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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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22.06.2012 21:23 Bis du heiratest, ist das weg von Melanie
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Bis du heiratest ist alles weg
Lächelnd steht sie vor mir, und wie aus dem nichts fliegen diese Worte mich an. Da war auch dieses Lied, das sie mir immer vorgesungen hat.
Marienkäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
die Mutter ist in Lummerland,
Lummerland ist abgebrannt,
Marienkäfer flieg
„Wer sind Sie denn? Ich warte nämlich auf meine Enkelin.“ Kaum hat sie zu Ende gesprochen, sieht sie an mir vorbei, folgt einer Hummel, die von Blüte zu Blüte surrt.
„Die ist dumm“, feixt sie. „In Wahrheit kann die nämlich gar nicht fliegen, wissen Sie?“
„Ich weiß, Oma.“ Meine Hand streicht automatisch eine Strähne ihres immer noch schwarzen Haares aus ihrer Stirn. Vor einem halben Jahr noch trug sie es so kurz, dass kein Löckchen zu sehen war. Jetzt sieht sie aus, wie ein wolliges Schaf. Während ihre Kegeldamen einmal die Woche zum Friseur eilten, um sich Wellen und Locken legen zu lassen, ließ sie ihr Haar regelmäßig so kurz schneiden, dass die Natur nicht den Hauch einer Chance hatte, ihre Kringel durchzusetzen.
„In Wirklichkeit ist sie viel zu schwer“, antworte ich, „aber sie weiß es nicht.“
„Wie bitte?“ Irritiert sieht sie mich an.
Ich kann es kaum aushalten, ihrem aufrichtigen, fragenden Blick zu begegnen. Hat sie wirklich alles vergessen?
„Weißt du noch“, hake ich mich bei ihr unter und führe sie den Weg entlang. „Früher hast du mir Häppchen geschnitten. Frisches Weißbrot mit Butter und bunten Zuckerstreuseln drauf. Mama hat es dir verboten, aber wenn sie weg war, hast du gelacht und bist mit mir in die Küche gegangen. Und manchmal hast du mich sogar damit gefüttert, wenn ich in der Badewanne lag und ein Delfin war. Weißt du das noch“, frage ich lachend. „Ich bin so schnell von einer Seite zur anderen gerutscht, dass das ganze Bad unter Wasser gestanden haben muss. Aber es hat dich nicht gestört, du hast mich einfach weitergefüttert.“
„Sie können wirklich schöne Geschichten erzählen.“
„Das sind unsere Geschichten, Oma.“
Auf einmal hält sie inne. Atmet tief ein und sieht mir kurz in die Augen.
„Unsere? Ach wissen Sie, als meine Kinder noch im Haus waren, hab ich ihnen jeden Abend einen Kakao gekocht. Einmal hat, … also, ich glaube, es war …“
„Das war ich, Oma.“
„Sie? Ach, Sie sind ja noch so jung. Wissen Sie, wann meine Enkelin kommt?“
„Ich hab unbedingt noch einen Kakao gewollt. Es muss mindestens zehn Uhr gewesen sein und du hast mir wirklich noch einen gekocht. Als er abgekühlt war hast du ihn mir ans Bett gebracht und ich habe den ganzen Becher mit Absicht auf der Bettdecke verschüttet. Mein Gott, so wütend warst du nur das eine Mal. Ich glaub, du hast mir sogar den Hintern versohlt.“
Sie antwortet nicht. Ich steuere eine Bank an und wir sitzen eine Weile stumm nebeneinander. Wie so oft in letzter Zeit denke ich, ich hätte viel öfter zu ihr fahren sollen. Diese eine Stunde Autofahrt kann mich doch nicht wirklich gehindert haben. Es wäre so viel Zeit gewesen, in der sie mit mir gemeinsam über all unsere Geschichten hätte lachen können. Aber als wir merkten, dass sie senil wird, unsere Namen verwechselt und die verrücktesden Dinge durcheinanderbringt, haben wir nur die Augen verdreht und gehofft, sie würde nur nicht schon wieder anfangen von früher zu erzählen.
Jetzt wünschte ich, ich wüsste mehr über ihr Leben. Ich weiß, dass mein Opa sie hat sitzen lassen. Mit sechs Kindern und einem Haus im Rohbau. Er hat getrunken und sich selbst zugrunde gerichtet, während sie das Haus zu Ende gebaut, und ihre Kinder aufgezogen hat. Sie hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet und ihre Kinder in ein selbständiges Leben geschickt. Einen Sohn hat sie verloren, bevor er dreißig wurde. Von den beiden Söhnen, die viel zu jung, schon im Kindesalter starben, weiß ich nur von meiner Mutter. Oma hat nie ein einziges Wort über sie verloren.
Hätte ich nur besser zugehört, als sie von ihrem Leben erzählt hat. Von der Flucht aus der Heimat, die sie mit ihren Geschwistern gemeinsam überlebt hat. Warum habe ich sie nie nach ihren Eltern gefragt, nach ihrer Kindheit. Aber damals dachte ich, sie ist einfach ewig da. Ein Leben ohne sie war für mich so undenkbar, wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Wenn ich traurig war, lief ich zu ihr, nicht zu meiner Mutter. Und wenn ich neue Winterstiefel brauchte, ging sie mit mir in die Stadt, um welche zu besorgen.
Jetzt sitze ich neben ihr, und muss begreifen, dass sie mich vergessen hat. Die Tränen schießen mir heiß in die Augen und fließen, noch bevor ich mir ein Taschentuch herauskramen kann.
„Oh, weinen Sie? Haben Sie sich wehgetan?“
Während ich den Kopf schüttle und meine Nase putze, fasst sie meine Hand und drückt sie kurz und fest.
„Wissen Sie, wenn meine Enkelin traurig war, habe ich sie immer getröstet. Bis zu deiner Hochzeit ist das weg, hab ich ihr erzählt. Wissen Sie, das hat schon meine Oma immer gesagt.“
Weitere Werke von Melanie:
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Nicki Bücherwurm
Alter: 68 Beiträge: 3613 Wohnort: Mönchengladbach
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22.06.2012 22:34
von Nicki
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Da hast du ein wunderschönes Bild gezeichnet. Beim Lesen musste ich an meine Oma denken, sie hatte sehr viel Ähnlichkeit mit deiner Protagonistin, auch wenn sie nicht senil war.
Auch meine Oma schmierte mir Brote und streute Zucker drauf, meine Mutter wäre ausgeflippt, hätte sie es gewusst.
Vielleicht sind es diese Gemeinsamkeiten oder die liebevolle Sprache, in der du deine Geschichte geschrieben hast, dass sich deinen Text mag. Trägt sie autobiographische Züge? Ich vermute es.
Trotz des vielen Lobes, einige Erbsen möchte ich loswerden, nimm sie nicht so schwer, sie wiegen weniger als eine Hummel
Bei dem Lied heißt es im Original: Maikäfer, flieg!
Zitat: | wie aus dem nichts | Nichts wird groß geschrieben.
die verrücktesten
_________________ MfG
Nicki
"Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist." Henry Ford
"Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." A.Einstein
*Sommerblues* September 2017 Eisermann Verlag
*Trommelfeuer* November 2017 Eisermann Verlag
*Silvesterliebe* 30. November 2018 Eisermann Verlag
*Gestohlene Jahre* Work in Progress |
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Rheinsberg écrivaine émigrée
Alter: 64 Beiträge: 2251 NaNoWriMo: 35000 Wohnort: Amman
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23.06.2012 04:32
von Rheinsberg
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Schließe mich Nicki an.
Aber noch ein Irrtum im Lied: nicht Lummerland - Pommernland. Oder war das Absicht?
_________________ "Write what should not be forgotten…" Isabel Allende
"Books are written with blood, tears, laughter and kisses. " - Isabel Allende
"Die größte Gefahr ist die Selbstzensur. Dass ich Texte zu bestimmten Themen gar nicht schreibe, weil ich ahnen kann, welche Reaktionen sie hervorrufen." - Ingrid Brodnig |
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kskreativ Märchenerzähler
K Alter: 59 Beiträge: 2232 Wohnort: Ezy sur Eure, France
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K 23.06.2012 04:38
von kskreativ
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Zitat: | Wissen Sie, das hat schon meine Oma immer gesagt.“ |
Das zweite Wissen Sie kann eigentlich weg. Ansonsten ist das ein sehr schön geschriebener Text, sehr einfühlsam.
Zum Liedtext: Im Original heißt es Pommerland.
LG, Karin
_________________ C'est la vie. oder: Du würdest dich wundern, was man so alles überleben kann. |
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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23.06.2012 07:03
von Melanie
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Guten Morgen,
@Nicki: Stimmt. Marienkäfer und Maikäfer, das hab ich verwechselt hab doch gewusst, dass da irgendwas nicht stimmig ist.
Und du vermutest natürlich richtig. Er ist autobiographisch. Vielleicht hat die kürzliche Diskussion zu dem Thema mich abgehalten, es so zu kategorisieren.
Die Zuckerbrote, die waren mindestens so typisch wie Süppchen mit Würstchen, oder die Tatsache dass sie, sobald irgendein Enkelkind kam, in der Küche verschwand und Marmorkuchen backte. Im Grunde nur, damit wir die Teigschüssel ausschlecken konnten.
Noch lebt sie, wie eh und je, in ihrem Häuschen und kann allein zurechtkommen. Aber es ist so erschreckend, dabei zuzusehen, dass diese Zeit langsam zuende geht. Das tut echt weh.
@Rheinsberg: Du hast recht, es heißt Pommerland. Auch das war so ein Ding, wo meine Mutter ihr eingeimpft hat, wenigstend Lummerland zu singen. Sie fand die "Echtversion" zu grausam. Aber Oma hat sich natürlich auch daran nicht gehalten. Sie kommt aus Pommern, wahrscheinlich sang sie es deswegen so oft für uns Enkel. Ich hab den Sinn des Liedes natürlich erst viel später erkannt. Damals hab ich einfach nur ihre Stimme geliebt.
@ks: Das zweite "Wissen Sie", das könnte wirklich weg. Mir gefällt auch der ganze Satz nicht so recht, ich schau ihn mir noch einmal an.
Vielen dank an euch, ich freu mich sehr, dass euch mein Text gefällt, und ich die Gefühle transportieren konnte, die ich selbst habe. Das Ganze ist ein Versuch, so nahe wie möglich an meine Protagonisten heranzukommen. Bei meinen fiktiven Texten hapert es da nämlich oft, finde ich. Also hab ich mal in mich hineingehorcht. Jezt weiß ich, dass ichs kann und kann es auf mein Projekt ummünzen.
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Gast
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23.06.2012 07:40
von Gast
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Guten Morgen Lali,
das ist eine sehr schöne anrührende Geschichte. Ich würde sie dennoch ein bisschen straffen, denn ein paar Redundanzen sind drin. Ich habe mal ein wenig in den Text kommentiert – nimm, was du gebrauchen kannst.
Ein paar Erbsen habe ich – für ne Suppe reicht es nicht.
laliluna hat Folgendes geschrieben: | Bis du heiratest ist alles weg
Lächelnd steht sie vor mir, und wie aus dem nNichts fliegen diese Worte mich an. Da war auch dieses Lied, das sie mir immer vorgesungen hat.
Marienkäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
die Mutter ist in Lummerland,
Lummerland ist abgebrannt,
Marienkäfer flieg |
Von diesem Lied gibt es verschiedene Versionen – deine eigene gefällt mir recht gut.
laliluna hat Folgendes geschrieben: | Ich glaub, du hast mir sogar den Hintern versohlt.“ |
Ich meine, das sollte die Protagonistin wissen – sie war dabei!
laliluna hat Folgendes geschrieben: | Sie antwortet nicht. Ich steuere eine Bank an und wir sitzen eine Weile stumm nebeneinander. Wie so oft in letzter Zeit denke ich, ich (diese Wortwiederholung kannst du sich verhindern) hätte viel öfter zu ihr fahren sollen. Diese eine Stunde Autofahrt kann mich doch nicht wirklich gehindert haben. Es wäre so viel Zeit gewesen, in der sie mit mir gemeinsam über all unsere Geschichten hätte lachen können. Aber als wir merkten, dass sie senil (Ich bin mir nicht sicher, ob „senil“ das richtige Wort ist. So verwirrt, wie die alte Dame ist, wird sie vielleicht eher dement sein? ) wird, unsere Namen verwechselt und die verrücktesden verrücktesten Dinge durcheinanderbringt, haben wir nur die Augen verdreht und gehofft, sie würde nur nicht schon wieder anfangen von früher zu erzählen. |
Du wechselst hier im letzten Satz die Zeitform. Ich meine, er müsste komplett ins Präteritum.
laliluna hat Folgendes geschrieben: | Jetzt wünschte ich, ich wüsste mehr über ihr Leben. Ich weiß, dass mein Opa sie hat sitzen lassen. (vielleicht einfacher: Ich weiß, mein Opa hat sie sitzen lassen) Mit sechs Kindern und einem Haus im Rohbau. Er hat getrunken und sich selbst zugrunde gerichtet, während sie das Haus zu Ende gebaut, und ihre Kinder aufgezogen hat. Sie hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet und ihre Kinder in ein selbständiges selbstständiges Leben geschickt. Einen Sohn hat sie verloren, bevor er dreißig wurde. Von den beiden Söhnen, die viel zu jung, schon im Kindesalter starben, weiß ich nur von meiner Mutter. Oma hat nie ein einziges Wort über sie verloren. |
laliluna hat Folgendes geschrieben: | Jetzt sitze ich neben ihr, (kein Komma) und muss begreifen, dass sie mich vergessen hat. Die Tränen schießen mir heiß in die Augen und fließen, noch bevor ich mir ein Taschentuch herauskramen kann. |
Liebe Grüße
Monika
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Beka Exposéadler
Beiträge: 2378
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23.06.2012 10:19
von Beka
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Hallo Lali,
eine schöne Geschichte. Sehr liebevoll, mit ein bisschen Wehmut ...
Zuckerbrot. Kenne ich auch von meiner Oma.
Die Erbsen wurden schon aufgezählt.
Das Einzige, was ich noch zu meckern habe, ist, dass du mir einen Ohrwurm beschert hast.
Wahrscheinlich summe ich heute den ganzen Tag dieses schreckliche Lied
LG
Beka
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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23.06.2012 14:39
von Melanie
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Hallo Paloma
ich schau mir deine Vorschläge mal an und seh, was ich mitnehme, vielen Dank. Das doppel-ich hab ich schon weg.
Und bei dem ich glaube hast du recht. Ich war dabei und müsste es wissen. Aber ich weiß einiges tatsächlich nur noch aus Erzählungen. Bei dem Kakao muss ich so sechs gewesen sein. An den erinnere ich mich ganz genau und ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum ich den verschüttet habe das war doch der beste der Welt! Aber für den Text werde ich es ändern, und es die Prota genau wissen lassen.
Hallo Beka,
Zuckerbrot, das ist wohl eine typische Oma-Manier. Ob ich das meinen Enkeln wohl auch mal mache? Meine Kinder bekommen das nienich. Da bestehe ich auf Joghurt und Äpfel und Möhren und son Kram.
Ich sollte meine Mama mal fragen, was sie ihnen so gibt, wenn ich nicht hingucke
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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24.06.2012 14:59
von Melanie
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Ich sitz grad an diesem Text. Wie ist es denn nun richtig? Paloma hat mir das Wort selbständig als falsch angemarkert und es so korrigiert: selbstständig.
Entspricht die Doppelung von dem st der neuen Rechtschreibung?
Vielleicht kann mir da jemand helfen? (ich stelle dabei fest, unbedingt einen neuen Rechtschreibduden zu brauchen)
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Gast
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24.06.2012 15:01
von Gast
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Huhu Lali,
guckst du hier: http://www.duden.de/rechtschreibung/selbststaendig
bis denne
Monika
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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24.06.2012 15:04
von Melanie
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Oh, habe soeben meinen neuen Duden bekommen
Also ist selbständig nicht falsch, nur nicht empfohlen.
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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24.06.2012 15:17
von Melanie
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So, ich hab die Fehlerchen ausgebügelt und zwei Sätze geändert. (nur das selbständig ist geblieben, wies war )
Bis du heiratest ist das weg.
Lächelnd steht sie vor mir, und wie aus dem Nichts fliegen diese Worte mich an. Da war auch dieses Lied, das sie mir immer vorgesungen hat.
Maikäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
die Mutter ist in Lummerland,
Lummerland ist abgebrannt,
Maikäfer flieg
„Wer sind Sie denn? Ich warte nämlich auf meine Enkelin.“ Kaum hat sie zu Ende gesprochen, sieht sie an mir vorbei, folgt einer Hummel, die von Blüte zu Blüte surrt.
„Die ist dumm“, feixt sie. „In Wahrheit kann die nämlich gar nicht fliegen, wissen Sie?“
„Ich weiß, Oma.“ Meine Hand streicht automatisch eine Strähne ihres immer noch schwarzen Haares aus ihrer Stirn. Vor einem halben Jahr noch trug sie es so kurz, dass kein Löckchen zu sehen war. Jetzt sieht sie aus, wie ein wolliges Schaf. Während ihre Kegeldamen einmal die Woche zum Friseur eilten, um sich Wellen und Locken legen zu lassen, ließ sie ihr Haar regelmäßig so kurz schneiden, dass die Natur nicht den Hauch einer Chance hatte, ihre Kringel durchzusetzen.
„In Wirklichkeit ist sie viel zu schwer“, antworte ich, „aber sie weiß es nicht.“
„Wie bitte?“ Irritiert sieht sie mich an.
Ich kann es kaum aushalten, ihrem aufrichtigen, fragenden Blick zu begegnen. Hat sie wirklich alles vergessen?
„Weißt du noch“, hake ich mich bei ihr unter und führe sie den Weg entlang. „Früher hast du mir Häppchen geschnitten. Frisches Weißbrot mit Butter und bunten Zuckerstreuseln drauf. Mama hat es dir verboten, aber wenn sie weg war, hast du gelacht und bist mit mir in die Küche gegangen. Und manchmal hast du mich sogar damit gefüttert, wenn ich in der Badewanne lag und ein Delfin war. Weißt du das noch?“, frage ich lachend. „Ich bin so schnell von einer Seite zur anderen gerutscht, dass das ganze Bad unter Wasser gestanden haben muss. Aber es hat dich nicht gestört, du hast mich einfach weitergefüttert.“
„Sie können wirklich schöne Geschichten erzählen.“
„Das sind unsere Geschichten, Oma.“
Auf einmal hält sie inne. Atmet tief ein und sieht mir kurz in die Augen.
„Unsere? Ach wissen Sie, als meine Kinder noch im Haus waren, hab ich ihnen jeden Abend einen Kakao gekocht. Einmal hat, … also, ich glaube, es war …“
„Das war ich.“
„Sie? Ach, Sie sind ja noch so jung. Wissen Sie, wann meine Enkelin kommt?“
„Ich hab unbedingt noch einen Kakao gewollt. Es muss mindestens zehn Uhr gewesen sein und du hast mir wirklich noch einen gekocht. Als er abgekühlt war hast du ihn mir ans Bett gebracht und ich habe den ganzen Becher mit Absicht auf der Bettdecke verschüttet. Mein Gott, so wütend warst du nur das eine Mal. Du hast dich später dafür entschuldigt, dass du mir den Hintern versohlt hast.“
Sie antwortet nicht. Ich steuere eine Bank an und wir sitzen eine Weile stumm nebeneinander. Wie so oft in letzter Zeit bereue ich es, nicht öfter zu ihr gefahren zu sein. In den letzten Jahren hat mein eigenes Leben mich zu sehr beschäftigt. Diese eine Stunde Autofahrt kann mich doch nicht wirklich gehindert haben. Es wäre so viel Zeit gewesen, in der sie mit mir gemeinsam über all unsere Geschichten hätte lachen können. Aber als wir merkten, dass sie vergesslich wird, unsere Namen verwechselt und die verrücktesten Dinge durcheinanderbringt, haben wir nur die Augen verdreht und gehofft, sie würde nur nicht schon wieder anfangen von früher zu erzählen. Meine Tanten ärgerten sich über sie und ich trug die Angst in mir. Ich hatte gehofft, es würde bei dem Vergessen von Kleinigkeiten bleiben, aber auf einmal war sie da, die Demenz. Einfach da.
Jetzt wünschte ich, ich wüsste mehr über ihr Leben. Ich weiß, mein Opa hat sie sitzen lassen. Mit sechs Kindern und einem Haus im Rohbau. Er hat getrunken und sich selbst zugrunde gerichtet, während sie das Haus zu Ende gebaut, und ihre Kinder aufgezogen hat. Sie hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet und ihre Kinder in ein selbständiges Leben geschickt. Einen Sohn hat sie verloren, bevor er dreißig wurde. Von den beiden Söhnen, die viel zu jung, schon im Kindesalter starben, weiß ich nur von meiner Mutter. Oma hat nie ein einziges Wort über sie verloren.
Hätte ich nur besser zugehört, als sie von ihrem Leben erzählt hat. Von der Flucht aus ihrer Heimat, die sie mit ihren Geschwistern gemeinsam überlebt hat. Warum habe ich sie nie nach ihren Eltern gefragt, nach ihrer Kindheit. Aber damals dachte ich, sie ist einfach ewig da. Ein Leben ohne sie war für mich so undenkbar, wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Wenn ich traurig war, lief ich zu ihr, nicht zu meiner Mutter. Und wenn ich neue Winterstiefel brauchte, ging sie mit mir in die Stadt, um welche zu besorgen.
Jetzt sitze ich neben ihr und muss begreifen, dass sie mich vergessen hat. Die Tränen schießen mir heiß in die Augen und fließen, noch bevor ich mir ein Taschentuch herauskramen kann.
„Oh, weinen Sie? Haben Sie sich wehgetan?“
Während ich den Kopf schüttle und meine Nase putze, fasst sie meine Hand und drückt sie kurz und fest.
„Wissen Sie, wenn meine Enkelin traurig war, habe ich sie immer getröstet. Bis zu deiner Hochzeit ist das weg, hab ich ihr erzählt. Das hat schon meine Oma immer gesagt.“
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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Miss Havisham Leseratte
M
Beiträge: 102
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Melanie Tassentante
Alter: 44 Beiträge: 995 Wohnort: Verden/Aller
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01.07.2012 14:51
von Melanie
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Oh, vielen Dank, Miss Havisham
hatte gar nicht mehr mit Rückmeldungen gerechnet.
Ja, wenns zu Gefühlsüberladen ist, wirkt es auch schnell kitschig, schmalzig, das mag ich auch gar nicht.
Ich hab versucht, meinen Gedanken ganz einfache und ehrliche Worte zu geben. Schön, dass es gelungen scheint.
lg
_________________ Narben erinnern uns an das Erlebte.
Aber sie definieren nicht unsere Zukunft.
Mark Twain |
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