Offline

[denLars]

Wenn man erst einmal realisiert, dass man sein ganzes Leben nur noch am Computer verbringt, ist das schon ziemlich beschissen. Wenn man dann auch noch feststellt, dass man "realisieren" eigentlich gar nicht schreiben sollte, da es nur ein kläglicher Abklatsch des englischen Wortes "to realize" ist, hat man ein verdammt großes Problem. Ich stelle also fest: Ich habe ein verdammt großes Problem.
Aber was soll man machen. Eine Fernbeziehung mit einer Österreicherin, die Programmierung eines RPG-Games, Schule, MSN, ICQ, Facebook. Youtube, die ganzen Blogs, die ich abonniert habe. Dann merkt man sich, dass man in der Schule mal die Facebook-Gruppe "Wenn du mal deprimiert bist, denk dran: Du warst das schnellste Spermata!" erwähnen muss und dass eben "realisieren" von "to realize" kommt. Dafür vergisst man andere Dinge. Als mein Vater mich letztens in den Wald geschleppt hatte, fragte ich ihn, was denn hier so stinke. Moos, entgegnete er und ich erinnerte mich an den Geruch von Moos. Das ist schon krass, aber so ist es wohl. Meine Generation, ab 1985, besteht aus digital natives, wir sind mit dem Internet aufgewachsen, in der Pubertät hat es uns Pornos, SchülerVZ und Youtube-Funvideos gegeben, jetzt gibt es uns Wikipedia, Facebook und Foren zur Berufswahl. Deepthroat, Buschfunk und das Video vom Unreal-Boy, das waren unsere Wegbegleiter. Und verdammt, warum nicht, besser als Nazi-Propaganda, DDR oder 50er-Jahre-Prüderie, ist ja nicht so, als wäre das Net nur beschissen. Gibt ja auch totale Demokratie, weltweiten Austausch, das ganze Zeug. Doch ich habe es satt. Ich kann nicht mehr. Ich schlafe unruhiger jede Nacht – klingt unbedeutend, I know. Trotzdem, in diesen wenigen Stunden ohne Net, ohne totale Verknüpfung, bin ich tot. In mir ist Leere, ein All von vollkommenem Vakuum. Die Sterne sind in Supernovas vergangen, die Planeten ineinander gestürzt und zu Kleinstaub zersplittert. Meine Seele, sie ist ausgezogen, sie hat sich aufgeteilt. Sie ist mein Facebook-Account, mein MSN, sie tanzt auf meinen Statuslines, in meinen Persönlichkeitsangaben und singt Arien auf meinen Profilbildern. Ich selbst bin nur noch eine Schnittstelle, erst mit dem PC verbunden werde ich wieder eins mit ihr, eine LAN-Verbindung, nichts mehr, zwischen mir und meiner selbst. Ich begegne meiner Selbst nur noch im Internet, grüße freundlich und verabschiede mich wieder, um in mein Dasein zurückzukehren, in dem ich das Abziehbild einer Schablone bin, die ich im Net gezeichnet habe. Verdammte Scheiße! Ich will nicht mehr lesen, dass Jan "einen Tall und einen Grande" lang bei Starbucks war, ich will nicht mehr lesen, dass Marie bei FarmVille eine einsame Ente gefunden hat. Jan halte ich für einen Arsch – keine Ahnung, warum ich seine Freundschaftsanfrage angenommen habe – und Marie habe ich seit 'nem Jahr nicht mehr gesehen. Nein, ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Leben, was ist noch Leben? Offline oder online? Digital oder analog? Ich hab mal geträumt, ich wäre eine Libelle, die über sonnenglitzernde Seen hinwegfliegt, auf dem Wasser sitzt, fliegt, fliegt, fliegt. Als ich aufwachte und realisierte (aaaah!), dass ich doch nur ein Mensch bin, war ich enttäuscht. Aber ich bin davon überzeugt, in Wirklichkeit bin ich eine Libelle, die nur träumt, ein Mensch zu sein.
Jetzt wird es aber Zeit.
Ich muss offline.

Facebook-Nachricht über I-Phone #1: "Habe den Vorschlag-Hammer genommen und meinen PC zertrümmert. Das Gehäuse ging leicht kaputt – die Grafikkarte hat lang durchgehalten :/)

Facebook-Nachricht über I-Phone #2: "Auf dem Weg nach draußen kam mir meine Schwester entgegen. Habe ihr auch eins mit dem Hammer verpasst. Hatte mich wegen dem PC angeschrien. Liegt jetzt rum und rührt sich nicht mehr ."

Facebook-Nachricht über I-Phone #3: "Bin in die Stadt gelaufen. Würd gern ein Video auf Youtube einstellen, wie die Leute geschaut haben, als sie mich so mit meinem Hammer sahen. Wird aber leider nichts. Trotzdem: Made my day!"

Facebook-Nachricht über I-Phone #4: "Habe mit dem Vorschlaghammer die Scheiben von Starbucks eingehauen. Einige Tische verwüstet. Da haben einige EDVler glatt ihren Caramel Macchiatto mit Sojamilch und extra Espresso ausgespuckt. In der Ferne Polizeisirenen. Muss weg hier."

Facebook-Nachricht über I-Phone #5: "Jetzt gehe ich in die Wälder. Um zu frieren. Weiß gar nicht mehr, wie das so ist. Ich habe Schlaftabletten dabei, viele Schlaftabletten. Macht's gut – ich bin off."

[Matt Gambler]

Cool.  

[denLars]

Danke.  

[Maria]

mehr als das. 'cool' mein ich. Zerpflück das Thema auch gerade, das wird nicht so ... cool. Schnell, schnoddrig, alles passt. Nur - musste er unbedingt seine Schwester erschlagen? Obwohl ...

[Dunkelblaue Kunst]

Hallo,

Ein sehr treffender Text. Einige Dinge schön beschrieben, und das in einem ansprechenden Schreibstil. War sehr humoristisch. Ich habe ihn sehr gerne gelesen.

Der "Anhang" mit den Nachrichten hat mich dagegen irgendwie schockiert. Nicht nur stilistisch ein Bruch. Auch das Thema kippt auf einmal, wird alamierend ernst, trotz des sarkastischen Tonfalls. Da lief es mir ehrlich gesagt kalt den Rücken hinunter.

Ich weiß, ehrlich gesagt nicht, wie ich das jetzt beurteilen soll. Ziemlich harter Stoff. Ich hoffe, dass es deine Intention war.

Auf bald.

[denLars]

Hallo Dunkelblaue Kunst und formvollendete Grüße auch an Maria!

Schnell und schnoddrig, das trifft es sehr gut und war auch meine Intention. Es war einfach ein schnell geschriebener Text, der meine angestaute Wut in sich aufgenommen hat. Der Bruch am Ende mit den IPhone-Nachrichten ist mir schon länger in meinen Gehirnwindungen herumgesprungen und ich fand ihn einfach sehr schwarzhumorig, deshalb habe ich ihn mit an Bord genommen. Du hast schon recht, Dunkelblaue Kunst, meine Intention war es, harten Stoff zu schreiben. Ich wollte im Text nicht nur verbal, sondern auch "aktiv" gegen die Popkultur vorgehen und habe ihn einen Starbucks-Laden zertrümmern lassen. Sollte ein kleiner Amoklauf sein, sowas wie "Ein Mann sieht rot."

Vielen Dank fürs Lesen. Und da er jetzt schon so oft bemüht wurde, wieder der obligatorische Sonnenbrillen-Smiley:  

[Zitkalasa]

[Enfant Terrible]

Der Text ist wirklich nicht schlecht geschrieben, wenn für meinen Geschmack auch manchmal zu theatralisch. Inhaltlich passt er gerade wie die Faust aufs Auge, heute früh habe ich selbst in einem Anfall von Selbstekel über Sinn und Unsinn von Twitter sinniert.
Ich finde auch die Absicht löblich, über die Leiden und die Isolation eines digital natives zu schreiben, aber aus diesem Text kaufe ich die Emotionen nicht ganz ab; ich habe ein ähnliches Problem wie die Füchsin: Der Text, der Monolog des Erzählers wirkt zu sehr um sich selbst kreisend, zu oberflächlich-lamentierend, um wirklich zu berühren und aufzurütteln.
Wolltest du eben diese infantile Haltung karikieren, ist das nicht ganz gelungen, weil der Text eben doch recht ernst wirkt. Den "Amoklauf" mit dem Hammer am Schluss kaufe ich dem Jungen gar nicht mehr ab. Es soll grotesk wirken, aber es wirkt eben nicht, weil im Text nicht hinreichend darauf "hingearbeitet" wurde.

[Matt Gambler]

Ihr seid also der Meinung der hat sich echt umgebracht?

Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen...  

[Zitkalasa]

Hm. Gute Frage, aber warum sollte sonst jemand mit vielen Schlaftabletten in den Wald gehen?

Alles unter der Annahme, dass es wahr ist ...

Möglich wäre auch, dass der Erzähler es einfach nur schreibt, die restliche Welt veralbert und sich dann ins Fäustchen lacht. Aber das wird aus dem Text nicht klar. In meinen Augen wird eher drauf hingearbeitet, dass der Erzähler stirbt, nicht, dass er albert. Dazu kommt der Humor bis dahin zu schwach vor.

[aschengeist]

Kannte ich noch gar nicht, der Text.
Gefällt mir, ist grad eben sowie es sein sollte.
Ehrlich.
Was will man mehr? Ich brauch keinen längeren Diskurs ach wieso und wie stoppen, ne ist so und es wird sich nicht ändern, ehrlich. Wir sind alle Junkies und ja die letzten Unberühten dürfen sich glücklich schätzen -
und an sozialen Isolation sterben.