiner normalen Form zurück zu explodieren

Das gefällt mir weniger:
Was ist die "normale Form" in einem Universum steten Wandels?
"Zurück explodieren" liest sich etwas holprig.

Zitat:
so lange anzustubbsen

"anzustoßen" gefiele mir, subjektiv, besser. Das Stubsen hat etwas Niedliches...

Zitat:
mich zu ihr zu bücken

Hier mag das zweimalige "zu" nicht so passen. Dadurch wirkt auch dieser Teilsatz etwas plump.

Zitat:
bis sich die nun schon beinahe, oder zumindest in meinen Augen, mikroskopisch kleine Stücke sich nicht weiter trennen liessen

Sehr umständlich. Hier würde ich etwas entschlacken und zB den Einschub "oder zumindest...." streichen. Vorschlag!

Ein weiteres Beispiel für unnötige Verkomplizierung:
Zitat:
Stattdessen griff ich mit beiden Händen nach deinem Brief, und legte ihn zurück in die Schachtel, die sich normalerweise gut versteckt unter meinem Bett genau unterhalb meines Kopfkissens befand.

Davon findet man einige, die ich aber nicht alle auflisten werde. Generell solltest Du diese teils unnötigen Verschachtelungen etwas entwirren und mehrere Sätze daraus machen.

Zitat:
Mit den kleinen, doofen Knöpfen, die jeweils unten am Fernseherrand angebracht sind, zappte ich mich durchs Programm. Ich erwischte deine Lieblingssendung. Ich zappte weiter.

"Zapping" mag ein neudeutsches Wort sein, doch es zu lesen... Nun, ich würde es ersetzen. Liest sich zu simpel und billig, angesichts eines Textes, der doch insgesamt anspruchsvoller ist. wink

Zitat:
An die Nasen kann ich mich immer am Schlechtesten erinnern, aber bei deiner wäre es kein Problem gewesen

Auch etwas holprig.
Wie wäre: "An die Nasen kann ich mich immer schlecht erinnern, ..." ?

Das waren nun ein paar Beispiele bzw. Vorschläge.

Fazit:
Etwas an der Rechtschreibung feilen, einige Längen durch Aufteilung entfernen, dann sieht der Text besser aus. Die Grundidee ist solide ausgeführt, doch ich bin mir sicher, dass Du das verfeinern kannst. smile
Wie immer nur "meine" Ideen und Vorschläge!

Gruß

Tom


_________________
Aus einem Traum:
Entsetzter Gartenzwerg: Es gibt immer noch ein nullteres Fußballfeld. Wir werden viele Evolutionen verpassen.
Busfahrer: Tröste dich. Mit etwas Glück sehen wir den Tentakel des Yankeespielers, wie er den Ereignishorizont des Schwarzen Loches verlässt.
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yoghurt
Geschlecht:weiblichSchneckenpost


Beiträge: 11



Beitrag29.01.2010 19:45

von yoghurt
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hey ihr zwei!
Vielen Dank für eure Tipps. Ich find sie wirklich sehr gut. Es ist wirklich erfrischend mal ein paar andere Augenpaare zur Verfügung zu haben als immer nur die eigenen. Jetzt habe ich auch ein paar gute Anhaltspunkte um ihn zu überarbeiten! ...muss ich nur noch die zeit dafür finden..

Ich danke euch!
Lg
yo
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Herbert Blaser
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 58
Beiträge: 313
Wohnort: Basel


Beitrag19.02.2010 15:41

von Herbert Blaser
Antworten mit Zitat

Gefällt mir ausserordentlich gut, dieses sich wiederholende "stattdessen" und damit das Wiederholen einer immer neuen Möglichkeit des gleichen Sachverhalts.

_________________
Wie haben wir den Mut in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert wird, die aus dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden von denen mildern zu lassen, die uns zum Leiden brachten?

Marcel Proust
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weinrot
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen


Beiträge: 36
Wohnort: Berlin


Beitrag20.02.2010 18:56

von weinrot
Antworten mit Zitat

Mir hat der Text wirklich gut gefallen. Abgesehen vom Anfang und vom Schluss.

Die Sache mit dem zusammen schießenden und wieder zurück explodierenden Universum wirkt auf mich wie ein Fremdkörper im Text. Ich hab auch eine Weile gebraucht, um zu kapieren, warum sich das Universum an dieser Stelle überhaupt so dramatisch gebärdet.

Den Schluss fand ich dann ein bisschen unbefriedigend. Irgendwie hatte ich mir mehr erwartet. Einen größeren Knalleffekt oder so. Aber das ist natürlich Geschmacksache. wink

Ansonsten finde ich die Variationen zum Brief-Thema toll. Super Idee, gut umgesetzt. smile
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