Seminar

[Truetext]

Seminar
»Das schizophrene Bewusstsein des Schriftstellers besteht aus verschiedenen Schichten«, dozierte der Professor, »Blasen könnte man auch stattdessen sagen, sogenannte Bewusstseinsblasen, und dies schlägt sich auch stets im literarischen Werk nieder ...«
Student K. lauschte in sich hinein und musste im gleichen Augenblick erschreckt feststellen, dass in seinem Inneren eindeutig die Stimmen von zwei solchen Blasen zu hören waren.
»Guten Tag, könnten Sie bitte mal Ihre Struktur klassifizieren?«, hörte er eine Bewusstseinsblase sprechen, die in seiner virtuellen Innenwelt weiter oben schwebte.  
»Häh?« kam es von unten, offensichtlich von einer anderen Blase.
»Ich meine: könnten Sie mal bitte was Wesentliches über sich sagen?«
»Ich? Was bitte? Was meinen sie? Was soll ich bitteschön tun?
»Gern, noch einmal: ich möchte Sie bitten, mal etwas Wesentliches über sich zu sagen.«
»Etwas Wesentliches? - Was ist denn das?«
»Nun, Sie werden doch wissen, was etwas Wesentliches ist.«
»Natürlich weiß ich das, Sie Spinnerin, also normalerweise ... aber über mich, über mich selbst, das ist etwas anderes.«
»Tja, vielleicht ist das Ihr Problem, es gibt nichts Wesentliches über Sie zu sagen,« klang es etwas höhnisch von oben.
»Mag sein, aber das ist mir egal. Darauf kommt es mir nicht an.«
»Worauf kommt es Ihnen denn an?«
»Hmmh, Moment, ich muss überlegen ... na klar, auf Bier, Zufriedenheit und ... Fantasien kommt es mir an.«
»Fantasien? Was für Fantasien?«
»Große Fantasien, gigantisch große Fantasien, riesige unendliche Fantasien.«
»Ehem« räusperte sich der obere namenlose Bewusstseinsblase, »Sie meinen doch nicht etwa wesentliche Fantasien?«
Die untere  Bewusstseinsblase schwieg einen Augenblick. Scheinbar musste sie kurz nachdenken. Student K. stellte aufeinmal, noch mehr erschreckt, die gleichzeitige Anwesenheit von 32 weiteren Bewusstseinsblasen in seiner Innenwelt fest, die machten jetzt einen Knicks und lispelten Leise einen Reim im Chor:
»Wir haben unser Lied vergessen,
Wir wissen nicht was wesentlich ist,
Wir wissen nicht, wer wir sind,
Wir wissen nicht, worauf es ankommt,
und was der Richter dazu sagt.«
Die beiden größeren Bewusstseinsblasen hatten dem Chor gelauscht und schwiegen sich jetzt an. Jede überlegte heimlich, ob sie der anderen den Vorschlag machen solle, sich jetzt einfach zu vermischen und zu durchdringen, vielleicht kämen sie dann weiter. Möglich war ja auch, dass man sich zusammenschloss zu einem gemeinsamen, möglichst wunderbaren ästhetischen Gebilde, das anschließend wie ein paar schillernde Seifenblasen durch den leeren Raum schwebte, bis dann alles zerplatzte.
»Wo waren wir eigentlich?« fragte schließlich die untere Bewusstseinsblase.
»Sie wollten sich endlich zu Ihren wesentlichen Fantasien äußern.«
»Nein, das wollte ich nicht, ich war gerade mit den Gedanken woanders, ich wollte nämlich eine sogenannte "geile Struktur" fassen, eine Tiefenstruktur, aber es ging nicht, sie entschwand mir, bevor ich sie fassen konnte. Husch war sie weg und hatte sich aufgelöst. Tja. Tja, was machen wir da denn nur?«
»Ich würde sagen«, sagte die obere Bewusstseinsblase, »wir konzentrieren uns auf das Wesentliche.«
»Tja«, sagte die untere Blase und dann wiederholte sie ungefähr 25 mal das Wort »Tja«, sprach es in verschiedenem Tempo, mal schnell und schnatternd, mal knatternd wie ein Maschinengewähr dann langezogen, verlegen, oder einfach nur angeödet.
»Wo waren wir?« sagte jetzt die obere Blase.
»Beim Bewusstseinsblasen, das nach dem wesentlichen sucht, ist doch einfach.«
»Klar, klar ist einfach ... Ist das, was wir sind, eigentlich alles immer nur Gedanken, die nach etwas suchen? Sind wir nur Gedanken? Ist das das Wesentliche?«
Die untere ging nicht darauf ein. »Es ist weggehuscht, aber ABER ES WÄRE DA GEWESEN und dann wäre es geil gewesen«, sagte sie traurig. »Tja. Vielleicht ist geil sein wesentlich«, fügte sie dann hinzu, »einfach nur geil sein.«
»Ok, dann sagen sie doch was geiles über sich.«
»Mmh«, machte die unter Blase, dann sagte sie eine Weile nichts, dann sagte sie: »Ich bin eine geile leere Blase. Ich bestehe aus Nichts und Gedanken, aber ich bin dermaßen geil, das hält keine Sau aus. Ich bin einfach saugeil, unwesentlich weniger geil, als das geilste von allen, so geil, dass ich äh ...«
»Vorsicht«, rief die obere Blase in diesem Augenblick, »wenn Sie sich noch mehr reinsteigern, dann platzen Sie, und für so wesentlich halte ich das auch alles nicht.«
»Ach so, ja richtig.«
Fassungslos und schweigend verharrte die untere Blase, irgendwie fühlte sie sich einsam und verzweifelt, »Wissen Sie eigentlich«, sagte sie dann mit weinerlicher Stimme, »dass ich jederzeit platzen kann, ich bin zwar keine Seifenblase, aber auch Bewusstseinsblasen können platzen oder nicht?«
»Mmh«, machte die obere Blase, »mag sein.  Ich weiß es selber auch nicht, aber ich verspreche darüber nachzudenken in einer ruhigeren Minute in nächster Zeit.«
»Ja, so ist unser Leben als Blase, schillernd bunt, jederzeit gefahrlaufend, irgendwo anzustoßen und zu zerplatzen«, rezitierte in diesem Augenblick der Chor, »wir armen armen Blasen. Wir leben im unbekannten jenseitigen Feld, das weit tief unten verborgen liegt, noch unter dem Fußboden, also noch eine Ecke tiefer, als dort, wo die große untere Bewusstseinsblase schwirrt, äh schwebt.«
»Student K.!« tönte in diesem Augenblick scharf die Stimme des Professors, »können Sie vielleicht auch endlich einmal etwas Wesentliches zu diesem Literaturseminar beitragen?«
Student K. erwachte jäh aus seinen Gedanken, er sprang auf, und mit einem Satz war er auf dem Tisch. Drohend, wild gestikulierend blickte er um sich. Dann rief er: »Ich bin eine unendlich geile leere Blase und ich bin schizophren.«

[Tatze]

Super!
Gut... der Schluss ist wirklich amüsant, aber es ist der Dialog zwischen den "Gedanken-Blasen" der deinen Text ausmacht. Er hat einen "Tiefgang" ungewöhnlicher Art. Ich finde, das ist mehr als bloßer Trash! Habe deinen Text sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Tatze

[Truetext]

... für Dein Lob, Tatze )
Ten Years After