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Andrea F. Leseratte
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Beiträge: 154 Wohnort: München
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A 06.01.2010 21:05 Mein peinliches Ich von Andrea F.
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Hier ein Text, zu dem ich gerne eure Meinung wissen möchte. Kritik erbeten!
Danke im Voraus.
Andrea
Oh, und ich hoffe natürlich, ihr seid alle gut ins neue Jahr gerutscht
Mein peinliches Ich
„Arschloch. Arschloch. Arschloch.“ Ich kann nichts dafür, dass ich dieses Wort mehrfach hintereinander ausstoße. Unbegründet. Ohne ersichtlichen Anlass. Natürlich wissen das die Fahrgäste der gut besetzten S-Bahn nicht. Woher sollten sie auch? Unverhohlenes Getuschel setzt ein. Ich kann einzelne Wortfetzen verstehen. „Frechheit ... hat wohl keine Erziehung genossen ... kein Anstand mehr bei den jungen Leuten ... vielleicht ein Schwachsinniger ... muss das sein?“
Ja, es muss sein. Mir wäre auch lieber, wenn nicht, aber ich kann nichts dagegen tun. Es hat auch nichts mit lascher Erziehung oder einem Mangel an Anstand zu tun. Und es liegt auch nicht daran, dass ich schwachsinnig bin. Im Gegenteil, ich gelte als sehr intelligent, auch wenn das die Wenigsten vermuten. Es liegt an meinem peinlichen Ich, das seit fünf Jahren die Kontrolle übernimmt, wann und wo es ihm gefällt. Natürlich meist in Situationen, wo es absolut unpassend ist. So wie neulich, als ich die beiden Polizisten gesehen habe. Ich weiß genau, die darf man nicht beleidigen. Doch sofort schoss mein linker Mittelfinger in die Höhe und das Wort „Scheißbulle“ war aus meinem Mund, ohne dass ich die Chance gehabt hätte, es zu verhindern. Zum Glück war mein Vater dabei und konnte die beiden Beamten überzeugen, dass es keine böse Absicht war.
Hier in der S-Bahn bin ich auf mich alleine gestellt. So ziemlich alle Blicke sind auf mich gerichtet. Da ist es nicht gerade förderlich, dass mein Kopf permanent zuckt und ich Belllaute ausstoße - zwei von zahllosen Tics, die ich derzeit habe. Ich spüre, wie die Leute um mich immer ärgerlicher werden. An der nächsten Haltestelle steige ich aus, da ich die angewiderten Blicke und das Getuschel nicht länger ertragen kann.
Dieses Ich ist peinlich. Dieses Ich, das sich mir einfach nicht unterwirft, das ich auf Dauer nicht unterdrücken kann. Nicht mit Medikamenten und nicht mit meinem Willen. Manchmal gelingt es mir für einen bestimmten Zeitraum, aber nur, um zu einem späteren Zeitpunkt noch machtvoller auszubrechen.
Ich habe keine Freunde, weil es niemand aushalten kann, mit mir zusammen zu sein oder etwas mit mir zu untenehmen. Allein ein harmloser Kinobesuch würde in einer Katastrophe enden. In der Schule werde ich gemobbt, weil keiner etwas mit einem Freak zu tun haben möchte. Mädchen machen einen großen Bogen um mich. Es gibt keine, die mit mir gehen würde.
Tourette macht einsam. So einsam, dass ich manchmal sterben möchte. Mir bleibt nur die Hoffnung, ich gehöre zu den Glücklichen, bei denen die Krankheit im Alter von ungefähr sechsundzwanzig Jahren einfach so wieder verschwindet.
Ich bete, dass ich die Kraft habe, mein peinliches Ich noch zehn Jahre zu ertragen. Dann gibt es mich hoffentlich frei und erlaubt mir, mein Leben als der zu leben, der ich eigentlich bin.
Weitere Werke von Andrea F.:
_________________ Lesen ist in einer immer schneller lebenden Welt die einzige Methode der Verlangsamung. |
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Hoody Exposéadler
Beiträge: 2273 Wohnort: Alpen
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07.01.2010 20:01
von Hoody
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Hallo Andrea.
Kritik habe ich keine. Vielleicht später. Aber jetzt bin ich bisschen nachdenklich. Die Geschichte bringt einen schon zum Grübeln. Sie hat was. Gegen Ende bekommt man dann Gänsehaut.
Der Stil ist flüssig. Keine Stolperer. Gefällt mir.
Anfangs dachte ich: Naja schön geschrieben, aber es berührt mich nicht. Aber der letzte Abschnitt dann, als man erfährt wie alt die Person ist und was sie genau hat... dann bekommt man auf einmal die Gänsehaut und empfindet was für den Prota. Der seichte Einstieg und das traurige/heftige Ende haben mir sehr gut gefallen. Schöner Spannungsbogen.
Andere wird es vielleicht stören das der Stil schlicht ist bzw nicht so ausgefallen, eher 0815. Aber mich hat es nicht gestört. Du kommst gleich auf dem Punkt und "verschönerst" es nicht mit unflüssigen Stilmitteln, die hier wirklich, finde ich, unbrauchbar wären bzw störend.
Der Teil des Satzes ist wirklich stark:
Zitat: | mein Leben als der zu leben, der ich eigentlich bin. |
Man könnte nur anmängeln das es anfangs etwas lasch ist. Das die Gefühle nicht an jeder Stelle richtig rüberkommen und das der Schreibstil "nichts besonderes" ist. Aber mich haben die erwähnten Punkte nicht gestört.
lg Hubi =)
_________________ Nennt mich einfach Hubi oder J-da oder Huvi : D
Ich bin wie eine Runde Tetris. Nichts will passen.
"Ein schlechter Schriftsteller wird manchmal ein guter Kritiker, genauso wie man aus einem schlechten Wein einen guten Essig machen kann."
Henry de Montherlant
"Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, so muss man erst richtig anfangen."
Konrad Adenauer |
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Elvis Brucelee Klammeraffe
E Alter: 53 Beiträge: 743
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E 07.01.2010 21:06
von Elvis Brucelee
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Eigentlich ein interessanter Beitrag zu Thema Tourette-Syndrom, allerdings muss ich Jarda recht geben: Irgendetwas fehlt, vielleicht mehr Leidenschaft, etwas, das den Leser bewegt, Mitleid in ihm aufkommen lässt. Das Tourette-Syndrom ist (mit all seinen Facetten) eine schlimme Angelegenheit für den Betroffenen und seine Angehörigen. Das kommt hier in deiner doch eher sachlichen Beschreibung nicht richtig zur Geltung.
Im Grunde lässt sich das aber mit ein oder zwei geschickt eingestreuten Passagen bewirken, so dass man den ansonsten recht flüssig zu lesenden Text nicht einmal antasten müsste.
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Andrea F. Leseratte
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Beiträge: 154 Wohnort: München
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Elvis Brucelee Klammeraffe
E Alter: 53 Beiträge: 743
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E 08.01.2010 13:28
von Elvis Brucelee
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Andrea F. hat Folgendes geschrieben: | Langweilig und fad sollte es aber deswegen natürlich nicht sein. |
Das ist zu krass ausgedrückt, es fehlt eben nur etwas. Irgendwie hast du bei mir nicht die richtigen Knöpfe gedrückt.
Kleiner Rat, bei solch einem kurzen Text würde ich bei einem einzigen Schauplatz bleiben, in diesem Fall eventuell in der U-Bahn, und die anderen Sachen als aufflackernde Erinnerungen einbauen. So hältst du den Leser auf einer konstanten Linie und erzeugst einen örtlichen Bezug, der als visueller Anker dient und auf den man beim Schreiben immer wieder zurückgreifen kann.
Mit Hilfe der U-Bahnfahrt lassen sich noch weitere Aspekte eines solchen Lebens einbauen.
Da Rückblenden immer etwas problematisch sind, würde ich diese Aspekte in die Gegenwart holen.
Ich spinne mal ungefragt was zusammen (ich hoffe, das ist okay).
Der attraktive Mensch, der in die Bahn steigt und einen anlächelt - Prota ruft Arschloch, Arschloch ... --> persönliches (außergerichtliches!) kennenlernen eher unwahrscheinlich. Werde ich jemals jemanden an meiner Seite haben? Wird mich jemals ein Mann / eine Frau (je nach Geschlecht) lieben können?
Oder/und ein Vorstellungsgespräch, das am Ende der Bahnfahrt ansteht, die Sorge: Wird mein Tick mich wieder in Schwierigkeiten bringen, wird der Personalchef Verständnis für meine Krankheit haben? Werde ich jemals einen Beruf ausüben, der mit gefällt?
Solche Dinge könnten den Leser näher an den Prota heranbringen.
Den Schluss würde ich noch ein wenig mehr auf den Umstand fokussieren, dass der Prota im Grunde sein Leben auf einer Hoffnung aufbaut, die seiner Gegenwart weit vorauseilt (was auch verständlich ist und auch funktionieren könnte, wenn die Realität nicht so einschneidend ausfiele). Nur würde ich versuchen es mit weniger Worten auf den Punkt zu bringen, prägnanter. Aber eine Idee habe ich gerade auch nicht.
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Andrea F. Leseratte
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Beiträge: 154 Wohnort: München
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Andrea F. Leseratte
A
Beiträge: 154 Wohnort: München
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A 11.01.2010 15:32
von Andrea F.
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Auf ein Neues
Mein peinliches Ich
„Arschloch. Arschloch. Arschloch.“ Ich kann nichts dafür, dass ich dieses Wort mehrfach hintereinander ausstoße. Unbegründet. Einfach so. Natürlich wissen das die Fahrgäste der gut besetzten S-Bahn nicht. Woher sollten sie auch? Und so dauert es keine zwei Minuten und ich stehe im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Mal wieder. Ich fühle mich wie eine Kuriosität auf einem billigen Jahrmarkt. Es dauert nicht lange und die Leute fangen an zu tuscheln, zeigen mit dem Finger auf mich. Wie ich das hasse! Ich kann einzelne Wortfetzen verstehen. „Frechheit ... hat wohl keine Erziehung genossen ... kein Anstand mehr bei den jungen Leuten ... vielleicht ein Schwachsinniger ... muss das sein?“
Ja, es muss sein. Auch wenn die Leute immer glauben, ich würde mir einen Spaß daraus machen und sie verarschen. Ganz sicher nicht. Als ob es mir Spaß machen würde, ständig lauthals irgendwelche Obszönitäten herauszuschreien, vor mich hinzubrummen oder mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.
Wie glücklich wäre ich, wenn ich völlig unbedarft in der S-Bahn oder sonst wo sitzen und einfach meinen Gedanken nachhängen könnte. Aber das kann ich nicht. Dabei hat es nichts mit lascher Erziehung oder einem Mangel an Anstand zu tun. Und es liegt auch nicht daran, dass ich schwachsinnig bin. Im Gegenteil, ich gelte als sehr intelligent, auch wenn das die Wenigsten vermuten. Es liegt an meinem peinlichen Ich, das seit fünf Jahren die Kontrolle übernimmt, wann und wo es ihm gefällt. Natürlich meist in Situationen, wo es absolut unpassend ist. Beispielsweise wenn ich einen Polizisten auf der Straße sehe, mein Mittelfinger automatisch in die Höhe schnellt und ich „Scheißbulle“ rufe, wohl wissend, dass man das nicht darf.
Mein Kopf zuckt unkontrolliert nach rechts, dazu stoße ich Belllaute aus. Die ungeteilte Aufmerksamkeit ist mir somit weiterhin sicher. Nur ein Mädchen in meinem Alter sieht angestrengt zum Fenster hinaus. Sie ist sehr hübsch mit ihren dunklen langen Haaren. So ein Mädchen hätte ich gern zur Freundin. Aber das ist ein unerfüllbarer Wunschtraum. Zumindest für die nächsten Jahre. Ich kann nur hoffen, dass ich zu den Glücklichen gehöre, die im Alter von ungefähr sechsundzwanzig Jahren wie durch Zauberhand von allen Peinlichkeiten wieder befreit werden. Und bis dahin gibt es mit Sicherheit kein Mädchen, egal ob hübsch oder nicht, das mit mir näher befreundet sein möchte. Wie auch? Sie müsste ja jede Minute, die sie mit mir zusammen ist, Angst haben, welcher meiner zahlreichen Tics plötzlich ausbricht. Ich habe auch keine anderen Freunde, weil es einfach niemand aushalten kann, mit mir zusammen zu sein oder etwas mit mir zu untenehmen. Allein ein harmloser Kinobesuch würde in einer Katastrophe enden. In der Schule werde ich gemobbt, sitze allein in der hintersten Ecke, weil keiner etwas mit einem Freak zu tun haben möchte.
Ich spüre, wie die Leute um mich immer ärgerlicher werden. An der nächsten Haltestelle steige ich aus, da ich die angewiderten Blicke und das Getuschel nicht länger ertragen kann.
Dieses Ich ist peinlich. Dieses Ich, das sich mir einfach nicht unterwirft, das ich auf Dauer nicht unterdrücken kann. Nicht mit Medikamenten und nicht mit meinem Willen. Manchmal gelingt es mir für einen bestimmten Zeitraum, aber nur, um zu einem späteren Zeitpunkt noch machtvoller auszubrechen.
Tourette macht einsam. So einsam, dass ich manchmal sterben möchte. Zehn Jahre noch - dann gibt es mich hoffentlich frei und erlaubt mir, mein Leben als der zu leben, der ich eigentlich bin.
_________________ Lesen ist in einer immer schneller lebenden Welt die einzige Methode der Verlangsamung. |
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JohannaSunshine Schneckenpost
J Alter: 30 Beiträge: 11 Wohnort: nahe Düsseldorf
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J 11.01.2010 18:52
von JohannaSunshine
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wow, diese Geschichte ist echt toll, wenn sie weitergehen würde, will ich sie auf jeden Fall lesen. Das Thema ergreift einen wirklich, noch besser jetzt, wo du es umgeschrieben hast.
Bin neugierig und interessiert, was der Erzähler noch erlebt (:
Liebe grüße
_________________ Was ist Liebe?
Ist sie da? Wenn nein, wie kann sie dann verschwinden? |
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Andrea F. Leseratte
A
Beiträge: 154 Wohnort: München
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JohannaSunshine Schneckenpost
J Alter: 30 Beiträge: 11 Wohnort: nahe Düsseldorf
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J 12.01.2010 23:29
von JohannaSunshine
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ach schade, aber andererseits auch gut. sonst verliert es vielleicht an wirkung...
_________________ Was ist Liebe?
Ist sie da? Wenn nein, wie kann sie dann verschwinden? |
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Andrea F. Leseratte
A
Beiträge: 154 Wohnort: München
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Ruthi Eselsohr
Alter: 36 Beiträge: 218
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14.01.2010 19:49
von Ruthi
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Hallo Andrea,
ehrlich gesagt fand ich die erste Version besser, sie klang irgendwie realistischer und weniger konstruiert. Natürlich liest man die zweite Version voreingenommen nach den Kommentaren, aber trotzdem hat mir die Umsetzung nicht so gut gefallen.
Ich finde, du verwendest im zweiten Text eine sachlichere, trockenere Sprache. Ich geb ein paar Beispiele, die für mich sehr gestelzt klangen:
Zitat: | Natürlich meist in Situationen, wo es absolut unpassend ist. Beispielsweise wenn ich einen Polizisten auf der Straße sehe, mein Mittelfinger automatisch in die Höhe schnellt und ich „Scheißbulle“ rufe, wohl wissend, dass man das nicht darf. Mein Kopf zuckt unkontrolliert nach rechts, dazu stoße ich Belllaute aus. Die ungeteilte Aufmerksamkeit ist mir somit weiterhin sicher. |
Für sich genommen ist an den Ausdrücken nichts auszusetzen, aber im Zusammenspiel klingt diese Textpassage für mich sehr nach Protokoll.
Insgesamt hab ich den Text gerne gelesen, du bringst das Thema Tourette interessant rüber, wenn du dich hier und da noch etwas weniger gehoben ausdrücken würdest, könnte ich als Leser noch besser den Bezug finden.
LG Ruthi
PS.: Der Begriff "Das peinliche Ich" ist meiner Meinung nach sehr passend und gut gewählt!
_________________ Mit deinem Denken erschaffst du deine Realität |
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Dienstwerk Reißwolf
Alter: 55 Beiträge: 1254 Wohnort: Gera/Markkleeberg
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15.01.2010 01:31
von Dienstwerk
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Zitat: | Der Begriff "Das peinliche Ich" ist meiner Meinung nach sehr passend und gut gewählt! |
Der Titel ist hervorragend!
Der Text an sich könnte noch mehr Biss vertragen, gerade bei diesem Thema. Du hast die Chance, mit Schimpfwörtern und verrückten Lauten um Dich zu werfen, also mach das - lass die Sau raus! Hier wären die Gegensätze und Gefühle noch interessanter darstellbar.
Die Erklärung mit den Polizisten wirkt mir zu konstruiert, zu einfach.
Ein zwei Beispiele verträgt der Text noch.
Der Schlusssatz gefällt mir gut.
LG, Ana
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Andrea F. Leseratte
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Beiträge: 154 Wohnort: München
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