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Telani Leseratte
Alter: 37 Beiträge: 174
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02.05.2009 21:17 Übung: fremdes Tagebuch von Telani
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Diese Geschichte ist eine kleine Variation der Schreibübung fremdes Tagebuch. Ich bitte wie immer um fleißige Kritik.
Da lag es vor mir, abgegriffen, die Farben verblasst, ein Geruch nach Moder. Lange, unbeschreiblich lange überlegte ich mir ob ich es nun tatsächlich in meine Hände nehmen und die verborgenen Zeilen lesen sollte. War es denn richtig dies fremde Gedankengut zu durchstöbern, lang vergangene intime Erlebnisse und Gefühle vor meinen Augen zu entblößen? Ich wusste es nicht, doch schon spürte ich den rauen Buchumschlag in meiner Hand, atmete tief ein mit geschlossenen Augen und wagte es.
Die Ränder der Blätter waren bekleckert und mit Fingerabdrücken überseht, es brachte mir ein spontanes Lächeln über die Lippen. Nun da dieses geheimnisvolle Buch offen in meinen Händen lag verstummten die grässlichen Stimmen meines klagenden Gewissens. Ein letztes Mal blickte ich zur Tür, die einen Spalt breit geöffnet war und begann zu lesen.
„Heute in Mathe hat Jonas zu mir rüber geguckt, gleich aber wieder weggeschaut als er mich bemerkte.“ las ich stumm in meinen Gedanken, wieder zauberte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Worte geschmiedet von unschuldigen Kinderherzen, Worte die mich in den Bann zogen und die anfängliche Unsicherheit vergessen ließen. Ich lehnte mich gegen die kühle Wand und blätterte Seite für Seite gespannt lesend um.
„Jonas hat Doris eine Blume geschenkt. Ich will nicht mehr leben.“ las ich 13 Seiten weiter und ein lautes Lachen drang aus meiner Kehle. Nun hielt ich eine Weile inne und blickte zum Fenster hinaus. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit kamen unwillkürlich in meinen Sinn. Die erste große Liebe, ein Fußballspieler aus meiner Klasse als ich noch keine neun Jahre zählte, hielt meine Aufmerksamkeit für Monate gefangen. Jede seiner Gesten hatte ich bewertet, galt sie mir, galt sie einer Anderen, war sie mit Absicht gewählt worden? Wo sind die Zeiten bloß geblieben? Begraben in meinem mit Falten durchzogenem Gesicht, in meinem Herzen, das viele Narben zählt. In der Jugend jedoch scheint die zurückgewiesene Liebe noch mehr als Armut und Furcht um sein Leben ein Herz zu belasten.
„Doris ist umgezogen und Jonas ist so wie immer. Er ist gar nicht traurig, wahrscheinlich mag er doch mich mehr als sie.“ stand einige Monate später mit großen runden Lettern dort geschrieben, doch mein Herz jubilierte nicht mehr. Wäre doch eine enttäuschte Liebe das schwerste Schicksal im Leben eines Menschen. Ich entschloss meines schweren Herzen wegen das Buch beiseite zu legen, ich vermochte es nicht mehr die Zeilen weiter zu lesen, zu sehr schmerzten mich die Erinnerung an vergangene Tage.
Einige Tage lag nun das Buch unangetastet in meiner verschließbaren Schreibtischschublade, jeden Gedanken daran hatte ich mit Bemühen bekämpft. Doch nun als mein Herz erneut Ruhe gefunden hatte, entschloss ich mich vor der Wahrheit nicht länger fortzulaufen. Ich musste weiter lesen.
So schlug ich das Buch exakt an der Stelle die ich zuletzt gelesen hatte auf und begann mich erneut darin zu vertiefen. Nicht viel später perlten Tränen aus meinen Augen, kullerten sanft über meine Wangen und landeten lautlos auf den vergilbten Seiten.
„Heute haben die strengen Männer in den Uniformen Jonas abgeholt. Als ich weinend zu Mama gelaufen bin und ihr gesagt habe, wie böse die Männer zu Jonas und seiner Familie waren, hat sie mich fest umarmt und gesagt sie würde mit mir in der Kirche für Jonas und seine Familie beten.“
Mein Schluchzen wird lauter, ich klammere meine Hände in die Armlehne und streiche mir das salzige Nass von den Wangen. Ein fremder Mensch, dies sind die Zeilen eines anderen Menschen, lange Zeit war dies mein Schutz vor der grausamen Wahrheit. Doch nun nach langen Lebensjahren muss ich bekennen, dass dieser fremde Mensch ich und einzig ich bin.
„20.09.1940
Liebes Tagebuch!
Ich bin sehr, sehr traurig. Heute ist ein komischer Mann gekommen und hat meiner Mama einen Brief gegeben. Sie hat ihn gelesen und hat sich dann in ihr Zimmer eingesperrt. Später hat sie mich dann wieder so fest umarmt wie an dem Tag als sie Jonas geholt haben. Ihre Augen waren so rot vom vielen Weinen. Sie hat mir gesagt, dass Papa nicht wiederkommen wird, dass er jetzt im Himmel ist. Vor drei Monaten hat er mir noch versprochen, dass er wiederkommen wird aus diesem Land mit dem komischen Namen, Polen glaub ich. Aber er kommt nicht mehr und ich muss weinen liebes Tagebuch und gestern ist mein Bruder auch gegangen. Jetzt hab ich so große Angst, dass er auch nicht mehr nach Hause kommt.“
_________________ Die Wirklichkeit ist ein zerbrochener Spiegel! |
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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03.05.2009 09:01
von Jocelyn
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Hallo Telani,
ich finde nichts, das ist perfekt.
Hat mir supergut gefallen.
Caecilia
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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Telani Leseratte
Alter: 37 Beiträge: 174
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03.05.2009 10:44
von Telani
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Oh danke danke! Das freut mich!
LG Telani!
_________________ Die Wirklichkeit ist ein zerbrochener Spiegel! |
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