Nur ein Frisierumhang?

[Lara]

Meine Kindheit war geprägt von Bombenangriffen, Sirenen und Luftschutzkellern. Dazu kam, dass meine Mutter und ich mehrmals aus dem Ruhrgebiet evakuiert wurden. Ich hatte kaum genug Zeit, Freundschaften zu schließen, und Spielsachen waren rar. So entwickelte ich viel Phantasie, und manche alltäglichen Dinge erhielten bei meinem Spiel eine ganz andere Bedeutung.

Mein Lieblingsspielzeug war ein silbernes Tablett mit passendem Milchkännchen und einer Zuckerdose. Sobald diese "Kostbarkeiten" auf dem Tisch standen, trank ich als Prinzessin  mit meiner Hofdame Käthe (Puppe) und meinem Freund Adolf(Teddy). Meine Mutter tat ein Übriges: Sie besaß ein unerschöpfliches Reservoir an Geschichten und Liedern. Mich regte sie an, mir auch Geschichten auszudenken. So saßen wir oft abends zusammen, erzählten und vergaßen unsere Ängste.

Als der Krieg zu Ende war, kehrten wir zurück ins Ruhrgebiet. Unser Haus stand nicht mehr,und mein Vater war in   Gefangenschaft  Meine Großeltern in Dortmund besorgten uns ein möbliertes Zimmer und luden uns immer zum Essen ein. So war ich oft dort und durfte in Omas alter Kleidertruhe stöbern. Das war ein unerschöpflicher Quell für Phantasiereisen!

Ein rosafarbener Voile-Umhang von Goldfäden durchzogen, faszinierte mich am meisten. Meine Großmutter legte ihn über die Schultern, bevor sie sich kämmte. Ich sah ihr gerne dabei zu und zählte die Bürstenstriche: Genau einhundert Mal fuhr sie durch ihr weißes Haar!

Mit diesem kostbaren Stück spielte ich mich in die Ballett-Welt: Ich zog meine Sachen aus und legte den Umhang als Röckchen um. Mit gelösten Zöpfen stand ich vor dem Schneider-Spiegel und fand mich als Ballerina wunderschön. Mein Opa hatte mir erlaubt seinen Plattenspieler anzustellen, auf dem die einzige heile Schallplatte aus seiner Sammlung lag. Man konnte nach dem Titel nur bedingt tanzen, doch eine Ballerina schafft das!

So erklang dann die traurige Melodie von Opas Lieblingslied: „Es steht ein Soldat am Wolga-Strand“. Eine tragische Geschichte aus dem 1.Weltkrieg. Und die Ballerina schwebte über die Bühne, während ihr vor Mitleid mit dem armen, einsamen Mann die Tränen über die Wangen liefen. „Hast du dort oben vergessen auch mich…“ Sie tanzte nur für ihn, bis das Lied verklungen war. Sie war  erschöpft und glücklich, das Publikum applaudierte begeistert und rief immer wieder ihren Namen. Die Ballerina musste sich oft verbeugen.

Langsam wurde ich wieder das unterernährte Mädchen. Ich zog mein blaues Kleid  und die Schuhe an und hängte den Frisier-Umhang vorsichtig an den Haken. Und dann kam jedes Mal die Überraschung: <Ein> In einer Silberschale, die plötzlich  im Zimmer stand, lagen fünf Pralinen, eingewickelt in Gold-Papier. Aus dem Becher daneben duftete es wunderbar nach heißem Kakao!

Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie meine Großeltern, 1946, an diese Leckereien gekommen sind! Sie nahmen ihr kleines Geheimnis mit ins Grab.

[Ronneburger]

Hallo,

ich finde diese kleine Erzählung sehr gut gelungen und ich konnte mir alles sehr genau vorstellen.

Zumal ich einen Opa hatte, der mir ähnliche "Nachkriegsgeschichten" erzählte - nur vom eigentlichen Krieg erzählte er niemals.

Also vielen Dank.

[Lara]

Ich freue mich, das dir die Geschichte gefällt! Nach und nach sind mir immer mehr Kindheits-Erlebnisse eingefallen. Ich versuche, sie möglichst aus der Sicht eines Kindes zu erzählen; und schreibe sie für meine Kinder auf. Also, herzlichen Dank von lara.