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VI. a) Probleme des freien Verses

 
 
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jim-knopf
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Beitrag11.11.2009 14:29
VI. a) Probleme des freien Verses
von jim-knopf
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Probleme des freien Verses

Der freie Vers stößt in den letzten Jahrhunderten immer wieder auf massive Kritik. In seiner Anfangszeit wurde vor allem seine Reimlosigkeit angeprangert (man kannte in der deutschen Literatur bis dahin kaum reimlose Gedichte), heute kritisiert man (auch hier im Forum bisweilen) viele Texte in freien Versen mit dem bösen Wort „Stückelprosa“ und spricht ihnen sogar das Prädikat des Gedichts ab.

Beliebt ist dabei folgende Vorstellung: Ein Gedicht ist kein Gedicht, wenn es ohne Zeilenumbrüche als ganz normale Prosa gelesen werden kann. Viele der Kritiker wollen vielleicht nicht ganz so weit gehen und dem Text sein Gedichtsein absprechen, dennoch wird das Gedicht dann meist negativ bewertet. Auch unter einigen Literaturwissenschaftlern gilt die moderne Lyrik in freien Versen nur noch als Verfallsform der Lyrik. Zum Glück sind solche Meinungen nur vereinzelt anzutreffen.

Da aber auch schon Goethe beispielsweise in „Ganymed“ mit freien Versen gearbeitet hat und die Kritiker des freien Verses nicht soweit gehen wollen, auch dieses Gedicht als Verfallsform zu bezeichnen, flüchten sie sich meist in eigenartige Begründungen, die jeglicher Grundlage entbehren: Sie behaupten, ein Gedicht in freien Versen hätte einen Rhythmus, der sich vom Rhythmus der Prosarede unterscheidet. Dieser Rhythmus ist nach ihrer Auffassung sehr schwer nur zu erzeugen.
 
Leider ist der Begriff des Rhythmus ein äußerst schwammiger Begriff.  Auch in der Literaturwissenschaft besteht bei weitem keine Einigkeit, welchen Inhalt der Begriff trägt. Zum Teil wird er sogar ganz abgelehnt und es wird nur mit dem schönen Wort „Metrum“ gearbeitet. Zum anderen ist es doch eine sehr eigenartige Vorstellung, dass ein Text kein Gedicht sein kann, weil es nicht die richtige Sprache/den richtigen Sprachrhythmus besitzt. Das kann es nun wirklich nicht sein. Zum dritten noch ist diese Vorstellung des anderen (im besten Fall gehobeneren) Rhythmus als veraltet zu bezeichnen. Man kann sie – wie gesagt – auf die Texte Goethes oder Klopstocks anwenden, aber im Grunde funktioniert sie auf die gesamte freie Versdichtung des 20. Jahrhunderts nicht mehr.

Ein weiteres Argument gegen die Kritiker des freien Verses findet sich im Standartwerk der Versforschung: Die „Einheitliche Theorie des Verses“ von Hartmut Vollmar. Es gibt bis heute keine gängige, wirklich funktionierende Definition eines Verses. Anders ausgedrückt: Niemand weiß, was einen Vers von Prosarede unterscheidet, niemand weiß, was ein Vers eigentlich ist. Und wenn darüber schon keine Einigkeit besteht, wie kann man dann einem Text absprechen, ein Gedicht zu sein?   

Ein Ausschnitt aus dem oben genannten Werk:


Der Vers ist bis heute ein ungelöstes Rätsel. Niemand kann sagen, was ein Vers ist, d.h. was eigentlich einen Vers zum Vers macht, noch weniger, warum der Vers das ist, was er ist. Wie ist das möglich? Von Menschen für Menschen gemacht, bleibt der Vers ganz innerhalb des menschlichen Erkenntnishorizonts; sein Wesen und der Grund seiner Existenz müssten verstehbar sein, verstehbar ohne Rest, wie es die Gegenstände der rein physikalischen Wissenschaften kaum je sein könnten.

(Quelle: Hartmut Vollmar. Einheitliche Theorie des Verses. Verlag Königshausen und Neumann GmbH. Würzburg 2008)



Auch Bertolt Brecht ließ sich von den oben genannten Kritikern beeinflussen und schreibt in seinem Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ von 1938 Folgendes:


Viele meiner letzten lyrischen Arbeiten zeigen weder Reim noch regelmäßigen festen Rhythmus. Meine Antwort, warum ich sie als lyrisch bezeichne, ist: weil sie zwar keinen regelmäßigen aber doch einen (wechselnden, synkopierten, gestischen) Rhythmus haben.

(Quelle: Bertolt Brecht. Werke 22)



Brecht meint mit seinem wechselnden, synkopierten, gestischen Rhythmus ein sich von der Prosa und den festgelegten (meist alternierenden) Metren der letzten Jahrhunderte unterscheidenden Rhythmus, der durch die Vergrenzen eigene, überraschende Betonungen bekommt.  

Aber lässt sich das an Brechts Gedichten wirklich erkennen? Sprechen sie nicht viel mehr in der alltagsnahen Prosasprache, die er oben eigentlich bestreitet? Lassen wir Beispiele sprechen und der Leser soll selbst entscheiden.


Der Arzt

Diesen Kranken
Haben meine Feinde mir auf den Tisch gelegt.
Er blutet aus 17 Wunden und redet im Fieber.
Wie kann ich mich unterstehen und ihn verbinden?
Er ist sicher geschlagen worden.
Ich darf nichts mit ihm zu tun haben.

(Quelle: Bertolt Brecht. Die Gedichte. Insel Verlag. Frankfurt a. Main und Leipzig 2008)


Die Untersuchung

Die Behörden sollen eine Untersuchung führen
So heißt es. Im Stadtviertel
Schläft niemand mehr nachts.

Niemand weiß, wer es gewesen ist
Noch was verbrochen wurde
Alle sind verdächtig.

Wenn das Volk nachts den Verdacht von seiner Tür kehren muss
Können die Haufen von Verbrechern der Oberen
Unbeachtet
Liegenbleiben.

(Quelle: Bertolt Brecht. Die Gedichte. Insel Verlag. Frankfurt a. Main und Leipzig 2008)



Richtige Worte findet nach meiner Auffassung Rolf-Dieter Brinkmann in seinem Vorwort zum Gedichtband „Die Piloten“. Die Kritik an den freien Versen wurde wohl an keinem deutschen Lyriker mit derartiger Heftigkeit ausgelassen. Brinkmann wurde ständig von allen Seiten damit beschossen und nichtsdestotrotz oder vielleicht sogar gerade deswegen zählt sein Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Er schreibt folgendes:


Gibt es etwas, das gespenstischer wäre, als dieser deutsche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.? (…) Häufig höre ich von Leuten, denen ich meine Sachen zeige, daß dies nun eigentlich keine Gedichte mehr seien, und sie glauben, damit das entscheidende Urteil gesprochen zu haben. (…) Diesen Vorgang finde ich witzig, Was soll man da machen? Das Klischee, die ganze abstrakte Vorstellung vom „eigentlichen“ Gedicht noch einmal aufdecken?

(Quelle: Rolf-Dieter Brinkmann. Standphotos. Gedichte 1962-1970. Rowohlt Verlag GmbH. Reinbek b. H. 1980)



Brinkmann spricht es an: Die Vorstellung, was ein Gedicht ist, ist ein Klischee, dass bis heute nicht richtig als Klischee erkannt wird. Wir sind in unserer Vorstellung von Gedichten so festgefahren und verbohrt, dass wir allen ernstes zum Teil (wobei wir wieder bei den Kritikern des freien Verses wären) den Großteil der modernen Lyrik (die nunmal in freien Versen verfasst ist) verteufeln. Darüber kann man richtig wütend werden. „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen“ sagte Brinkmann einmal zu Reich-Ranicki, der vorher eines seiner Bücher besprochen hatte.


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