Mittwochabendfantasie

[Jocelyn]

Er schälte sich sekundenschnell,
kein Laut drang durch die Luft,
Rieselregen war vor der Dämmerung gewesen,
keine Spuren mehr auf den Straßen,
die Menschen Schatten ohne Schirme
auf dem hastigen Heimweg.

Er löste sich aus dem finsteren Stamm,
eigentlich doch in Zeitlupe,
weil so unbemerkt von dem Rest der Welt,
inmitten der verendenden Blätter,
eine Krone voller schwarzer Mücken
im Vergleich zu seinen Schwingen.

Er kannte kein Wachsen im Flug,
so stolz trugen die Segel seine Kräfte,
die Dunkelheit erlebte Auftrieb
durch seine Gleiten aus diesem Baum,
der voller Macht, den Winter fest im Auge,
das letzte Ungeziefer noch an den Ästen hielt.

Er hätte sich niederlassen können,
hier auf meinem Fensterbrett in seiner Flugbahn,
ich wäre in seine Knopfaugen eingetaucht,
in den tiefen Brunnen voller Geheimnisse,
die diamantenen Spiegel vom anderen Horizont
hätten mir längst geahnte Zauber bestätigt.

Er hätte mit dem scharfen Schnabel
die harte Scheibe durchstoßen können,
oder wenigstens Bruchstücke morsen,
von dem lichtklaren, zarten Blau erzählend,
so verführend hinter den unwirklichen Schleiern,
die federleicht fasern in ihren tiefen Schattierungen.

Er hätte mich mitgenommen in den Raum,
der keine Scheinwerfer für gute Sicht braucht,
und wir hätten gemeinsam das letzte Rosa
in den fernen Winkeln der Hügelkette steigen sehen,
uns schweigend durch die dunkle Watte fallen lassen,
die letzte Himmelsfarbe so sanft nach oben schiebend.

Aber er stieg vor der Häuserfront allein in die Höhe.

[EdgarAllanPoe]

Schön!
Diese Fantasie, die du da beschreibst, hat wohl jeder irgendwann mal gehabt. Und dann die ernüchternde Wahrheit im letzten Vers, die, wie ich finde, dem wahren Leben sehr nahe kommt.
Deine Lyrik nimmt immer wieder neue Facetten an, habe ich bemerkt. Das ist gut so, es gefällt mir, weil deine Gedichte nicht an einem Punkt stagnieren, sondern sich ständig fortentwickeln.
Daher: weiter so!

Eddie

[Jocelyn]

Hallo Eddie!

Danke für deinen mutmachenden Kommentar.
Ja, ich versuche immer wieder an mir weiterzuarbeiten.
Schön, dass du das schätzt.

Diese Fantasie ist sicher schon viel erträumt worden.
Aber mir ist inzwischen das Wie wichtiger als das Was.

So wirklich viel Neues gibt's vielleicht auch gar nicht.

Jocelyn