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Murmel
Geschlecht:weiblichSchlichter und Stänker

Alter: 68
Beiträge: 6367
Wohnort: USA
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Beitrag26.06.2009 13:10

von Murmel
Antworten mit Zitat

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Rückblende an dieser Stelle notwendig ist, da sie im Prinzip nur die Aktionen in der Gegenwart wiederholt. Der Leser ist in der Regel intellegent genug aus dem "Gegenwarts"verhalten der Mutter auf ihr Vergangenheitsverhalten zu schliessen. Rückblenden sollten nur eingefügt werden, wenn diese Information nicht auf andere Weise transportiert werden kann.

Plusquamperfekt sollte vermieden werden, und die klassische Art ist: erster Satz und letzter Satz der Rückblende im PQP, der Rest im Praeterium. Handelt es sich um eine Minirückblende, kann man PQP selbstverständlich durchhalten.

Das Sprachgefühl entscheidet. Aber wie oben erläutert, die Rückblende ist unnötig.

Im Text ist jede Menge überflüssiges und wie schon von anderen Kritikern bemerkt, widersprüchliches. Ich markiere dir ein paar Worte in rot, über die du nachdenken solltest, ob du sie brauchst und ob sie nicht im Widerspruch stehen.

Zitat:
Mir erfuhr ein genervter Zischlaut und stirnrunzelnd liess ich meinen Blick zum wiederholten Male durch die Halle des Flughafens streifen, um einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu machen.


Zitat:
Insgeheim ärgerte ich mich aber immer noch über meine Mutter, die einige Meter entfernt mit einem uniformierten Mann stritt
Warum insgeheim? Und Immer noch? Oder schon wieder?

Zitat:
Sie schien nicht zu bemerken, dass sie die Aufmerksamkeit aller Leute um uns herum auf sich zog und das Ausmass an Peinlichkeit, das ich empfand, noch steigerte.


Zitat:
Wild gestikulierend redete sie auf den Flughafenbeamten ein, der unter der Dominanz ihrer Statur und ihres Auftretens merklich zusammenschrumpfte und ein wenig zurückwich, um ihrem erhobenen Zeigefinger zu entkommen.


Übung: kürze jeden Paragraphen um 5%.

Murmel.


_________________
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Michael
Geschlecht:männlichAnti-Lyriker


Beiträge: 734



Beitrag26.06.2009 13:19

von Michael
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Hallo nochmal,

in Sol Steins "über das Schreiben" steht es auf Seite 226 schwarz auf weiß:

Rückblenden in der selben Zeitform wie der Rest der Geschichte. In den meisten Fällen also im Präteritum. Er sagt, im PQP wirken Rückblenden unbeholfen.
 @murmel

Danke ... jemand meiner Meinung... Wink
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wallenstein
Eselsohr
W

Alter: 61
Beiträge: 331
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W
Beitrag26.06.2009 13:52

von wallenstein
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Michael hat Folgendes geschrieben:
Rückblenden in der selben Zeitform wie der Rest der Geschichte. In den meisten Fällen also im Präteritum. Er sagt, im PQP wirken Rückblenden unbeholfen.


Dieselbe Zeitform bezieht sich auf Präteritum --> Plusquamperfekt, bzw. Präsens --> Perfekt. Ich bin mir da ziemlich sicher Wink

Das Plusquamperfekt klingt wegen der "hattes" und "wars" so unbeholfen, das ist alles. Man kann sie vermeiden -- wie schon erwähnt, indem man das Scharnier aufbaut: ein, zwei Sätze im PQP, dann im Präteritum weitererzählen. Das Schluss-Scharnier braucht man meist nicht (ich meine, ich brauche es selten!), weil der Absatz ebenfalls einen Zeitsprung anzeigen kann. Da reicht also der Absatz am Ende.

Gegen die inflationären "hatte" behelfe ich mir oft, indem ich mit "sein" konjugiere, denn die "wars" hat man eher seltener:

Vorher:
Sie hatte ihn angesehen und lange geschwiegen. Er hatte nach eine Weile ...

Nachher:
Sie hatte ihn angesehen und lange geschwiegen. Er war nach eine Weile ...

Aber das ist hier nicht das Problem. Das Problem liegt darin, dass der Leser sich beim Lesen der Rückblende fragt: ist es nötig dies zu erfahren, ist es wichtig für die Jetzt-Erzählzeit?

Skye schreibt:

Zitat:
Philipp, ein gleichaltriger Junge mit einem Faible für das Quälen unschuldiger Ameisen, hatte nichtsahnend im Sandkasten gespielt, als ihn meine Mutter am Pulli hochgezogen hatte. Die Schimpftirade, die daraufhin gefolgt war, hatte sich mit dem Lärm einer nahe gelegen Baustelle vermischt und ich bezweifelte noch heute, dass der kleine Philipp verstanden hatte ...


Das ist zu sehr en bloc, das sieht man. Es benötigt eigentlich nur wenig, um es aufzulockern:

Zitat:
Philipp, ein gleichaltriger Junge mit einem Faible für das Quälen unschuldiger Ameisen, erinnerte ich mich, hatte damals nichtsahnend im Sandkasten gespielt. Puh, war meine Mutter wütend geworden! Sie zog ihn am Pulli hoch und die Schimpftirade, die darauf folgte, vermischte sich mit dem Lärm der nahe gelegen Baustelle. Ich habe es es heute noch im Ohr, aber ich bezweifle, dass der kleine Philipp damals verstanden hat.


Hier sieht man im dritten Satz das Scharnier. Am Ende wird sich in Gedanken herausgeschlichen, das sieht man am Präsens. Ich hoffe, die Rückblende verliert dadurch an Gewicht und sie behält über die ganze Erzählzeit ihre Verbindlichkeit in der Erzähgegenwart. Darauf kommt es an.

LG, wallenstein
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Skye
Gast






Beitrag24.09.2009 22:53

von Skye
Antworten mit Zitat

Hallo alle miteinander Wink

Entschuldigt meine lange Abwesenheit, ich war mit Abschlussprüfungen und Studium beschäftigt. Vielleicht könnt ihr das ja nachfühlen Wink

Ich habe eure Anmerkungen berücksichtigt und den ersten Text überarbeitet. Ich habe ihn hier ihn der neuen Fassung der Vollständigkeit halber nochmal in kursiver Form eingefügt. Der neue Teil, also das Ende von Kapitel 1 und das bisherige Kapitel 2 sind dann wieder normal.

Ich hoffe, dass euch das Lesen wieder ein wenig Unterhaltung bereitet und für Kritik wäre ich zutiefst dankbar Wink



Kapitel 1

Mir entfuhr ein genervter Zischlaut und stirnrunzelnd liess ich meinen Blick zum wiederholten Male durch die Halle des Flughafens streifen, um einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu machen. Ich ärgerte mich immer noch über meine Mutter, die einige Meter entfernt mit einem uniformierten Mann stritt. Sie schien nicht zu bemerken, dass sie die Aufmerksamkeit aller Leute um uns herum auf sich zog und das Ausmass an Peinlichkeit, das ich empfand, noch steigerte. Wild gestikulierend redete sie auf den Flughafenbeamten ein, der unter der Dominanz ihrer Statur und ihres Auftretens merklich zusammenschrumpfte und ein wenig zurückwich, um ihrem erhobenen Zeigefinger zu entkommen.
Kopfschüttelnd beschloss ich meine Strategie der puren Ignoranz weiter zu verfolgen und vergrösserte den Sicherheitsabstand noch ein wenig. Gedankenverloren schlenderte ich in Richtung eines Kiosks. Wenn es darum ging, ihre Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu blamieren, dann war meiner Mutter der erste Platz auf Lebzeit gesichert. Ich wusste nicht, ob ich ihr böse sein sollte. Schliesslich tat sie es nicht, um mir zu schaden. Trotzdem würden sich gewisse Dinge – meine Mutter eingeschlossen – niemals ändern.
Diese Erkenntnis hatte mich bereits im zarten Alter von sechs Jahren getroffen, als meine Mutter mit meinem flehenden und sich sträubenden jüngeren Selbst an der Hand auf den Spielplatz gestürmt kam. Philipp, ein gleichaltriger Junge mit einem Faible für das Quälen unschuldiger Ameisen, spielte nichtsahnend im Sandkasten, als ihn meine Mutter am Pulli hochgezogen hatte. Die Schimpftirade, die daraufhin folgte, vermischte sich mit dem Lärm einer nahe gelegen Baustelle und ich bezweifelte noch heute, dass der kleine Philipp verstanden hatte, weshalb sie ihm gerne den Hintern versohlen würde. Grundsätzlich hatte mich meine Mutter ja nur vor einem weiteren Angriff des Jungens schützen wollen. Natürlich schätzte ich es nicht, Sandkörner aus meinen langen Haaren zu klauben, doch weder Philipp noch ich hatten eine derartige Reaktion erwartet.
Statt mich also artig bei meiner Mutter für ihre tatkräftige Unterstützung zu bedanken, war ich mit knallroten Wangen den ganzen Weg nach Hause und in mein Zimmer gerannt, wo ich mich heulend vor Scham auf mein Bett geworfen und mich gefragt hatte, weshalb Gott mich auf solch gemeine Weise bestrafte.
In meiner Familie war Gott für alles verantwortlich. Aber er war nie an etwas Schuld. Diese Lehrgrundsätze waren mir schon mit der Muttermilch eingeflösst worden und waren für mich lange Zeit so selbstverständlich gewesen wie der sonntägliche Besuch in unserer Dorfkirche.

Ich drehte mich zur grossen Flughafenhalle um, um mich nach der momentanen Lage der Auseinandersetzung zu erkundigen. Es war schwer vorstellbar, dass diese Frau mit dem lauten Organ und dem strengen Blick zum zarten Lamm wurde, sobald es ans Tischgebet ging oder sie die Spitze eines Kirchturms erblickte. Es war schon erstaunlich mit welcher Anstrengung sie mich die christlichen Gebote von Geduld, Nächstenliebe und Toleranz gelehrt hatte, wenn sie als ein derartiges Vorbild voranging.
Ich ließ meine Mutter die Situation selbst klären, da ich sowieso nichts hätte dazu beitragen können, geschweige denn dürfen. Stattdessen schlenderte ich um die Stände mit Zeitschriften und Magazinen herum und betrachtete verstohlen die Titelblätter. Gelegentlich warf ich einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass ich nicht von meiner Mutter erwischt würde. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, der gerade eine verbotene Tat beging. Allerdings setzte meine Mutter diese „Schmuddelmagazine“ tatsächlich mit einem Diebstahl gleich. Sie hatte selbst eine Art Sündenskala kreiert. Nicht, dass ich anrüchige Erwachsenenliteratur kaufen würde. Auch Zeitschriften, die sich an Jugendliche richteten, bedeuteten in meiner Familie eine Art Sünde.
Da mir jedoch ein elfstündiger Flug bevorstand und sich in meinem Handgepäck lediglich eine Reisebibel und befand, schnappte ich mir die nächstbeste Frauenzeitschrift und huschte zur Kasse. Ungeduldig wartete ich bis die Frau dahinter den Preis eingelesen hatte, drückte ihr schnell ein paar Münzen in die Hand und entfernte mich, ohne auf das Rückgeld zu warten.
Ich schaffte es gerade noch zu meiner allein stehenden Tasche zu eilen und das Heftchen zu verstauen, bevor meine Mutter schnaufend und mit rot geflecktem Gesicht neben mir auftauchte.
„Was für ein unmöglicher Mensch! Ich dachte, der Kunde sei immer König? Na, wenn sie so einen König behandeln, ist es kein Wunder, dass die Monarchie gescheitert ist“, ereiferte sie sich.
Ich schwieg, setzte mich aber mit geschulterter Tasche in Bewegung, um endlich zum Gate zu gelangen und liess ihren Sermon weiterhin über mich ergehen.
„Ist es zu glauben, dass man einer besorgten Mutter einen angemessenen Schutz für ihre einzige Tochter verweigert? Ich will doch nur sicher gehen, dass mein Schatz heil ankommt! Ich werde mich schon ein ganzes Jahr lang nicht mehr um dich kümmern können!“ ‚Glücklicherweise’, dachte ich insgeheim und lächelte kurz. Sogleich setze ich jedoch wieder einen ernsten Gesichtsausdruck auf, da es meine Pflicht als Tochter war, den Blutdruck meiner Mutter wieder zu normalisieren.
„Maman, eine spezielle Betreuung während des Fluges steht nur Kindern zu. Versuch das bitte zu begreifen.“, beschwichtige ich sie.
„Du bist doch auch noch ein Kind, Kleines!“, entrüstete sich meine Mutter.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen und zum wiederholten Male sagte ich: „Nein, Maman. Ich bin achtzehn, also volljährig und eine Erwachsene. Nenn mich also bitte nicht mehr Kleines. Ich heisse Julienne.“
„Ach Kleines“, seufzte meine Mutter und strich mir übers Haar. „Nur weil das Gesetz glaubt, du seist erwachsen, bist du es noch lange nicht. Für mich wirst du immer mein kleines Mädchen bleiben.“
„Dein kleines Mädchen wird jetzt gleich ins Flugzeug steigen und für ein Jahr verschwinden.“, knirschte ich unwirsch.
Augenblicklich brach meine Mutter in Tränen aus. Manchmal fragte ich mich, ob diese Frau vielleicht schizophren war, so schnell änderte sich ihr Auftreten von aggressiv und beängstigend zu sanft und besorgt.
Ich wollte mir einen erneuten emotionalen Ausbruch in aller Öffentlichkeit ersparen. Die letzen Monate waren bereits ein Auf und Ab in der Gefühlsachterbahn gewesen und nebst den zahlreichen Vorbereitungen für meinen bevorstehenden Auslandsaufenthalt musste ich meine Mutter jeden Tag erneut von der Idee mich endlich in die ‚böse weite Welt’ zu entlassen, überzeugen. Ich hatte nicht die Geduld, auch noch heute darüber zu sprechen und wollte daher den Abschied so kurz als möglich gestalten, da wir schon auf dem Weg zum Flughafen angehalten hatten, damit meine Mutter ihre Tochter mit bereits feuchten Augen in die Arme schliessen konnte.


Unglücklicherweise teilte meine Mutter meine Ansicht nicht und versuchte den Abschied so lange wie möglich hinaus zu zögern. Ungeduldig beantwortete ich dieselben Fragen zum dritten Male und nach einem „Ja, Maman. Ich habe meine Zahnbürste wirklich dabei“ unterbrach ich ihre Redeschwall und sagte  mit fester Stimme, die hoffentlich keine Widerrede zuliess: „Die Fluggesellschaft hat mich schon ausgerufen. Ich gehe jetzt!“
„Aber chérie!“, rief meine Mutter aus. Ich liess sie jedoch nicht mehr zu Wort kommen, sondern umarmte sie und drückte ihr einen hastigen Kuss auf die Wange. Dann kehrte ich ihr rasch den Rücken zu und ging im Laufschritt durch die Passkontrolle. Einerseits spürte ich nicht das geringste Bedürfnis, meine Gastfamilie anzurufen und zu gestehen, dass ich meinen Flug verpasst hatte. Andererseits war ich mir nicht ganz sicher, ob ich den Anblick meiner weinenden Mutter ertragen konnte. Ich war schliesslich kein gefühlskalter Brocken. Mehr ein kleiner Kieselstein, der unendlich froh war, dass ihn der Wind endlich fort trug.
Trotzdem riskierte ich nach einigen Schritten einen Blick zurück. Meine Mutter stand da wie ein angeleinter Hund, den sein Besitzer im Regen vergessen hatte. Als sie meinen Blick sah, riss sie jedoch ihren Arm in die Luft, winkte und rief: „Ich ruf dich nachher an, ma petite!“
Mein Mitgefühl verschwand schlagartig und ich ging schnell weiter, um bloss keine Verbindung zu dieser Person vermuten zu lassen. Nun musste ich mich erst einmal darum kümmern, in das Flugzeug zu steigen, bevor sie es wegen verdächtigen Koffern, deren Besitzerin nicht an Bord war, evakuierten.

Knappe sieben Minuten später quetschte ich mich an zwei anderen Passagieren vorbei, um zu meinem Fensterplatz zu gelangen. Mein entschuldigendes Lächeln wurde nicht erwidert. Es trafen mich lediglich finstere Blicke, weil sich der Abflug wegen mir um eine gute Viertelstunde verschoben hatte. Ich gab mein Bestes, mir dadurch nicht die Aussicht auf zwölf sorgenfreie und interessante Monate verderben zu lassen. Stattdessen liess ich mich in meinen Sitz gleiten, streckte die Füsse unter den vorderen Sitz und widmete mich mit einem Gefühl des Triumphs und einer Spur Schadenfreude meinen brisanten Schmuddelheftchen. Ich war fest entschlossen, dies zum grössten Abenteuer meines Lebens zu machen.




Kapitel 2


Der Flug war definitiv ein Abenteuer. Ich war nicht zum ersten Mal in der Luft und wurde auch nicht von pessimistischen Gedanken an die Möglichkeit eines bevorstehenden Todes verfolgt. Somit hatte ich mir auch nichts dabei gedacht, als das Flugzeug ein wenig ruckelte und ich hatte auch keinen Angstanfall und begann zu hyperventilieren wie meine gut fünfzigjährige Sitznachbarin. Mir wurde es erst ein wenig mulmig, als das Rütteln noch intensiver wurde und wir vom Piloten gebeten wurden, aufgrund heftiger Turbulenzen die Sitzgurte anzulegen. Danach war ich gut vierzig Minuten dem Angstschweiss und den Fingernägeln der Frau neben mir ausgesetzt.

Nach knapp elft Stunden verliess ich mit Kratzspurens so tief wie die Sorgenfalten auf dem Gesicht meiner Mutter, aber immerhin noch lebend das Flugzeug. Wir wurden durch einen langen Durchgang geschleust und da meine Orientierung etwa der eines Maulwurfs an der Erdoberfläche entspricht, mischte ich mich unter die anderen Flugpassagiere und liess mich von ihnen zur Passkontrolle treiben – oder besser gesagt ans Ende der geschätzten drei Kilometer langen Schlange davor.
Wir bewegten uns mit einer Geschwindigkeit von 20 m/h vorwärts und nach gut achtzig Minuten wurde ich von einem finster dreinblickenden Wachmann einem ebenso finster dreinblickendem Passkontrolleur zugewiesen, der in einem Häuschen hinter einer Glasscheibe sass. Froh, dass ich die Warterei hinter mit hatte, begrüsste ich ihn mit einem übertrieben freundlichen „Good afternoon!“
Der Beamte liess sich nicht einmal dazu herab, mir darauf zu antworten. Stattdessen ging er einfach sein Protokoll durch und ich beantwortete ihm all seine Fragen nach der Dauer und dem Grund meines Aufenthaltes. Er überprüfte meinen Pass und mein Visum ganze drei Mal, bevor er ihn mir zurückschob. Zum Schluss musste ich noch dem Staate USA meine Fingerabdrücke preisgeben und ein verwirrtes Erinnerungsfoto schiessen.
Nach diesem Prozedere, das wohl Terroristen abschrecken sollte, nickte der Beamte und es dauerte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass er mich nicht für eine Attentäterin hielt und ich entlassen war.

Ich leistete dem nur zu gerne Folge und machte mich eilends auf, mein Gepäck zu suchen. Ich war zwar keine Terroristin, aber dennoch in einer Mission unterwegs. Schliesslich musste ich die nächsten zwölf Monate die beiden mir anvertrauten Kinder von gefährlichen Videospielen und zu viel Schokolade fernhalten – eine Arbeit, die gehörig unterschätzt wird und mit der nicht zu spassen ist.


Die Empfangshalle, die auf die Gepäcksausgabe und den Zoll folgte, erinnerte mich stark an das Fussballstadion in meiner Stadt, das ja doch an die fünfzigtausend Zuschauer fasst. Ich hatte mal mit meiner Bibelgruppe ein Spiel dort besucht. Naja, eigentlich waren es einige aus meiner Klasse und ich, während die Bibelgruppe in einem heissen Schulzimmer in einem Kreis sass und sie sich gegenseitig Stellen aus dem heiligen Buch vorlasen. Die Mitglieder trafen sich jeden Mittwochnachmittag zu zweistündigem „Gesang und Beten“, wie es auf dem Flyer zu lesen war. Das waren dann auch immer die Worte, mit denen ich meiner Mutter auf die Frage „Und was habt ihr heute in der Bibelstunde gemacht?“ antwortete. Was an dem freien Nachmittag in dem besagten Schulzimmer genau vor sich ging, konnte ich natürlich nicht genauer beantworten, da ich nur durch meine Abwesenheit glänzte. Von Zeit zu Zeit spürte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, wenn ich nach der vermeintlichen Bibelstunde nach Hause kam und ich stellte irgendwann verdutzt fest, dass es wohl das schlechte Gewissen war, das mich anstupste. Ich ignorierte dieses merkwürdige Gefühl jedoch zugunsten der so frei gestaltbaren Nachmittage, an denen ich ein Leben wie das meiner Freunde führen konnte.

Bei dem Gedanken an die vor mir liegenden, frei gestaltbaren Tage – oder eher Monaten – wurde ich vom amerikanischen Geist der Freiheit erfasst und ich verstand voll und ganz, weshalb immer vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ gesprochen wurde. Scheinbar war ich aber nicht die einzige, die es auf der Suche nach Freiheit nach Übersee zog. Der Anblick der vielen Menschen in der Empfangshalle liessen mich abrupt stehen bleiben. Fasziniert beobachtete ich all die Menschen aus verschiedensten Ländern mit monströsen Koffern, die in einer Vielzahl von Sprachen zu einem Gemisch von Farben und Geräuschen verschmolzen. Irgendwo bellte ein Hund, den Frauchen nicht zu Hause hatte lassen wollen und mehre Babys schrieen und weinten, welche die Eltern nicht zu Hause hatten lassen können. Die ganze Szene erinnerte mich an meinen ersten Waldausflug mit der Jugendkirche, bei welchem ich in einen Ameisenhügel getreten war und zuerst einige Sekunden verwundert an meinem Bein hinunter auf die geschäftigen Tierchen geblickt hatte. Kurz darauf fing jedoch die Gruppenleiterin zu schreien an und riss mich grob am Arm weg, woraufhin ich ebenfalls meine Stimmbänder voll auszureizen begann. Schlussendlich sass die gute Frau schluchzend auf dem Waldboden und versuchte die zehn teils weinenden, teils schreienden Kinder zu betreuen. Das war auch mein einziger Abstecher in einen Wald.

Nachdem ich das Treiben eine Zeit lang beobachtet hatte, fiel mir plötzlich ein, dass meine Gastfamilie wohl schon sehnsüchtigst auf mich warten würde und es an mir lag, sie nun möglichst schnell zu finden. Das konnte ja nicht so schwer sein. Schliesslich mussten sie irgendwo hier in diesem Fussballstadion sein, was die Sache schon erheblich eingrenzte.


Es dauerte eine Weile, bis ich mich mit meinem Rollkoffer, in welchem übrigens mühelos zwei ausgewachsene Labradorhunde Platz gehabt hätten, durch die Menschenmenge gekämpft hatte. Ich schätzte meine Chancen am Rande des Auflaufs deutlich höher ein und nun sah ich auch schon, dass vor dem Ausgang knapp zwanzig Menschen mit Schildern in der Hand auf bestimmte Passagiere warteten. Über die Hälfte waren deutlich als Chauffeure auszumachen und bei dem Gedanken an den breiten Rücksitz einer Limousine hüpfte mein Herz. Daher steuerte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf die Männer in dunkelgrau bis schwarz zu und versuchte meinen Namen auf einem der weissen Pappschilder auszumachen. Unglücklicherweise wusste ich mit Gewissheit, dass ich nicht Mrs. Schmitt, geschweige denn Mr. Thornton war.
Gerade als mich diese schmerzliche Erkenntnis traf, tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich nach rechts und blickte in zwei grosse, dunkelgrüne Kulleraugen. Schnell vergrösserte ich die Distanz und sah nun, dass die Augen zu dem Gesicht einer etwas stämmigeren Frau Mitte vierzig gehörten. Sie trug ein beigefarbene Stoffhosen mit einem passenden Blazer dazu. Die schwarzen Absatzschuhe glänzten, ebenso wie ihr gesamtes Äusseres. Durch die ungewollte Nähe zu Beginn war mir das ziemlich unprofessionell aufgetragene Make-up aufgefallen. Scheinbar hatte sie sich selbst an der Wimperntusche versucht und es irgendwie geschafft, die Hälfte ihrer Wimpern zusammen zu kleben. An ihren Zähnen, die durch das breite Lächeln hervorblitzten, klebte noch ein Rest des knallroten Lippenstiftes, Marke Dior. Ihre hohe Stimme riss mich aus meinen Beobachtungen.
„Darling! Du bist Julienne, richtig? Ich habe dich gleich erkannt!“
Sie drückte mich an sich und ich bekam ihre volle Weiblichkeit in einer Umarmung zu spüren. Dann hielt sich mich auf Armlänge von sich weg, begutachtete mich von oben bis unten und stellte schliesslich fest:
„Du bist ja sogar noch hübscher als auf den Fotos! Ach, was haben wir für ein Glück ein solch tolles Mädchen bekommen zu haben!“
Ich war einige Augenblicke sprachlos angesichts dieser geballten Ladung an Fröhlichkeit in einer Person.
„Sie können mich Julie nennen“, war alles, was mir einfiel.
„Ich bin Francine Miller, meine Liebe. Und das“, sie streckte den Arm aus, um an einem Ärmel zu ziehen.
„-ist mein Mann Steven.“
Der Ärmel führte zu einem schmächtigen Mann in einem grün karierten Pullover und hellbraunen Leinenhosen. Mit seiner Brille und dem Rest an hellem Haar, das ihm noch geblieben war, stand er in starkem Kontrast zu seiner Frau, die ihre kastanienrot gefärbten, schulterlangen Haare bei jeder Bewegung um sich warf. Ich ahnte, wer in dieser Beziehung die Hosen anhatte. Und auf diesen Hosen befanden sich bestimmt keine Flecken. Mein Blick wurde für eine winzige Sekunde von dem rötlichen-braunen Punkt auf dem einen Hosenbein angezogen; ich wandte mich jedoch gleich wieder meinen neuen Gasteltern zu. Scheinbar hatte ich allerdings eine Millisekunde zu lange darauf geblickt, denn Francine Miller war meinen Augen gefolgt und ich hatte den Eindruck, als würde sie sich vor meinen Augen aufplustern.
„Steven! Sieh dich mal an, du hast schon wieder gekleckert. Ich wusste gleich, dass dieser Smoothie keine gute Idee ist. Du bist schlimmer als die Kinder!“, schimpfte sie.

Erst jetzt fielen mir drei weitere Personen auf, die still und reglos hinter ihren Eltern standen: die Miller-Kinder. Bei ihrem Anblick klappte mir nun endgültig der Mund auf. Etwas Ähnliches hatte ich einmal in einem Film über die britische Königsfamilie gesehen. Diese Kinder hier waren wohl von der Queen höchstpersönlich eingekleidet und erzogen worden.
Ich erinnerte mich an die Portraitfotos der Kinder aus den Unterlagen und versuchte mich an ihre Namen zu erinnern. Das einzige Mädchen der Millers war die zehnjährige Fee. Der Name war ja in Verbindung mit ihrem Auftreten nicht schwer einzuprägen. Sie trug eines dieser süssen, geblümten Kleinmädchenkleider und in ihren langen blonden Barbiehaaren steckte ein Haarreif mit Schleife. Ein Wunder, dass ihre Mitmenschen bei ihrem Anblick nicht an einer Zuckerüberdosis starben.
Die beiden Miller-Söhne wirkten da schon ganz anders, selbst wenn ich ein solches Verhalten und Äusseres von anderen Jungen nicht gewöhnt war. Der Grössere der beiden glatt gegelten Blondschöpfe musste der zwölfjährige Nicholas sein. Neben ihm lächelte mir der sechsjährige Mike brav entgegen.

Um die peinliche Situation um die befleckte Hose zu umgehen und Ausdrücke wie „kleines Dreckschweinchen“ aus meinem Erinnerungsspeicher zu löschen, beugte ich mich ein wenig hinunter, um mit Fee auf einer Augenhöhe zu sein und sagte übertrieben freundlich:
„Hallo! Ich bin Julie, euer neues AuPair! Du bist bestimmt Fee, nicht wahr?“
Die Kleine warf zuerst einen fragenden Blick in Richtung ihrer Eltern und ich fragte mich, ob sie mich für verrückt hielt, weil sie ja ganz offensichtlich die einzige Tochter hier war. Dann setzte sie jedoch ein Lächeln auf und streckte mir ihre kleine Hand entgegen. Ich hatte kaum Zeit, mir ein Urteil über ihre winzigen, jedoch bereits manikürten und mit Blümchen bemalten Fingernägel zu bilden, als sie Mrs. Miller wieder zu Wort meldete.
„Oh wie schön, dass ihr euch so gut versteht!“, rief sie entzückt. „Das da sind meine Söhne Mike und Nicholas.“
„Hi“, murmelten beide synchron. Wäre Nicholas nicht zwei Köpfe grösser gewesen, hätten mich die beiden stark an die Zwillinge aus Harry Potter erinnert.



Skye
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