18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Betongedanken


 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
Graograman
Geschlecht:männlichLeseratte

Alter: 39
Beiträge: 132
Wohnort: Regensburg


Beitrag26.07.2009 22:46
Betongedanken
von Graograman
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hier ein Beitrag für unsere Uni-Schreibwerkstatt, in dem ich die Themenstellung "Ich, Senior" verwurstet hab.

Kritik, Lobpreis, Anregungen, Fragen und Aufforderungen zum Beischlaf werden gern gesehen. Viel Spaß.




***********************************************************
Nicht viel zu tun heute. Sitzen, drehen, ein wenig herumgehen, wieder setzen, warten. Kann durchs Fenster auf den Parkplatz nach draußen sehen. Himmel grau, Straße grau, Autos bunt. War der Himmel immer grau? Weiter sitzen, weiter warten. Schon elf, gibt Essen. Mehliges Etwas, fad, wohl gesund. Hab immer gern bei Wolfgang gegessen. Hat immer geschmeckt, lachende Kinder. Mag seine Frau nicht, Name vergessen.
Geschirr wird abgeräumt, lächelnde Weißhosen überall. Einer nimmt meinen Arm, führt mich irgendwohin. Setz mich wieder hin. Wirklich nett, dieser Junge. Wann Wolfgang wohl mal wieder kommt? Warten. Kaffee gibt’s um vier. Hier hat’s auch ein Fenster. Kleine Wiese, grauer Betonrahmen. War ich schon mal da draußen? Ja, glaub schon. Die Wiesen damals waren viel grüner. Vielleicht haben sie die Farben blasser gemacht, seit ich hier bin. Gab doch auch blauen Himmel damals. Und nachts Sterne, sogar in der Stadt. Gibt’s heute noch Sterne? Lange nicht mehr draußen gewesen nach sechs. Lange nirgendwo mehr gewesen.
Nur nach Damals geh ich gern, da sind die Farben nicht so ausgedörrt und die Leute benehmen sich noch vernünftig. Starre in das Weiß der gegenüberliegenden Wand und öffne die Tür, die zurückführt.
Wohin heute? So viele Räume in mir, so viele Abzweigungen und Sackgassen. Ah, die Schulzeit, warum nicht?

Lächelnd schließe ich die Tür hinter mir und sitze wieder in der dritten Reihe des schäbigen Klassenzimmers. Herr Gaczek ist vor über dreißig Jahren an irgendeiner Krebsart gestorben, aber heute hält er eine Stunde über Hoffmann. Ich höre ihm zu, wie er seine Lieblingsstellen für uns interpretiert, sehe mich im Zimmer um und kenne alle ihre Namen, ihre Freunde, ihren Tratsch. All diese Dinge, die unseren ganzen Kosmos ausgemacht haben in all ihrer wundervollen Lächerlichkeit. Als er uns eine längere Passage vorliest, schließe ich die Augen und gebe mich den Worten hin, die mich durch ihren Zauber meinen Weg geführt haben. Ins Abitur, ins Studium, ins Lektorat, zu Karin. Ich bin nicht mehr im Klassenzimmer, ich liege neben ihr und streiche mit den Fingerspitzen über ihre nackten Schultern. Das passiert häufig während meiner Reisen, stört mich aber nicht, bin ich doch hier im Damals wacher, höre, sehe, denke und verstehe. Solche spontanen Ortswechsel sind ein Preis, den ich dafür gerne zahle. Zumal der Wechsel in diesem Fall äußerst angenehmer Natur ist. Ihre braunen Locken verwandeln das Kissen in ein Meer sanfter Vertrautheit. Obwohl uns niemand hören kann, flüstern wir, tauschen schmerzlich aufrichtige Zärtlichkeit. Ihre Haut schmeckt nach unverbrauchtem Glück, ihre Wärme erzählt von Augenblicken der Unsterblichkeit. Ich will nicht zurück ins kalte Drüben, wo mein Geist eine poröse Masse aus Dumpfheit ist und mir jeden Morgen ein Fremder den Katheterbeutel leert. Hier ist mein Leben, meine Liebe. Hier bin ich der Mensch, der irgendwann aufgehört hat, zu sein, und eine Hülle aus Verfall und Nutzlosigkeit zurückgelassen hat. Doch während mein Atem über ihre Wange streift, spüre ich, dass das Drüben wieder ruft. Unwillig klammere ich mich an die zierliche Gestalt, die langsam verblasst und von der schließlich nur noch ein Lächeln zurückbleibt.  

Ist kalt geworden. Langsam wird’s dunkel, gibt bald Abendessen. Dann wieder warten. Warten in alle Ewigkeit. Der Junge kommt wieder, sagt irgendwas. Als würd er mit einem Kind sprechen. Tupft mit einem Taschentuch meine Tränen weg, brabbelt weiter. Wieso redet der so mit mir? Die Gruberin neben mir starrt zur Wand; ist vielleicht auch grad woanders. Oder bemerkt sowieso nichts. Weine wohl weiter; der Junge steht auf und holt irgendwas. Legt mir was in die Hände; weich, flauschig, nicht groß. Drehe das Ding ein wenig herum und lass es dann fallen. Er hebt es auf, legt es auf meinen Arm, schließt dann den anderen darum. Liegt sanft in meiner Armbeuge, ich wiege es ein wenig hin und her. Freundliche schwarze Knopfaugen. Kleine weiche Glieder.

Der Gang mit den unzähligen Gabelungen jagt an mir vorbei. Die Tür fliegt auf wie durch einen mächtigen Windstoß und ich werde hindurchgezogen. Steriles Weiß umgibt mich auch hier, doch ohne die Kälte des Todeswartezimmers drüben. Eine grüngekleidete Frau reicht mir lächelnd ein schreiendes Bündel und ich nehme das von Blut, Schleim und Körperresten bedeckte Neugeborene auf den Arm. Neben mir liegt sie, lächelt matt. Ich drücke meinen Sohn an mich und weiß unser Versprechen der Unsterblichkeit endlich eingelöst.

Nehme das Ding mit zum Abendessen. Dann ins Bett, und morgen wieder sitzen, warten, essen, warten. Aber nicht mehr allein. Nie wieder.



_________________
Die Hölle gab mir meine halben Talente.
Der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins.
- Heinrich von Kleist
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Gast







Beitrag26.07.2009 23:36

von Gast
Antworten mit Zitat

Ein Text, der mich berührt. Gut geschrieben - vor allem der Kontrast zwischen den knapp gehaltenen "Jetzt"-Passagen mit ihren kurzen Sätzen und den großzügiger formulierten Erinnerungssequenzen ist sehr gelungen!

Eine einzige Textstelle holpert für mich:
Zitat:

die mich durch ihren Zauber meinen Weg geführt haben.


Hier würde mir ein einfacheres "deren Zauber meinen Weg bestimmt hat" oder "deren Zauber mich auf meinem Weg geführt hat" besser gefallen. Oder wolltest du damit was anderes ausdrücken und ich versteh' es nur nicht? Wie auch immer - in jedem Fall sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße

Soraya
Nach oben
Mardii
Stiefmütterle

Alter: 64
Beiträge: 1774



Beitrag27.07.2009 20:02

von Mardii
Antworten mit Zitat

Hallo Graograman,

schließe mich der Kritik von Soraya voll und ganz an.

Schöner vielschichtiger Text, der unter die Haut geht.

Habe selber mit Senioren gearbeitet. Dein Text gibt eine Vorstellung davon, was in Menschen vorgeht, die in einem Heim leben und Demenz haben.

Gruß von Mardii
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
m-chen
Geschlecht:weiblichWortedrechsler


Beiträge: 93
Wohnort: Berlin


Beitrag27.07.2009 21:27

von m-chen
Antworten mit Zitat

Ein wirklich toller Text, hatte an einigen Stellen einen richtig Klos im Hals.

Altwerden ist furchteinflößend. Ich bin erst 21 und hab panische Angst davor. Ein sehr guter Text.


_________________
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag28.07.2009 00:16

von Alogius
Antworten mit Zitat

Kann mich ebenso nur so äußern:

Ein sehr gelungener, gefühlvoller, doch NICHT sentimentaler Text über das Altsein. Insbesondere das Warten -und im Prinzip das Warten auf etwas, das sich nie bessern wird, höchstens (und das wohl sicher) verschlimmern.
Habe ebenso, während des Studiums und auch davor, viel mit älteren Menschen gearbeitet und zu tun gehabt.
Das trifft es voll und ganz.

Danke
Gruß,
Tom


_________________
Aus einem Traum:
Entsetzter Gartenzwerg: Es gibt immer noch ein nullteres Fußballfeld. Wir werden viele Evolutionen verpassen.
Busfahrer: Tröste dich. Mit etwas Glück sehen wir den Tentakel des Yankeespielers, wie er den Ereignishorizont des Schwarzen Loches verlässt.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
MT
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 52
Beiträge: 1090
Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag28.07.2009 12:11

von MT
Antworten mit Zitat

Grandios!
Stimmung plastisch erfasst, greifbar, riechbar, erfahrbar dargestellt. Stil - kurz, gehackt - passt ausgezeichnet dazu.

Nur ein paar kleinste Anmerkungen:

Zitat:
Mehliges Etwas, fad, wohl gesund.

Mir ist das "Etwas" zu abstrackt, besser vielleicht "Pampe" oder "Matsch".

Zitat:
lächelnde Weißhosen überall

Das finde ich übersetzt und dadurch ungewollt komisch - eine Hose, die lächelt... Milder (weil näher am lächelnden Mund) wäre aus meiner Sicht der lächelnde Weißkittel.

Zitat:
Nur nach Damals geh ich gern, da sind die Farben nicht so ausgedörrt und die Leute benehmen sich noch vernünftig.

Zwischen "ausgedörrt" und "und" fehlt ein Komma (zwei Hauptsätze).

Zitat:
Die Gruberin neben mir starrt zur Wand

Was ist eine Gruberin? Vielleicht besser: Die "Alte" neben mir. Damit hättest Du auch zugleich unterstrichen, dass sich der Protagonist selbst noch gar nicht so richtig im Altersheim/auf dem Abstellgleis dazugehörig fühlt.

Aber dennoch: Eine außergewöhnlich gute Geschichte. Vielen Dank für den Lesegenuss.

MT
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Graograman
Geschlecht:männlichLeseratte

Alter: 39
Beiträge: 132
Wohnort: Regensburg


Beitrag30.07.2009 11:01

von Graograman
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Erstmal danke an alle für die Wortmeldungen.

Zitat:
Eine einzige Textstelle holpert für mich:
Zitat:

Graograman hat Folgendes geschrieben:
die mich durch ihren Zauber meinen Weg geführt haben.



Hier würde mir ein einfacheres "deren Zauber meinen Weg bestimmt hat" oder "deren Zauber mich auf meinem Weg geführt hat" besser gefallen.


Wurde geändert in "deren Zauber mich meinen Weg geführt hat".
Danke fürs Erspähen  Wink

MT hat Folgendes geschrieben:
Graograman hat Folgendes geschrieben:
Mehliges Etwas, fad, wohl gesund.


Mir ist das "Etwas" zu abstrackt, besser vielleicht "Pampe" oder "Matsch".


Ich soll "Mehliger Matsch" schreiben? Meinst du das ernst?  
 Laughing

Nein, im Ernst: danke für den Hinweis.
An "Etwas" möchte ich jedoch festhalten, da sich nach meinem Dafürhalten ebendieser amorphe Begriff sehr gut in die allgemeine Atmosphäre einfügt.
Ein illustrierenderes, plastischeres Wort wie "Pampe" würde hier für meinen Geschmack die Stimmung brechen und der allgemeinen Denkweise des Protagonisten zuwiderlaufen.

Zitat:

Graograman hat Folgendes geschrieben:
lächelnde Weißhosen überall


Das finde ich übersetzt und dadurch ungewollt komisch - eine Hose, die lächelt... Milder (weil näher am lächelnden Mund) wäre aus meiner Sicht der lächelnde Weißkittel.


Jacke wie Hose wink
Den "Weißkittel" wollte ich vermeiden, da mir der Begriff zu klischeebeladen ist und mir zu viele Assoziationen in Richtung Irrenhaus weckt.

Zitat:
Zwischen "ausgedörrt" und "und" fehlt ein Komma


Nein.
Trau dem Sprachwissenschaftler.

Zitat:
Was ist eine Gruberin?


Eine Gruberin ist eine Frau, die Gruber heißt wink

Grundsätzlich stimme ich dir aber zu, so ganz passt das irgendwie nicht ins Konzept. Wird ersatzlos gestrichen.



Danke nochmal an alle für Zeit und Muse.


_________________
Die Hölle gab mir meine halben Talente.
Der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins.
- Heinrich von Kleist
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du keine Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  

EmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlung

von EdgarAllanPoe

von Rike

von femme-fatale233

von kskreativ

von Maria

von Boudicca

von caesar_andy

von JGuy

von Mogmeier

von RememberDecember59

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!