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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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07.05.2009 11:08 Schreibübung: Automatisches Schreiben/Euer ABC und ACDExtrem von Jocelyn
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Wo, wenn nicht hier?
Wann, wenn nicht jetzt?
Wer, wenn nicht wir?
(Jüdische Weisheit)
Sophie ließ das Zuviel an Farbe in den Eimer zurücklaufen, ein rote sich verjüngende Spur, die nach einigen wenigen Sekunden abriss. Ob sie doch zu flüssig geworden war für ihre spontane Idee? Unweigerlich würde sie tropfen, und sie würde einige Zeit brauchen, die Dielen von den vielleicht schon teilweise angetrockneten Spritzern und Klecksen zu befreien. Wenigstens war's Acrylfarbe. “Jetzt oder nie”, hauchte sie, die Stimme bebend, hob den nassen Pinsel und malte den ersten Buchstaben an die lange, leere, weiße Wand:
W
wie “Warum”. Spontan dachte sie an diesen Song aus dem Kinderprogramm: “Wieso, Weshalb, Warum?” Ja, darüber könnte sie ewig nachdenken, warum passierte ihr das immer? Warum hatte sie diesen mit ihr klebrig gewordenen Alltag und keinen anderen?
Oder gab es auch ein “Warum nicht?”
Aber weiter:
ein I, ein R.
Hatten sie es noch? Oder war es schon verloren? Konnten sie es, wenn nicht, wiederbeleben? Oder nur irgendwo draußen, auf der Flucht vom Hier? Wieviele Versuche hatte sie schon gestartet, um es zu erhalten. Dabei wäre es für den Rest der “Mannschaft” doch ein Leichtes gewesen, sie hätten nur mal “Ja” sagen brauchen. Einfach nur mal Mitmachen. Oder hatte sie selbst zu wenig Lust dazu gehabt? Zu wenig investiert? Ein
S.
Vom unterem Rand lief eine rote Nase, sich schlängelnd durch die Rauhfaser bis zur zwingend eintretenen Bewegungslosigkeit. Stillstand.
So. So ist es also im Moment. Bestandsaufnahme. Hier steh ich nun. Danach wieder ein
I,
dann ein
N, D.
Dasein. Hineingeworfen irgendwann. Hatte sie danach verlangt? Kein Entscheidungsspielraum. Aber war es nicht auch wunderbar? Dieses tägliche Sich-selbst-spüren, dieses “Die-Morgenluft-Atmen”, dieser treue Schlag ihres Herzens, weiter, immer weiter, ohne Unterlass, einfach da. Leben, oh wie schön, sie wollte es festhalten. Egal wie?
D, I, E.
Sophie musste innerlich grinsen. Immer wieder hatte sie Freude an ihren unendlichen Assoziationen, manchen Menschen einfach zu skurril. Einfach zum Kichern, dieses: “Ist es die da, oder die da? Oder etwa die da?”
Sophie tauchte den Pinsel wieder in den Farbtopf, voller Elan. Jetzt war sie im Fieber, voller Spaß an ihrer Kinderei. Was sollte es sonst sein, wenn sie mit ihren über 30 Jahren noch so einen Quatsch veranstaltete? Wände beschmieren mit Buchstaben, das war doch nur das Ding von missratenen Teenager! Egal, Spaß muss sein, weitermachen. Schon wieder ein
S.
So, so. So simpel. So stupide. So selbstverliebt. So suchend. So sonderbar?
Der Wandabschnitt war fast zur Hälfte bepinselt, wollte sie den Satz noch in seiner Gänze vor der nächsten Tür hinbringen, dann musste sie ab jetzt sparsamer mit ihrem Platz umgehen. Folgte also in Enge ein
U.
Uuuhuhuhu, unglücklich, unerfüllt, unverstanden.
Unmissverständlich?
Ja, das war wichtig, Klarheit, sie wollte ab heute alles beim Namen nennen, Schluss mit dem verpfuschten Leben! Wahrheit, ehrlich sein, jeden Tag voller Hoffnung und Optimismus weitergehen. Hartnäckig, konsequent. Sollten die anderen sie nicht verstehen, sollten sie doch, was sollte sie es kümmern?
M, M.
Ne,ne, natürlich nicht prickelnd, unwillkürlich musste Sophie laut lachen. Nein, das war hier leider bitterernst, ohne Schwips.
Mama. Sie Mutter, dann ihre Mutter. Mutter in zwei Richtungen, schwierig. Sie hatte sich vorgenommen, es besser zu machen als sie, war sie es? Hatte sie da jemals eine echte Chance gehabt? Oder war sie gefangen in dem Ergebnis ihrer selbst zuteil gewordenen Erziehung? Würden ihre Kinder mal sagen können:”Ja, ich hatte eine glückliche Kindheit?” Immerhin, sie versuchte es. Immerhin, sie hatte es im Auge. Und immerhin, sie sah auch Freude in ihren Augen, wenn auch nicht jeden Tag. Der letzte Buchstabe des Wortes, ein
E.
Zwei plus zwei gleich 4. Summanden. Ihre Eltern. Sie und ihr Mann.
Sie und ihr Arbeitsplatz. Sie und der Haushalt. Sie und die Uhr. Wer weiß schon, was alles noch? Ihr Menstrutionszyklus? Die Worte der anderen? Oder ihr Schweigen?
Der Mond, der Sonnenschein, der Wind? Der Himmel? Gott? Welcher Summand ist am Ende da? Unweigerlich würde es jeder mal erfahren, wenn die Zeit gekommen war.
Sophie hastete vom Flur in die Küche und warf einen Blick auf die Wanduhr, oh je! Ja, sie musste schneller machen, die Kinder würden in einer knappen Stunde aus der Schule zurückkommen, und bis dahin wollte sie ja eigentlich schon längst mit dem Renovieren im Flur begonnen haben. Wenigstens den peinlichen Satz musste sie bis dahin übermalt bekommen, sonst würde sie viele neugierige Fragen beantworten müssen. Unangenehme, eventuell welche, die keinen Platz im vorsätzlich sorglos geführten Alltag hatten. Ganz abgesehen von dem Mittagessen, das aufgewärmt werden musste. Also rasch ein
U,N,S,E,R,E,R.
Was gehört uns? Gehört uns überhaupt etwas? War nicht alles vergänglich? Warum halten wir so vieles fest? Im Irrglauben, nichts verlieren zu können?
Aber wenn nicht, was dann? Das wäre dann kein angenehmes Leben mehr, wir würden mit leeren Händen dastehen. So arm, wie es in unser Wohnzimmer tagtäglich aus der Fremde flimmert.
Und wo bliebe der Genuss? Die Leichtigkeit? Diese Freude am Haben? Nicht zuletzt die Freude am Teilen, “uns”, unser gemeinsamer Besitz. Geschenkt von mir zu dir, von dir zu mir.
UNSERE ERDE. Unsere Verantwortung gegenüber dem Verlust des Wertvollsten, dessen was wir unbedingt schützen müssen.
Das letzte Wort würde lang werden, Sophie entschied sich einfach eine zweite Zeile anzufangen, was sollte diese erzwungene Ästhetik, gleich würde sie sowieso alles mit der breiten Rolle übermalen.
Aber war es richtig? War es nicht notwendig, über diese Fragen gemeinschaftlich nachzudenken? Sollte sie nicht mal die Erfahrungen der anderen mit diesem flammenden Satz herauskitzeln? Ihn lesbar lassen für jeden, der reinkäme? Würden dann nicht echte Gespräche entstehen, nicht nur über das Wetter, die nächste Reise oder Kochrezepte?
Später, später vielleicht, das kann man erstmal aufschieben, nicht mehr heute! Für heute hatte sie schon jetzt eigentlich die Nase voll vom Vor-sich-selbst-hin-philosophieren. Die Begeisterung verließ sie, aber das letzte Wort weglassen, das wäre ja Frevel. Sophie schrieb also mit ihrem frisch getauchtem Pinsel ein
E,N.
Ende, ja alles geht auch mal vorbei, damit etwas Neues erwachen kann. Wie schrecklich die Vorstellung, wenn es kein Ende gäbe. Keinen Neuanfang. Unwillkürlich dachte Sophie an ihre krebskranke Tante, die nie mehr gesund werden würde, bis zum Tode zu Schmerzen und sich wiederholenden Krankenhausaufenthalten verurteilt, nur ein einziges Ende immer in ihrem Blickpunkt,
T, wie Tod.
Puuh, jetzt bloß nicht in Trübsal verfallen, der Tag ist doch noch lang. Gleich hatte sie es geschafft.
S,C,H,E,I.
Scheiße, schon halb eins! Beeilung!
D,U,N,G,E,N.
Da, endlich, genüsslich setzte sie den Punkt, der fast so groß wie eine reife Strauchtomate wurde. Aber dieses Kreisen des Pinsels, das hatte ihr soviel Spaß gemacht, eine bloße Genugtuung. Fertig!
Stolz stellte sich Sophie vor ihr Werk, sie würde doch zuerst das Essen zubereiten müssen.
Und sie entschied, den Satz erstmal 2 Tage stehen zu lassen. Übermalen konnte sie ihn ja immernoch. Jederzeit.
PS: Kleiner Witz am Rande: Ich konnte nur schwer entscheiden, zu welcher Schreibübung dieser heute morgen geschriebene Text am besten passen würde, "Sinn des Lebens","Verpfuschtes Leben" und "Unbekannt" wären auch noch möglich gewesen.
Ich hoffe, ihr hattet Freude beim Lesen, Caecilia
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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Telani Leseratte
Alter: 37 Beiträge: 174
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07.05.2009 11:41
von Telani
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Hallo Caecilia!
Also mir gefällt die Schreibübung an sich äußerst gut, Gedankenwälzen kann so ein Spass sein.
Deine Geschichte ist wirklich schön zu lesen, besonders gut gefällt mir dieser Teil:
Zitat: | Mama. Sie Mutter, dann ihre Mutter. Mutter in zwei Richtungen, schwierig. Sie hatte sich vorgenommen, es besser zu machen als sie, war sie es? Hatte sie da jemals eine echte Chance gehabt? Oder war sie gefangen in dem Ergebnis ihrer selbst zuteil gewordenen Erziehung? Würden ihre Kinder mal sagen können:”Ja, ich hatte eine glückliche Kindheit?” Immerhin, sie versuchte es. Immerhin, sie hatte es im Auge. Und immerhin, sie sah auch Freude in ihren Augen, wenn auch nicht jeden Tag. Der letzte Buchstabe des Wortes, ein
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und auch das hier ist sehr gelungen:
Zitat: | Aber war es richtig? War es nicht notwendig, über diese Fragen gemeinschaftlich nachzudenken? Sollte sie nicht mal die Erfahrungen der anderen mit diesem flammenden Satz herauskitzeln? Ihn lesbar lassen für jeden, der reinkäme? Würden dann nicht echte Gespräche entstehen, nicht nur über das Wetter, die nächste Reise oder Kochrezepte? |
man bekommt hier so ein schönes Gefühl, Lust dazu den "Hamsterrad-Alltag" zu durchbrechen und nicht nur die üblichen Gesprächsfloskeln auszutauschen! Die Gedanken einer Mutter über das Wohlergehen ihrer Kinder und die Wiederholung eines selbst erlebten Erziehungsstils haben mich einfach berührt.
Zu bekriteln gibts nur ein kleiner, kaum auffallender Satz am Anfang:
Zitat: | Warum hatte sie diesen mit ihr klebrig gewordenen Alltag und keinen anderen? |
der klebrig gewordene Alltag, wie ist das gemeint? Ist der Alltag zäh geworden, klebt der zähe Alltag an ihr und lässt sie nicht mehr gehen? Hier habe ich persönlich Verständnisprobleme.
Aber sonst, wirklich schön geschrieben. Habe ich sehr gerne gelesen.
LG Telani
_________________ Die Wirklichkeit ist ein zerbrochener Spiegel! |
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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07.05.2009 14:05 Re: Schreibübung: Automatisches Schreiben/Euer ABC und ACDEx von Jocelyn
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Hallo Telani,
oh wie ich mich freue, dass dir mein Text gefällt, danke!!!
Caecilia hat Folgendes geschrieben: |
wie “Warum”. Spontan dachte sie an diesen Song aus dem Kinderprogramm: “Wieso, Weshalb, Warum?” Ja, darüber könnte sie ewig nachdenken, warum passierte ihr das immer? Warum hatte sie diesen mit ihr klebrig gewordenen Alltag und keinen anderen?
Oder gab es auch ein “Warum nicht?”
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Zitat: | Ist der Alltag zäh geworden, klebt der zähe Alltag an ihr und lässt sie nicht mehr gehen? Hier habe ich persönlich Verständnisprobleme. |
Ja, also du sprichst da ein wirklich schwer lastendes Problem an. Wobei auch dieses "Warum nicht?" keinenfalls überlesen werden darf.
Mein persönliches Problem sind meine breiten Interessen, und, wenn man sie so bezeichnen kann, Begabungen.
Da ist der Alltag, damit meine ich einerseits häusliche und berufliche Verpflichtungen, Verantwortungen wie ein Klebstoff, oder auch Magnet, der mich nicht so machen lässt, wie ich es gerne würde. Genauso klebe ich, wenn ich gerade in meinen kreativen Tätigkeiten bin, die andere Seite des Alltags auch darin fest, möchte nicht von lassen. Und: am Ende soll natürlich alles noch gut sein, ein schlechtes Ergebnis würde ich nicht wollen.
Tja, und der Tag hat nun mal nur 24 Stunden.
Wie gesagt, sehr bewusst habe ich auch noch diesen "Warum nicht?"-Satz eingesetzt. Denn: wenn man in jedem Tun ganz und gar aufgeht, dann wird das "Was" auch wieder relativ, versuche ich mir immer einzureden... Aber dazu kann ich, als Mensch, mich nicht immer herauf- oder hinab- (Wie du es willst) lassen.
Kannst du das verstehen, was ich meine?
Caecilia
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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Telani Leseratte
Alter: 37 Beiträge: 174
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07.05.2009 14:38
von Telani
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Ja sehr gut danke! Jetzt ist mir alles klar nach deiner Erklärung. Und wer kennt das schreckliche Gefühl nicht von seinem Alltag immer inhaftiert zu werden
LG Telani
_________________ Die Wirklichkeit ist ein zerbrochener Spiegel! |
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