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Zaubergarten, oder auch: Ich.


 
 
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Rennschnitzel
Geschlecht:männlichFestmahl

Alter: 33
Beiträge: 1010
Wohnort: Württemberg


Sir Winterblast
Beitrag13.12.2008 22:03
Zaubergarten, oder auch: Ich.
von Rennschnitzel
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Also, liebe DSFo-Gemeinde...
Hier mein erstes richtiges Buchprojekt. Für die paar Seiten hab ich ein halbes Jahr gebraucht. Dann hab ich aufgegeben. Möget ihr ein paar schöne Stunden beim Durchforsten meines Wortreiches haben, frohe Weihnachten, ho-ho-ho.

1. Kapitel

Ein Mann der hasst, was er ist... Eine schrecklich zugerichtete Leiche... Und vollkommen schwarzer Wein...
Marcus Goldman schreckte in seinem Bett auf und fluchte laut. Alles um ihn herum war still. Er blickte auf seine Nachttischuhr. Sie zeigte 03:45 Uhr. Schweißgebadet ließ er sich in seine ebenfalls durchgeschwitzten Laken fallen. Er hasste diese Art von quasi umgekehrten Déjà-vues. Denn er wusste, dass sie wahr werden würden.
Nach einer halben Stunde hatte sich Goldman doch noch von seiner Lagerstätte erhoben, da er genau wusste, dass er nun keinen Schlaf mehr finden würde. Wie ein betrunkener Taschenkrebs schwankte Goldman durch eine stilvoll eingerichtete Wohnung im Herzen Berlins. Er schaute durch ein Fenster auf eine vom Regen durchnässte, nur von ein paar Autoscheinwerfern in kaltes Licht getauchte Straße. Wie sehr er diese Stadt doch hasste.
Nachdem Goldman sich einen Mormonentee bereitet und in langsamen Schlucken die heiße Flüssigkeit in seinen Magen hatte rinnen lassen, fühlte er sich gestärkt genug, um sich anzukleiden. Diesmal fühlte Goldman sich wirklich betrunken, während er aus der Küche ging.
Plötzlich klingelte das Telefon. Goldman war gelinde überrascht, dass es jemand wagen konnte, ihn vor 5 Uhr morgens anzurufen, aber er ging trotzdem, mit einiger Verzögerung, an den Apparat. „Marcus Goldman.“, sagte er träge in den Hörer. „Sie wünschen?“ Er legte so viel Verachtung in die letzten Worte, wie ihm möglich war.
„Gol’män?“
Marcus stöhnte.
„Gol’män? ’allo?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war Goldman nur allzu vertraut. Diesen billigen französischen Akzent hörte er auf einen Kilometer Entfernung zwischen Millionen von Menschen heraus.
„Ja?“, sagte er gequält.
„’allo, ’ier Muco.“, tönte es aus dem Lautsprecher.
„Das dachte ich mir schon.“, erwiderte Goldman trocken.
Der Mann am anderen Ende der Leitung war Geringerer als Romeo Muco, ein hohes Tier in der Europol, der noch weniger Freunde hatte als sein verächtlich-überhebliches Auftreten vermuten ließ.
„Gol’män, isch ’abe etwas für Sie.“, frohlockte er. Goldmans Laune sank auf den absoluten Tiefpunkt.
„Da ’abän wir äs… 3 Mordä in Raton Laveur… Kleinäs Dorf in Aquitaniän… Die Be’örden kommän nicht weiter…“
„Aquitanien?“, unterbrach Goldman seinen Vorgesetzten. „Das… Das liegt doch in Frankreich?“
„Stelän Sie sisch nicht dumm!“, fauchte Muco, froh über die Gelegenheit, Goldman zurechtstutzen zu können. „Sie wisän genau, dass Sie für Fälle in der ganzen EU ausgesandt werden könän!“
„Ja… Okay.“, nuschelte Goldman lahm.
Muco sagte die Wahrheit, und keiner wusste das besser als Marcus, trotzdem hatte er immer noch eine leichte Aversion gegen dienstliche Auslandsreisen, zumal er sie ausnahmslos mit seinen Kollegen Elena Flemar und Oskar Grov antreten musste.
Aber Goldman war klar, wie die Dinge liefen: Überall in der EU, wo Kapitalverbrechen völlig im Dunkeln blieben, schickte Europol ein hochkarätiges Ermittlerteam aus drei Leuten, die den Sachverhalt klären sollten.
Es gab 15 davon und er wurde das Gefühl nicht los, er müsse immer zu den gefährlichsten Einsätzen. Schon allein, weil Muco ihm nie vergeben würde, dass Goldman cleverer war als er.
„Also, um 6 Uhr fährt ihr Sug.“, fuhr Muco fort. „Zug?“, kreischte Goldman. „Nach Südfrankreich?“
„Gänau.“, bestätigte Muco. „Sie fahren vom ’auptbanoff.“
Schadenfroh fügte er hinzu: Keinä Angst… Sie sind in wäniger als 24 Stunden da… Natürlisch ohne Wartezeit gerechnät…“, gackerte er. Resigniert starrte Goldman die Decke an, als hoffe er, sie würde einstürzen.
„Ah… Aquitaniän… Meinä alte ’eimat…“ Goldman legte auf.

Eine Stunde später fand er sich schlecht gelaunt an der Anzeigetafel im Berliner Hauptbahnhof wieder und schaute sich nach dem Zug nach Bordeaux um. Schließlich wurde Goldman fündig. Träge schlurfte er zum Gleis Nummer 7 und ließ erst seinen Koffer, dann sich selbst auf eine Bank krachen.
Erschöpft ließ er seinen Kopf in eine Hand sinken. Es war eine kurze Nacht gewesen.
Plötzlich senkte sich eine Hand schwer auf seine Schulter.
Ohne über seine Handlungsweise nachzudenken, ohne sie bewusst zu registrieren, packte Goldman den Arm und verrenkte ihn im Polizeigriff.
Nun richtete er den Blick auf den Hinterkopf seines Opfers. Er kannte diesen Hinterkopf. Schock durchzuckte ihn wie ein Blitz und sofort ließ er den Arm los, als hätte er sich daran verbrannt.
Vor ihm stand Oskar Grov, ein korpulenter Mann in den Fünfzigern, der sich die Hand rieb und Goldman wütend anstarrte.
„Tu das nie wieder, Marcus.“, sagte er mit einem Unterton, der Goldmans Nackenhaare sträubte. Glücklicherweise verbarg seine halslange blonde Mähne diesen ihm höchst peinlichen Zustand.
Grov war wie immer unvorteilhaft in einem beigefarbenen, mit lila und giftgrünen Karos verzierten Anzug gekleidet.
„Und, was ich fast vergessen hätte: Hallo.“, fügte er eisig hinzu und wankte gen Raucherzone davon. Den rauen Klang seiner Stimme verdankte er zwei Päckchen Filterlosen am Tag.
Goldman rief ihm ein schwaches „Morgen“ hinterher und widmete sich dann wieder der anspruchsvollen Aufgabe, seine Handinnenfläche aus einem Millimeter Entfernung zu begutachten.
Die ständigen spröden Bahngleisansagen, das Fußgetrappel und nicht zuletzt das immerwährende Geschnatter der Menge vollbrachten schließlich ein Wunder: Goldman wachte endlich auf. Er starrte hinüber zur Anzeigetafel. Sein Zug würde bald einfahren.
Dann wandte sich sein Blick der nächstgelegenen Raucherzone zu. Er entdeckte Grov mit zwei Zigaretten gleichzeitig im Mund. Goldman wusste, Grov hatte panische Angst vor einem Sitzplatz im Nichtraucherbereich. Er beschloss, sich ihm zu gesellen.
Goldman stellte sich neben Grov und zerrte sein Zigarettenetui aus seiner Hosentasche, in der es sich verkeilt hatte.
„Rauchst du immer noch diese Mädchendinger?“, fragte Grov unvermittelt und deutete auf die Zigarette in Goldmans Hand, an deren Filter das Wort „Sex“ prangte.
„Ja… Und ich werde nicht in absehbarer Zeit an Lungenkrebs sterben.“, antwortete Goldman mit einem leisen Lächeln. Jetzt, wo er vor ihm stand, musste Goldman sich eingestehen, dass er die einschüchternde, aber herzliche Art von Grov beinahe vermisst hatte.
„Marcus! Oskar!“ Abrupt wandten sich die Beiden um.
Eine Frau ging salopp auf sie zu, während sie mit einem Umschlag in der rechten Hand wedelte und in der linken eine große Sporttasche trug, auf der das Emblem des F.B.I. eingestickt war.
Es war eine wunderschöne blonde Frau, sie war in den Arabischen Emiraten geboren, und das sah man ihr auf angenehme Art an. Ihre Kleidung war sportlich, fast militant und auf der rechten Seite hatte sie ihre Haare zu einem dünnen Zopf geflochten. Ihr Name war Elena Flemar.
„Ich hab die Zugtickets… Wo ist denn euer Gepäck?“
Goldmans Koffer stand immer noch auf der Bank und Grovs Gepäck lag ungefähr 10 Meter daneben. Zweifellos hatten beide gehofft, die Koffer würden samt Pässen, Polizeiausweisen und Dienstwaffen gestohlen.
Elena schüttelte die Tickets aus dem Umschlag. Sie war mit dem Austeilen gerade fertig, als, begleitet von einer drögen Bahngleisansage, der Zug unter ohrenbetäubendem Quietschen einfuhr.
Goldman und Grov holten enttäuscht ihre Koffer und bestiegen mit Elena den Zug.
Ein ganzes Abteil in der 2. Klasse war für sie reserviert. „Mächtig großzügig von Muco.“, stellte Grov verwundert fest. „Das hier muss wirklich wichtig sein.“
„Nein.“, widersprach ihm Elena gelassen. „Ich habe nur herausgefunden, dass das bei allen anderen Gang und Gäbe ist.“
„Muco…“, knurrte Grov und seine Hände zerquetschten einen Kopf, der Hunderte von Kilometern entfernt in einem feinen Büro Zigarren zerkaute.
„Er hasst uns.“, sagte Goldman sachlich. „Nein, er hasst dich.“, korrigierte Grov und starrte mit Todesverachtung auf das „Rauchen Verboten“ - Schild.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Elena zog bedächtig einen Untersuchungsbericht aus ihrer Tasche. Sie faltete den Ordner auf.
„Also… Drei Morde in Raton Laveur… Kleines Dorf südlich von Bordeaux. Alle Opfer weiblich, zwischen 15 und 60…“ Sie runzelte die Stirn. „Die Namen sind hier nicht verzeichnet.“ „Aber das Alter?“, fragte Goldman höchst interessiert. „Nicht mal das… Das sind alles nur Schätzungen!“
Ungestüm packte Grov den Bericht. „Wie kann das sein?“, fragte er verwundert und stierte auf den Untersuchungsbericht. „Völlig unbekannt in einem Dorf, wo jeder jeden kennt? Nicht mal persönliche Gegenstände?“
„Die Opfer waren nackt. Nichts Persönliches gefunden. Nicht mal Ohrringe oder Tätowierungen.“ Sie reichte Goldman und Grov einige Fotos. Für einen Moment herrschte Stille im Abteil, während die Beiden die Fotos ansahen.
Goldmans erstes Foto zeigte eine Frau um die dreißig. Mit einem Baustellennieter hatte man sie an eine Wand genagelt. Ihre Augen wurden ebenfalls durchstochen. Eiweiß, vermischt mit Blut und etwas, das an Gehirnmasse erinnerte, sickerte auf ihre eingedellte Brust. Schwerlich konnte man erkennen, wie schön sie einmal gewesen sein musste.
Eine Impression bestialischer, menschenverachtender Grausamkeit ging von diesem Foto aus. Die in Jesusmanier von der Wand herabhängende Frau schien ihn mit ihren ausgestochenen Augen anzuschauen. Es würde ihm mächtig schwer fallen, bei diesem Fall objektiv zu bleiben.
Auf den anderen Bildern war praktisch dieselbe Szene zu sehen, obwohl Bühne und Akteure wechselten. Der oder die Täter gingen immer gleich vor.
Stumm reichte Goldman seine Fotos an Oskar weiter. Dieser legte sie auf das kleine Ausklapptischchen, das in Zügen üblich ist. „Ich hab genug gesehen“, erklärte er schlicht. „Ich nehme an, das waren Taten fast aus dem Affekt heraus… Schaut euch die Leichen an. Purer Hass.“, spekulierte er und sah seine Mitstreiter an. „Eine schwere Geisteskrankheit, irgendeine Aggressionsstörung oder so was.“
„Keine Aggressionsstörung. Das Ganze ist fingiert. Von vorne bis hinten.“ Goldman legte die Fingerkuppen aneinander und genoss das Gefühl, voll in seinem Element zu sein. „Und woran siehst du das?“ Grov war seiner Meinung nach der Einzige, der irgendjemand auf der Welt korrigieren durfte.
Goldman nahm das erste Foto vom Tisch und hielt es hoch. Elena beugte sich vor, und Grov folgte, wenn auch widerwillig, ihrem Beispiel.
„Schaut euch ihre Arme an. Denkt euch das Blut und die Rötungen weg. Seht ihr es? Die Löcher sind auf einer geraden Linie. Das hier war geplant und eiskalt ausgeführt. Vermutlich von einem oder mehreren starken Männern. So ein Nieter hat ganz schön Wumms. Und den auch noch in die Luft halten...“, schloss er und blickte seine Kollegen an.
Der Zug ratterte durch einen Tunnel. Im selben Moment gellte der zugtypischste Schrei durch die Gänge, den man auf einer langen Reise erwarten konnte. „Kaffee, Knabbereien, Erfrischungen!“
Die drei waren mächtig zusammengefahren. Die Fotos hatten sie in eine dunkle, grausame Welt gerissen. Als jetzt jedoch die Verkäuferin ihr ausgesprochen hässliches Gesicht in das Abteil steckte, kaufte Goldman ihr einen Kaffee ab.
Er nahm einen Schluck und würgte, dann entsorgte er den Becher eiligst in den Mülleimer, der prompt zu tropfen begann.
Elena und Grov sahen sich belustigt an. Das war mehr als vorhersehbar gewesen. Man nannte Goldman in der Zentrale nicht um sonst „Katzenzunge“.
Schon bald hatte sich Goldman mit einer sehr kurzen Pfeife in der einen und einem ominösen schwarzen Plastiktütchen in der anderen Hand auf die Toilette verzogen.
Er kehrte 5 Minuten später mit stark geröteten Augen wieder. Ein dümmliches Lächeln klebte auf seinem Gesicht. „Kannst du das nicht bitte lassen?“, sagte Elena genervt. „Wir sind Polizisten, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“ Goldman starrte ihr einige Minuten direkt in die Augen. Er hätte ebenso gut „Halt die Fresse“ sagen können.
Dann zog er eine verspiegelte Sonnenbrille hervor und setzte sie trotz dämmrigen Lichtes auf.
Elena sah ihn prüfend an. „Hast du nicht den Mumm, mir auch ohne Sonnenbrille auf die Brüste zu glotzen?“
Ertappt zuckte Goldman zusammen. Er hatte tatsächlich soeben ihre D-Körbchen eines langen Blickes gewürdigt.
Mühsam beugte er sich vor und ließ das schwarze Tütchen im Abfalleimer verschwinden. Das war seine letzte bewusste Tat.
Er sackte in dem unbequemen Sitz zurück, überflutet von sich widersprechenden Gedanken, wahnwitzige Theorien verbanden sich mit wunderbaren Farben. Goldman ruckte mit dem Kopf, freute sich, dass es sich so anders anfühlte und lachte unvermittelt auf. Elena betrachtete ihn traurig. Nur so konnte er lachen.
Der Zug ratterte unbarmherzig weiter gen Süden. Elena wartete, bis Goldman weggedämmert war, dann nahm sie vorsichtig einen mittelgroßen Aluminiumkoffer aus ihrer Tasche.
Grov beäugte ihn misstrauisch.
„Was schmuggelst du da?“, krächzte er. Elena warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Allein schon das sagte Grov, dass er recht gehabt hatte.
Elena gab so rasch eine Zahlenkombination in das Schloss des Koffers ein, dass selbst Grovs geübte Augen ihr nicht folgen konnten. Dann klappte sie den Koffer auf, fast zeitgleich mit Grovs Kiefer. Er starrte auf ein stahlschimmerndes Monster, einem Hünen von Revolver, wie Grov ihn in 20 Jahren kaltem Krieg nicht gesehen hatte.
Mit einer lässigen Bewegung ließ sie die Trommel ausklappen. Allein das Geräusch klang teuer.
Goldman, immer noch in seinem Sitz zusammengesunken, bewegte sich leicht. Unterdessen starrte Grov sich fast die Augen aus. Es war allgemein bekannt, dass Elena Flemar ein Musterbeispiel an Waffenvernarrtheit war, wie man es sonst nur in den U.S.A. zu sehen bekommt, selbst ihre Zahnbürste war am Ende zu einem tödlichen Pflock angespitzt, aber dieses Ding sah so aus, als wäre es direkt aus den Entwicklungslaboren von Magnum Research gekommen. Grov überlegte einen Moment. Das könnte sogar stimmen.
Zeit für ein paar Tricks, die ihm die Russen beigebracht hatten. Grov lehnte sich leicht nach vorne und sah sie bohrend an. „Wo hast du das her?“, fragte er mit einer etwas zu liebenswürdigen Stimme. Nach der Meinung des KGB die beste Möglichkeit, Bedrohlichkeit im Subtext mitschwingen zu lassen. Er bekam so immer, was er wissen wollte.
Elena interessierte das allerdings wenig. Sie hatte auf schmerzhafte Art gelernt, im Zweifelsfall lieber den Mund zu halten. Grov sah leicht verstimmt aus dem Fenster. Die Jungend von heute. Sogar die alten Verhörtaktiken waren ihnen zu lasch geworden.
Unterdessen fingerte Elena eifrig an den Zusatzteilen des Revolvers, die kunstvoll in Schaumstoff in der Alubox eingelassen waren. Sie hob eine kleine Plexiglasbox heraus und legte sie auf den Sitz neben ihr als wäre es ein rohes Ei. Die Box war randvoll gefüllt mit Munition. Sie stach besonders ins Auge, da sie fast so groß war wie Schrotpatronen und die Kugeln nicht kupferrot, sondern glänzend schwarz waren. Sie nahm 5 dieser wunderlichen Exemplare heraus und begann, die Trommel zu füllen.
„EFMJ-Kugeln.“
Blitzartig wandten Elena und Grov die Köpfe zu dem zusammengesunkenen Goldman mit der Sonnebrille auf der Nase an.
Goldman saß eingesunken auf seinem Sitz. Er war in einen Dämmerschlaf gefallen, der es ihm erlaubte, einerseits bewusst am Geschehen teilzunehmen, andererseits aber dafür sorgte, dass er träumte. Er bezeichnete das simpel als Cannabis-Overkill.
Mit der Sonnenbrille auf der Nase wirkte Goldman wie ein missgestaltetes Insekt.
„Expanding Full Metal Jacket.“, sagte er flüsterleise. Seine Lippen bewegten sich kaum.
„Hinter der Metallspitze ist eine Gummischicht eingearbeitet, die dafür sorgt, dass das Geschoss im Körper wahnwitzig aufpilzt.“
Im selben Moment fragte sich Goldman, warum er das überhaupt erzählte. Er fühlte sich wie ein Lehrer an einer Hauptschule. Dann sprach er weiter, gefesselt von seiner eigenen Stimme.
„Diese Dinger sind gefährlicher als Dum-Dum-Geschosse. Der Treibsatz ist der stärkste  für Faustfeuerwaffen auf dem Markt. Wenn man diese beiden unangenehmen Eigenschaften auch noch kombiniert…“ „…hat man eine Waffe, die dir ein Loch in die Brust ballert und dir dabei noch die Eingeweide mit raus reißt.“, ergänzte Grov. „So ungefähr.“, sagte Goldman und wandte sich wieder seinem Traum zu, in dem er einen King-Kong-Film ansah, mit den Füßen applaudierte und Popcorn mit Betelnussgeschmack aß.
„Wenn ich das richtig verstehe, ist dieses ganze Waffensystem darauf ausgelegt, zu töten, nicht, Gefangene zu machen.“
Grov sah Elena an.
„Das ist nicht dein Ernst.“
Trotzig schob Elena ihren Unterkiefer vor. „Wollt ihr es mir verbieten?“
Sie hatte Goldmans simple Deduktion sofort durchschaut. Auf der Munitionsbox war das Wappen der Firma, die die gesamte U.S.A. mit dieser Technik belieferte. Er hatte ja nicht mal erkannt, um welchen Typ von Magnum es sich handelte.
„Magnum BFR .500 Smith & Wesson mit 7,5-Zoll-Lauf.“, schallte es von Goldman. Elena starrte fassungslos auf den halb schlafenden Blondschopf. Konnte er ihre Gedanken lesen? „Vielleicht…“, sagte Goldman mit einem sardonischen Lächeln auf den Lippen. Er hatte ihr wohl überdeutlich bewiesen, dass einfache Deduktionen nicht das Maximum seiner Fähigkeiten waren. Außerdem waren verunsicherte Menschen viel leichter zu manipulieren. Bei dem Gedanken, welche Flöhe er ihr ins Ohr setzen könnte, musste Goldman lächeln.
Erneut schaute sie ihn verwirrt an und schaute dann aus dem Fenster. Der Himmel verfärbte sich purpurrot. Eigentlich war der Tag schon jetzt verloren.
„Hast du sie schon mal ausprobiert?“, fragte Grov so freundlich, wie es ihm möglich war. „Leider nein. Warum auch immer, Deutschland hat etwas gegen .500-Waffen… Die haben mir schon die Einfuhr so lächerlich schwer gemacht, und das Trainieren ist fast unmöglich.“ Im Stillen fragte sich Grov, was sie wohl mit der „Einfuhr“ meinte. Wahrscheinlich unter Deck eines chinesischen Frachters.
Eine einigermaßen nette Konversation über die Technik, Entwicklung und Herkunft der Waffe folgte, an der Goldman sich nicht beteiligen konnte, da er zu sehr damit beschäftigt war, zu verhindern, dass sein Herz aus der Brust platzte, ein gewohnter Abgang eines starken Rausches.
Das allein hätte bei normalen Menschen gereicht, um sie angsterfüllten Blickes zurückweichen zu lassen. Aber im Laufe der Zeit hatte jeder der drei gelernt, mit den Marotten des anderen umzugehen. Goldman drückte sich mit scheelem Blick die Hände auf den Brustkasten, Elena fingerte in aller Öffentlichkeit mit geladenen Mordinstrumenten herum und Grov packte das „Rauchen Verboten“ - Schild und stopfte es in den sowieso schon übervollen Mülleimer. Diese und mehrere andere Spleenigkeiten sorgten dafür, dass sie dreimal den Schaffner im Stechschritt und so schnell wie ihn seine Stummelbeine trugen, am Abteil vorbeirauschen sahen. Besonders Goldman konnte sich derart darüber amüsieren, dass er schon bald alle Fahrgäste der anliegenden Abteile durch sein brüllendes Lachen vertrieben hatte.
Nach einiger Zeit war im Zug wieder Ruhe eingekehrt. Goldmans High war einem rapiden Anfall von Faulheit gewichen, der so extrem war, dass er sich nicht einmal mehr eine Zigarette anstecken konnte. Aber genau das tat Grov. Innerhalb von kürzester Zeit füllte er das Abteil mit beißend nach angezündeten Hundehaaren stinkendem Rauch. Elena, die es nicht mehr aushielt, ergriff das Wort.
„Hier ist ein Rauchmelder.“, log sie. „Wenn du diese Mistdinger nicht ausmachst, haben wir hier demnächst Feueralarm.“
Grov zückte einen Schraubenzieher. „Ein Rauchmelder? Wo?“
Elena überlegte kurz. „Ich will einfach nicht, dass du hier Zigaretten rauchst. Geh doch in den Raucherbereich.“
„Du hast Recht.“, stimmte Grov ihr zu. Goldmans Augenbrauen hoben sich um einen Zentimeter, ein Ausdruck heftigen Erstaunens. Das bemerkte aber niemand, da sein Pony alles oberhalb der Augen verdeckte. Selbst Elena war überrascht. „Ja?“, fragte sie zögernd.
„Natürlich.“, sagte Grov backenbartzitternd nickend. „Überhaupt nicht die Zeit für Zigaretten. Zum Glück habe ich noch meine Seemannspfeife dabei…“ „Doch nicht die mit dem Ebenholzkopf?“, klinkte sich Goldman begeistert ein. „Ja, die mit dem Ebenholzkopf…“, antwortete Grov versonnen. Die Beiden äugten Elena an.
Resigniert ließ sie sich in ihren Stuhl zurückfallen. Die Raucherfraktion war offenbar in der Überzahl.

Die Sonne schien halbherzig durch die Wolken, als würde sie die triste Stimmung teilen, die sich im Abteil breitgemacht hatte. Goldman war wieder bei vollem Bewusstsein. Schwerfällig erhob er sich.
„Ich teste jetzt, wie genießbar der Fraß im Bistro ist.“, deklarierte er und wanderte, immer noch leicht vornübergebeugt, zu Tür. Die Anderen blieben sitzen. Sie wussten, was passieren würde.
Es war Mittag geworden. Das Bistro, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war brechend voll.
Das Essen bestand aus mikrowellenerwärmter graubrauner Pampe in verschiedenen Geschmacksrichtungen und trotzdem standen die Menschen dafür Schlange. Die Meisten waren einfach nichts Besseres gewohnt. Die Luft war geschwängert von den Schreien minderjähriger Asozialer. Goldman drehte sich auf dem Absatz um. Er hatte noch einige zerschmolzene Schokoriegel in seiner Tasche.
Goldmans Reaktion war vorhersehbar und vorhergesehen. Innerhalb von Sekunden stand er wieder im Abteil. Seine Kollegen erwarteten ihn bereits mit einem breiten Grinsen. Wortlos setzte er sich an seinen Platz.
Die Stunden bis zur Abenddämmerung schleppten sich zäh dahin. Goldman tat dem keinen Abbruch, indem er Elena und Grov mit lautstarker Rammstein-Musik aus seinem MP3-Player beschallte.
Der Zug ratterte und klapperte. Besonders Grov litt darunter, da er altersbedingt an schmerzendem Rücken erkrankt war. Natürlich hätte er das nie zugegeben. Alphamännchen. Reiß dich zusammen. Sicher hatte Goldman genug Sedativa dabei, um die ganze Schweiz für ein paar Tage zu betäuben. Doch wenn er danach fragte, bewies er Schwäche.
Goldman kramte in seiner Hosentasche herum. Er zog zwei in Plastik eingeschweißte Tabletten von der Größe einer 1-Cent-Münze hervor und warf sie Grov nicht allzu zielgenau in den Schoß. „Rückenschmerzen?“
Grov ergriff die Tabletten. Hatte er es sich so offensichtlich anmerken lassen? Er wurde tatsächlich alt.
Goldman wurde müde. Er hatte sich die letzten 10 Minuten einer erschöpfenden Diskussion mit Elena über das deutsche Waffengesetz hingegeben, die er sehr genossen hatte, das lag aber weniger am Gesprächsthema.
Die Augen fielen Goldman zu. Er versuchte, wach zu bleiben, denn bei seinen Träumen kam nie etwas Gutes heraus. Frei nach Sigmund Freud, dachte er, der Traum ist wirklich die Brücke zum Unterbewusstsein. Dann schlief er ein.
Goldman rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Es war eine kalte Winternacht. Klischeehaft. Genau wie seine Verfolger.
„Bleib stehen, oder wir schießen!“, brüllte einer. Das würden sie ohnehin.
Seine Beine waren bleiern schwer. Er musste sich zwingen, eins vor das andere zu setzen. Er konnte förmlich spüren, wie sie versuchten, ihre Colts ruhig genug für einen Schuss zu halten.
Goldman schwang sich um eine Ecke. Jetzt war es aus. Jeden Moment würden die Bullen um die Ecke kommen und danach würde man ihn nur noch anhand seiner Zähne identifizieren können. Er krallte sich an die Wand und seine Augen füllten sich mit Tränen. Dies also war das Ende. Doch… Was war das? Die Wand gab etwas nach. Ruckartig zog er seine rechte Hand nach vorn. Was war das? Er hielt es gegen das Licht. Ein Backstein?
Ein Backstein, ohne Zweifel.
Goldman schwang ihn durch die Luft, er wog schwer in der Hand. Genau in diesem Moment flitzte der erste Polizist, ein guter Sprinter, um die Ecke. Sein schallendes „Da ist er!“ blieb ihm im Halse stecken, da Goldman ihm den Backstein mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, ins Gesicht schlug. Der Mann taumelte, er presste sich die Hand vor das Gesicht, sah sie an und schrie auf, als er sie mit Blut verschmiert war. Ein Weichling. Seine Schusswaffe lag vergessen im Staub. Goldman holte noch einmal aus und schlug mit einem jähen Ausfallschritt nach vorn dem korrupten Beamten die Kante des Backsteins ins Auge. Er hörte die Augenhöhle krachen und spürte, wie tief die Kante sich in das Sehorgan gebohrt hatte. Mit einem nassen Glitschen zog Goldman seine Waffe aus der Augenhöhle.  Sie war mit etwas verschmiert, das an Gelatine erinnerte.
Der Zweite Polizeibeamte, seines Zeichens starker Raucher, schwang sich völlig außer Atem ebenfalls um die Ecke.
Er brauchte eine Weile, um die Situation zu begreifen; ein absonderlicher blonder Mann, vermutlich das Zielobjekt Marcus Goldman, stand gebückt wie ein Raubtier mit einem blutverklebten Backstein in einer genauso blutverklebten Hand da, neben ihm sein Kollege, der mit einer blutenden, leeren Augenhöhle langsam zu Boden sank.
Goldman hatte leichtes Spiel. Er sprang vorwärts wie ein Tiger und schlug seinen Backstein auf den Schädelansatz des Polizisten.
Begleitet von einem widerwärtig spotzenden Geräusch sank auch dieser Mann zu Boden.
Das Adrenalin in Goldmans Adern verebbte abrupt. Panisch sah er sich um. Die Verfolger waren tot, das war sicher. Aber was jetzt? Er stopfte den Backstein zurück in die Wand, ging ein paar Schritte zurück und seine Augen weiteten sich, als er begriff, was er getan hatte.
Zwei Polizisten lagen auf der Straße, sie waren zerschmettert, Blut sickerte auf den Boden und bildete große Lachen. Er war es gewesen. Er hatte diese Menschen so brutal ermordet!
Mit verzweifelter Panik in den Augen rannte Goldman davon.
Einige Wochen vor dieser Nacht hatte Goldman ein Labor des Drogenbarons Frederik Jansson in die Luft gejagt. Wie er das gemacht hatte, wusste er selbst nicht, doch war er seitdem nicht mal mehr in der Lage, in einen Supermarkt zu gehen, ohne vor Schlägern oder Killern des schwedischen Mafiosi fliehen zu müssen. Goldman wusste, wenn es so weiterging, wäre er in ein paar Tagen tot.
Goldman strauchelte und knallte mit voller Wucht gegen eine Straßenlaterne. Er fühlte eine große Platzwunde über seinem rechten Auge. Er wusste, es gab nur eine einzige Option, wenn er lebend aus den Fingern Janssons entkommen wollte.
Ein stechender Schmerz holte Goldman aus seinem Traum. Er schlug nach dem Insekt, das ihn in die Schulter stach, aber traf nur Grovs Kugelschreiber.
„Was soll das, alter Mann?“ Goldman schloss die Augen wieder.
„Wir sind in Bordeaux. Ab hier geht’s per Regionalbahn weiter.“, sagte Grov und fuhr fort, Goldman mit seinem Kugelschreiber zu pieksen. Wahrscheinlich hatte er diese Foltermethode bei der CIA gelernt.
Der Rest der Reise verflog wie im Zeitraffer. Nachdem sie in Bordeaux den Zug gewechselt hatten und in ein kleines Kaff gefahren waren, in dem es außer einem Bahnhof, einer Tankstelle und ein paar Bauernhöfen gar nichts gab, fuhren sie per Taxi weiter in ein noch kleineres Kaff. Hier waren einmal mehr Mucos lange Finger zu spüren, denn das Taxi war klein, roch nach Jauche und war sicherlich seit einem Jahrzehnt nicht mehr gewaschen worden.
Nach einer Stunde Fahrt hieß der Taxifahrer, ein dicker Mann mit Pornobrille, sie aussteigen. Goldman blickte aus dem Fenster. Einige vereinzelte Häuser standen um einen leeren Platz herum, der ungefähr so groß war, dass neben dem Taxi vielleicht noch ein anderer Wagen platz hatte. Er bedankte sich in geradebrechtem Französisch bei dem Taxifahrer. Im Stillen wünschte er sich, das fette Schwein würde für immer in der Hölle schmoren. Er war, so hatte es Goldman wenigstens erlebt, über jeden Buckel, jedes Schlagloch, jede Senke gebraust, nur um seinem Rücken den Rest zu verpassen.
Das war wohl durch seinen Tonfall durchgesickert, denn der Taxifahrer gab, sobald sie ihr Gepäck aus dem Wagen gezogen hatten, Vollgas und knatterte zum nächsten Opfer seiner miserablen Fahrkünste davon.
Müde, verspannt und mit einer Laune, die nicht in Worte gefasst werden kann, zogen und schoben die drei ihr Gepäck über das, was, wie sie später erfuhren, der Marktplatz war.
Elena kramte in ihrer Tasche und zog einen Zettel hervor. „Also, wir sind in der Pension „Napoléon“ untergebracht. Die müsste gleich hier irgendwo sein.“ Sie schlackerte mit ihrem freien Arm in eine ungefähre Richtung. „Napoléon? Wie… ungeheuer originell.“, feixte Goldman. Zum Sarkasmus reichte sein Bisschen Kraft noch.
Das Dorf war so winzig, dass sie die Pension trotz Elenas schlechtem Orientierungssinn innerhalb von ein paar Minuten fanden.
Sie schritten mit letzter Kraft in das Haus mit dem Bild Napoleons an der Fassade und einem kleinen Banner darunter, das „Zimmer zu vermieten“ in neun verschiedenen Sprachen verkündete.
Eine hochgewachsene, sehr dicke Frau mit roten Haaren und riesiger Nase saß in einem Raum, der notdürftig von einem normalen Wohnzimmer zu einer Empfangshalle umfunktioniert worden war. Sie trug eine Art Schürze, auf der ein Namensschild befestigt war. Sie hieß offenbar „Celine“. Das Sofa, auf dem sie thronte, bog sich bis zum Boden durch.
„Was wollt ihr?“, dröhnte sie ihnen in einem tiefen Französisch zu. Lieber Gott, dachte Goldman, ich habe die französische Synchronstimme von Bruce Willis gefunden.
„Wir sind die Ermittler von der Europol“, sagte Elena in perfektem Französisch. „Man hat Zimmer für uns reserviert.“
„Ermittler? Mal nachdenken…“ Sie kratzte sich mit einem riesigen Fingernagel an der Nase. „Ach so. Ja, irgend so ein Trottel hat hier angerufen und gesagt, dass ihr drei Zimmer braucht. Und sie müssten nicht zwingend sauber sein, hat er gesagt. Hören sie mal, hab ich gesagt, in meiner Pension, ja, da gibt’s keine dreckigen Zimmer. Kommen Sie mit rauf, ich zeig Ihnen die Zimmer.“
Sie führte sie aus dem Eingangshallen-Wohnzimmer über eine kurze, aber steile Treppe hinauf, die in einen etwas veralteten Gang mündete. Er war mit schlechten Kopien stilvoller Bilder behängt und mit weinrotem Teppich ausgeschlagen. Goldman bemerkte, dass auf jedem ein großer Mann der französischen Geschichte abgebildet war.
Ludwig der Sechzehnte blickte arrogant auf Goldman herab und direkt auf der anderen Seite des Gangs hing ein Portrait Robespierres. Wie ironisch, dachte Goldman, der Schuldige und der Henker, auf immer vereint… Diese Celine hatte einen merkwürdigen Humor.
Celine zeigte mit einem ihrer Wustfinger auf eine Tür direkt an der Treppe. „Das ist für Sie.“, sagte sie und blickte Elena freundlich an. Diese ging gehorsam durch die Tür. Einen Moment konnten Grov und Goldman einen Blick auf einen spartanischen, schmucken Raum erhaschen. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Die riesige Französin stampfte weiter den Flur entlang und die Beiden folgten ihr etwa 10 Schritte weiter. Sie hatte mit Bedacht einen leeren Raum zwischen Elena und den Männern gelassen. Goldman blickte sie missgelaunt an.
Sie blieb in der Mitte von zwei Türen stehen.
„Ihr Beiden könnt euch aussuchen, in welchem Zimmer ihr schlaft. Ach ja, noch ein paar Richtlinien.“ Ihre Augen blitzten.
„Ihr Beide benutzt ein Badezimmer und ein Klo. Die sind beide an Ende von dem Gang hier. Dreht nie die Heizung auf. Wenn ihr mehr Decken braucht, kommt zu mir. Schmutzige Wäsche muss man hier selber waschen. Im Keller ist eine Waschmaschine. Ich zeig sie euch später. Waschmittel müsst ihr selber kaufen. Rauchen ist im ganzen Hotel verboten.“ Dafür erntete sie einen mordlüsternen Blick von Grov. „Und wenn ich irgendwelche komischen Geräusche aus euren Zimmern hören sollte fliegt ihr raus.“
Goldman konnte es nicht fassen. Hatte sie ihnen gerade verboten zu masturbieren? Grov starrte sie ähnlich irritiert an.
„Das ist dann alles. Nur noch eins – Frühstück und Abendessen kosten extra. Mittag gibt’s nicht“
Goldman und Grov schulterten ihr Gepäck, das sie während dieser Rede zu Boden hatten sinken lassen und gingen rasch in ihr Zimmer, bevor dieser Frau noch ein paar „Richtlinien“ einfielen.
Der Raum, in dem Goldman stand, gewann sofort seine Zuneigung. Er war beinahe quadratisch, mit großen Fenstern, vor denen Blumenkübel scheinbar in der Luft schwebten. Er hatte ein nicht unbedingt großes, aber langes Bett. Sogar ein kleiner Schreibtisch mit zwei Stühlen stand in einer Ecke. Ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber stand daneben bereit. Der Naturholzfußboden versöhnte Goldman endgültig mit Celine, und er ließ sich mit einem Stöhnen der Erleichterung in die weichen Laken fallen. Dann fiel ihm Celines Drohung wieder ein, und er beschloss, nie mehr, aus welchem Anlass auch immer, zu stöhnen.
Für eine halbe Stunde blieb Goldman so liegen und genoss einfach den unbegrenzten Beinfreiraum, den er im Zug schmerzlich vermisst hatte. Doch irgendwann fiel ihm ein, warum sie hier waren. Sechs Morde an sechs unbekannten Leichen. Das reichte, um seine Laune zu trüben.
Es klopfte an der Tür. Er rief „Herein!“ und Elena trat ein. Sie hatte ihr Reiseoutfit gegen eine weiß gebleichte Jeansjacke mit passender Hose getauscht.
Goldman sah sie fragend an. „In einer halben Stunde gehen wir zum ersten Tatort, ähm, hab ich mir gedacht.“, fügte sie eilends hinzu, als sie den kühlen Blick bemerkte, mit dem er ihren Befehlston kommentierte. Auch wenn er es nie ansprach, so war Goldman doch der Kopf des Ermittlerteams und praktisch Elenas Vorgesetzter. Er nickte und sie ging weiter zu Grov.
Eine halbe Stunde. Das würde reichen, um seine verschwitzten und vollgekleckerten Kleider zu wechseln. Er ließ sein Longsleeve, das kunstvoll mit grünen und blauen Streifen verziert war, auf den Boden fallen, gefolgt von seiner Jeans. Goldman betrachtete seinen Arm in dem weißen Licht, das durch die Fenster drang. Er war dünn, sehnig und weiß von permanentem Lichtmangel. Goldman spannte ihn an. Große Muskeln traten hervor und ließen den Arm leicht diffamiert aussehen. Goldmans völlige Abstinenz von jeglichem Sport hatte keinen Effekt auf seinen immer trainierten Körper. Er behauptete einfach, er hätte in seiner Jugend genug für sein ganzes Leben trainiert.
Goldman schlüpfte schnell in ein Hemd und eine weiße Anzugshose. Er würde in diesem Dorf aussehen wie ein Exzentriker, mit seinem schmutzig blonden Pilzkopf, den Mokassins und dem blau-pink gestreiften Gürtel. Aber das kümmerte ihn schon lange nicht mehr. Schnell stopfte er noch sein Zigarettenetui, sein Zippo und seinen MP3-Player in die Tasche. Mehr brauchte er nicht.
Er schaute auf seine Uhr. Ihm blieben noch 15 Minuten. Er klappte den Deckel seines Plastikkoffers auf und suchte kurz; zwischen Poloshirts, einem Laptop und Pflegeutensilien wurde er fündig. Goldman zog eine durchsichtige kleine Plastiktüte aus dem Berg seines Gepäcks, die vier oder fünf schwarz-braune, spitz zulaufende Samen enthielt. Lässig schlenderte er zu einem Fenster und öffnete es.
Beherzt griff er in den Blumekübel und rupfte die Stiefmütterchen, Veilchen und Margareten, die liebevoll hineingebettet waren, heraus. Er freute sich auf das Gesicht der dicken Celine, wenn sie die fossilen Überreste ihrer Lieblinge in einer der Schubladen finden würde. Goldman wässerte den Kübel mit etwas Mineralwasser aus seinem Koffer und drückte die Samen in weiten Abständen voneinander einige Millimeter unter die Erde. Dann trat er zurück, um sein Werk zu bewundern. Eine Schublade in dem schönen Schreibtisch voll von erdigen Blumenleichen und ein Blumenkübel, der nur eine nasse, dunkle Fläche offenbarte.
Erst jetzt bemerkte er die Landschaft. Die Pension schien auf einem etwas erhöhten Fleck zu stehen, er konnte über die anderen Häuser hinwegsehen auf die triste Landschaft, die das Dorf umgab. Weit und breit nichts als Wiesen mit niedrigen Gräsern und weitestgehend ohne Blumen. Hier und da ein einzelner Baum. Er kam sich vor wie in der Tundra.
Ein beißender Geruch wehte zu ihm herüber. Goldman drehte sich nach rechts und sah Grov zwei Fenster weiter, wie er sich aus dem Fenster lehnte und genüsslich eine filterlose Zigarette rauchte.
„Nicht in der Pension rauchen… Die Seekuh kann mich kreuzweise.“, krächzte er.
„Ganz deiner Meinung.“, sagte Goldman und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Der Regelbruch ließ sie umso besser schmecken.
„Also, was meinst du? Warum kennt kein Schwein die Leichen?“, brach Grov das Schweigen und drückte seine Zigarette auf einer Veilchenblüte aus, indem er sich die Nächste zwischen die Lippen schob.
„Auf jeden Fall sehr ungewöhnlich.“, entgegnete Goldman nachdenklich. „Gesetzt dem Fall, dass sie wirklich nicht hier gelebt haben… Welcher Massenmörder würde sich die Mühe machen, sie hier aufs Land zu karren und sie dann noch so auffällig wie möglich zu arrangieren? So ein Baustellennieter ist alles andere als leise, irgendjemand müsste dann irgendwas gehört oder gesehen haben.“
„Dann bleibt nur eine Möglichkeit.“ Grov schaute in die Ferne.
„Nicht zwingend. Voreilige Schlüsse können wir wirklich nicht gebrauchen. Du weißt, dass Muco uns im Nacken sitzt und nur zu gern sehen würde, wie wir einen Fehler machen.“ Er blickte auf seine Uhr. „Wir müssen los.“, sagte er und die Beiden schnippten ihre Zigaretten auf die Straße und schlossen die Fenster.
Elena erwartete sie bereits auf dem Gang.
Ohne ein Wort gingen die Drei die Treppe hinunter, aus dem mittlerweile leeren Wohnzimmer-Empfang hinaus und traten in das fahle Sonnenlicht, das durch die Wolken drang.
Elena zog wieder ihren Untersuchungsordner aus der Handtasche, die sie lässig um ihre rechte Schulter trug. Dass selbige das Symbol von Desert Eagle trug, schien niemanden außer Goldman zu interessieren. Sie blätterte ein wenig in dem Schnellhefter und zog dann ein Blatt hervor, auf dem eine Karte von Raton Laveur zu sehen war. Mit rotem Filzstift waren die jeweiligen Tatorte eingezeichnet. Soweit Goldman erkennen konnte, waren sie in keinerlei Muster oder Bezug zueinander angeordnet. Sie schaute auf die Karte und dann auf ihre Uhr. „Der Polizist vom Nachbardorf sollte eigentlich schon hier warten.“, sagte sie und blickte sich suchend um.
Wie auf Befehl erschien ein korpulenter, kleiner Polizist in voller Dienstuniform auf der anderen Seite der wie ausgestorbenen Straße. Er stolperte auf sie zu.
„Hallo, hallo…“, sagte er und posierte sich vor ihnen. „Tut mir leid, dass ich etwas später komme. Ich hatte noch – zu tun.“, sagte er mit einem schleimigen Lächeln unter seinem Pilzkopf.
Goldman ergriff das Wort. „Und sie sind Monsieur…“ „Madame Dombelvès.“, sagte sie und ihr falsches Grinsen verblasste. Hoppla, dachte Goldman.
„Ich fürchte, die Leichen und alle Beweismittel sind schon nach Montbarvés gebracht worden, zur nächsten Polizeistation. Davon abgesehen sind die Tatorte aber unverändert.“, sagte sie. Davon waren die Drei nicht überrascht – das war Alltag. Sie trafen immer erst einige Tage, wenn nicht Wochen nach den Morden ein.
„Wollen wir?“, fragte die kleine Polizeibeamte. „Ich bring sie zum Tatort Nummer Eins.“
Die kleine Truppe ging auf der einzigen gepflasterten Straße entlang. Grov sprach die kleine Polizistin an. „Das wollte ich sie noch fragen… In welchen Zeitabständen sind denn die Morde begangen worden?“ „Das ist noch so eine Sache… Im Vier-Tages-Takt. Alle vier Tage war irgendwo so eine“, sie spitzte die Lippen, „Sache irgendwo.“
Sie standen schließlich vor einer heruntergekommenen Wirtschaft, abgesehen von einem kleinen Supermarkt der einzige Treffpunkt in dieser Einöde.
„Folgen Sie mir, folgen Sie mir…“, sagte Dombelvès und drückte die Tür auf.
Ein Schwall aus altem Zigarettenrauch und schon einige Male geatmeter Luft traf sie ins Gesicht und ließ sie schon außerhalb der Gaststätte nach Luft schnappen.
Die Frau verschwand im dämmerigen Licht und führte sie vorbei an Menschen im Halbdunkel, die unvorstellbare Mengen an Alkoholika in sich leerten und unvorstellbar obszöne Ausdrücke durch den engen Raum brüllten. Sie gingen um die Theke herum, nickten dem Wirt zu und stiegen eine Treppe hinunter, die bisher hinter dem Bierzapfer verborgen war.
Die Treppe mündete in einen größeren Raum der von hartem Neonlicht erhellt und mit Fitnessgeräten vollgestopft war.
Als alle vier vor den Geräten standen und sich umblickten, fiel ihnen auf, dass noch zwei Menschen ihnen Gesellschaft leisteten.
In einer Ecke saß eine schöne, dunkelhaarige Frau auf einem Paket von Gewichten, die sich mitsamt ihrer Person ruckartig nach oben und wieder nach unten schoben.
Dann erkannten sie Bernard.
Er war ein Riese, der sogar die dicke Celine aus der Gaststätte kurz aussehen ließ. Lässig drückte er mit seinen baumstammdicken Armen alle verfügbaren Gewichte und den Frauenkörper nach oben, ließ sie wieder sinken und zog sie erneut nach oben. Sein Oberkörper war unbedeckt und offenbarte beängstigende Kraftpakete bis in den letzten Winkel. Bernards Kopf schien wie eine kleine Kokosnuss zwischen den riesigen Nackenmuskeln zu stecken und drohte jeden Moment von der adrigen, harten Masse um ihn herum zerquetscht zu werden. Mit einem nicht sonderlich gebildeten Blick aus tief im Schädel liegenden Augen ließ er die Gewichte langsam zu Boden sinken.
Die Frau stieg von dem Gewichteberg herunter und offenbarte die Zahlen auf den Stahlplatten. Goldman traute seinen Augen kaum; die letzte Platte gab ein Gewicht von 195 Kilogramm an.
„Madame Dombelvès… Ich dachte, du hättest den Tatort schon untersucht.“ Ihre Stimme ließ vermuten, dass sie das externe Hirn des Hünen war. Sie sprach ruhig, abwägend.
„Wir haben Ermittlerzuwachs“, Dombelvès betonte das Wort so sarkastisch, wie ihr minimaler Intellekt es zuließ, „bekommen. Die Herrschaften“, sie stieß ihren Finger auf Goldman, Grov und Elena, „sind von der Europol, Therese.“
Therese schaute mäßig interessiert. „Europol? In unserem Dorf? Endlich passiert hier mal was. Nicht wahr, Bernard?“ Selbiger gab eine Mischung aus Grunzen und Schnaufen von sich. „Wir waren hier ohnehin fertig. Machen Sie nur, wir gehen in den Umkleideraum.“ Sie gab Bernard einen kleinen Wink und er richtete sich zu voller Größe auf. Grov, ohnehin kurz gewachsen, hatte das Gefühl, einem Naturschauspiel beizuwohnen. Dieser Riese war einfach verboten groß. Seine Glatze, seine schlecht ausgesuchten chinesischen Tätowierungen auf dem Rücken, seine Neandertaler-Stirn, all das machte ihn zu Grovs neuem Hauptverdächtigen… Einfach aus Prinzip.
„Wir werden uns noch mit ihnen Beiden unterhalten.“, sagte er in einem Ton, der vor gefährlicher Spannung vibrierte. Doch Bernards dröhnendes „OKAY“ ließ seine Stimme einfach untergehen.
Die Urgewalt stampfte zu einer Tür rechts neben einer Apparatur, die einer Streckbank nicht unähnlich sah und verschwand darin, indem er sich bückte und die Schultern einzog. Die treibende kraft schwebte gemächlich hinter ihm her und schloss die Tür.
„Bernard und Therese. Ein merkwürdiges Paar, ganz, ganz merkwürdig.“, bemerkte Dombelvès, als sie sicher war, dass die Beiden außer Hörweite waren. „Therese ist die Tochter von dem Wirt. Die haben aus einem gigantischen Vorratsraum hier ein – wie nennt man das – Fitness-Center gemacht. Die ganze Zeit nur trainieren, trainieren, trainieren…“
Sein „Das würde Ihnen auch mal gut tun“ verkniff sich Goldman fürs erste.
„So, und wo ist jetzt der Tatort? Oder hat man das Mädchen an einen Bizeps-Folterer getackert?“, sagte Grov unwirsch.
„Nein, nein, folgen Sie mir, folgen Sie mir.“, sagte die androgyne Polizistin. Sie war von Grovs Gefühlskälte nicht überrascht. Sie schien sie sogar zu teilen.
Das Grüppchen schlängelte sich durch die Fitnessgeräte und trat am hintersten Ende des Raumes vor eine eichene Tür.
„Da drin ist die erste Frau gefunden worden.“, sagte Dombelvès und blieb unsicher davor stehen. „Soll ich Sie begleiten?“
„Danke, wir werden uns alleine zurechtfinden. Die restlichen zwei Tatorte werden wir morgen untersuchen, also stellen Sie uns bitte einen ihrer Kollegen zur Seite. Um 9 Uhr vor der Pension?“, fasste Goldman kurz zusammen. Diese Frau war wie ein großes Aushängeschild um ihre Brust. „Fremde, nicht füttern“ oder etwas in der Art.
Madame Dombelvès schien leicht pikiert, ihr blieb jedoch nichts anderes übrig als zuzustimmen. Danach blickte sie Goldman trübe mit ihrer Hornbrille mit dicken Gläsern an und machte sich daran, den Raum wieder zu verlassen. Goldman holte tief Luft, zerschnitt das Polizeisiegel mit seinem Fingernagel und betrat den Raum als Erster. Er fand den Lichtschalter und knipste ihn an.
Es war eine kleine Kammer, irgendwann von Käsekammer in Wasch- und Putzzimmer umgewandelt. An der Wand direkt gegenüber konnte man noch die Spur der Körperflüssigkeiten erkennen, die die Leiche gezogen hatte. Da der Raum klein war, konnte sich nur jeder abwechselnd einen Blick von der Situation machen. Goldman untersuchte ein Waschbecken, in dem er Blut zu erkennen dachte. Zu seiner Frustration stellte es sich mit einem Schnelltest als Rost heraus. Er inspizierte die Decke, die von neuen Kupferrohren praktisch verdeckt war und betrachtete die Tiefe und Wucht der Einschusslöcher in der Wand.
Grov und Elena tapsten noch mehr im Dunkeln als er selbst. Nichts war von der Spurensicherung übersehen worden, nichts war auffällig, geschweige denn, verdächtig. Sie fragten sich beide, was sie hier noch trieben.
Goldman bemerkte ihre ratlosen Gesichter. „Ich denke, wir haben alles gesehen, was wir sehen wollten.“, sagte er und schloss die Tür hinter sich.
„Wir gehen wohl am Besten zurück in die Herberge. Oder fällt euch noch etwas ein?“
Keiner der beiden sagte ein Wort und so machten sie sich an ihren nicht allzu langen Heimweg.
Celine war offenbar einen trinken, zumindest hatten sie sich eingebildet, ihr Röhren in dem Gasthaus gehört zu haben. Jedenfalls kamen Goldman und Grov in den Genuss, sich für diesen Tag wenigstens keine „Richtlinien“ mehr anhören zu müssen.
Elena verabschiedete sich vor ihrem Zimmer.
Goldman und Grov marschierten weiter und zogen sich in ihre Zimmer zurück. Es war wohl erst 17 oder 18 Uhr, aber die Reise hatte ihren Biorhythmus aus der Bahn geworfen und so fühlte Goldman sich wie erschlagen, als er den nicht benutzten MP3-Player und seine Zigaretten auf den Schreibtisch warf. Was sollte er jetzt machen? Er war zu wach zum Schlafen und zu müde zum Wachen.
Er hatte eine Idee. Goldman quälte sich bis zu seinem aufgeschlagenen Koffer und fischte den Laptop und einen WLAN-Stick heraus. Dieser würde dafür sorgen, dass er ins Internet kam – vorausgesetzt, dass Celine ein ungesichertes Heimnetz besaß, in das Goldman sich einwählen konnte. Zu seiner größten Freude erkannte der Laptop genau das. Beschwingt suchte Goldman nach einem Stecker um seine neue Entdeckung nicht durch Akkuversagen zu verlieren. Da, direkt unterhalb des Waschbeckens gab es eine Buchse. Goldman zweifelte ernsthaft daran, dass jemals ein anderer Gast diese gefunden hatte.
Innerhalb von wenigen Minuten war Goldman wieder topfit und hatte jeden Hightech-Krempel um sich geschart, den sein Koffer herzugeben vermochte.
Goldman genoss die erste Website, die er aufrief, wie ein Fischer, der einen besonders dicken Fang gemacht hatte. Seine E-Mails öffneten sich rapide vor ihm – Celine hatte zu seiner Freude nicht an Geschwindigkeit gespart – und er hatte für die nächsten Stunden eine Beschäftigung.
Eine der Mails fing Goldmans Blick auf. „Vibrating Cock-Rings – only 5 Dollars and the girls will love you!!“ Goldman kratzte sich am Kopf. Was zur Hölle sollte das heißen?  Die Mädels würden sich also um ihn scharen und schreien „Mein Gott, seine Nudel vibriert so toll!“?
Diverse andere Spam-Mails beanspruchten seine Aufmerksamkeit, und er löschte dieses genauso unmoralische wie merkwürdige Angebot mit Freuden.
Nachdem Goldman alle Werbemails aus seinem Posteingang gelöscht hatte, was etwa eine halbe Stunde dauerte, sah er, dass er nur zwei normale Mails bekommen hatte. Eine war von einer zwielichtigen Webbekanntschaft, der über eine erstaunliche Sammlung von Links zu ekelerregenden Pornos verfügte, und die andere war von Muco. Unzweifelhaft, welche interessanter war. Goldman öffnete die E-Mail von Demix_Tunder_744 und tauchte ein in die unbeschreiblich schlüpfrige Seite des Internets. Die Internetbekanntschaft hatte ihm nur einen einzigen Link geschickt.
Er klickte darauf und ein Video begann sich vor ihm aufzubauen.
Ein großer Slogan verkündete „Japanese Hentai – Finest in World“ Goldmans Interesse war geweckt. Er verfolgte fasziniert die Handlung und packte dabei sein kleines Pfeifchen und eine neue kleine Tüte aus seinem Koffer aus.
Diese war schnell erkannt – in einem kleinen Dorf in Japan entstanden aus einem Fluch heraus – mangels besserer Bezeichnung – Schwanzfrauen, die die Welt übernehmen wollten. Das erreichten sie, indem sie andere Frauen zu Schwanzfrauen machten. Wie sie das taten, war mehr als ersichtlich.
Begeistert verfolgte Goldman, wie eine der Schwanzfrauen den Uterus der Macht fand, der ihr so viel Kraft verlieh, dass ihr drei neue Penisse wuchsen. Ihre Macht dadurch war beinahe unendlich. Sie schleuderte große Blitze mit ihren Genitalien und die anderen Schwanzfrauen knieten vor ihr nieder. Goldman musste lachen, als die ohnehin schon abstruse Geschichte eine neue Wendung bekam; ein Mann hatte ebenfalls den Uterus der Macht gefunden und nun genauso viele Genitalien wie seine Erzfeindin. Ein großer Kampf zwischen Gut und Böse brach aus, während beide sich mit ihren primären Geschlechtsorganen bekriegten. Goldman lachte Tränen.
Während Goldman zwei Räume weiter vor dem Laptop gackerte und kiffte, hatte Elena ihren Koffer ausgeräumt und starrte aus dem Fenster.
Ihr Schulterhalfter mit dem Revolvermonster ruhte auf ihrem Nachttisch. Sie hatte in dem an das Zimmer angeschlossenem Bad eine Dusche genommen. Jetzt brütete sie wieder vor dem Untersuchungsordner, doch egal, welche Theorien sie aussponn, alles schien einfach überhaupt nicht zu passen. Die Tatorte, eine Fitnessabstellkammer, eine Hausfassade und ein Garten passten einfach nicht. Keine Übereinstimmungen. Nichts.
Frustriert ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Morgen würden sie und Grov die anderen Tatorte besichtigen, und Goldman würde sich im Dorf umhören und alle Aussagen aufnehmen, die ihm wichtig erschienen. Das war ihr gewohnter Arbeitsablauf, und sie fand gewissen Gefallen daran. Aber dieses Mal war irgendetwas anders. Sie entkleidete sich und legte sich in ihr Bett. Und sie würde herausfinden, was es war.

Der nächste Morgen brach so unbarmherzig an, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Goldman war über seinem Laptop eingeschlafen und hatte die Tastatur vollgesabbert; sein Pilzkopf wirkte noch struppiger und schmutziger als sonst. Bei der ungefähr fünfhundertsten Folge WoMenWars, dem Hentai vom Vortag, war er eingeschlafen. Er kratzte sich am Kopf und betrachtete den Schaden um sich herum.
Seine Pfeife war ihm aus der Hand geglitten und die Asche hatte sich tief in die schöne Schreibtischplatte eingebrannt. Er hatte offenbar bekifft versucht, sein Zimmer umzudekorieren. Überall waren Schnipsel von Gemälden Dalís an die Wand getackert, die er in seinem Koffer mitgebracht hatte. Alles in Allem war es nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Immerhin hatte er dieses Mal nicht versucht, aus dem Fenster zu urinieren oder war um fünf Uhr morgens mit einem Totschläger in der Hand auf Katzenjagd in der Nachbarschaft gegangen, sonst läge nämlich ein weich geklopftes Frühstück auf seinem Bett.
Er tastete nach seiner Armbanduhr, ein altes Stück, das in seinem Namen die komplette Lebensvorstellung Goldmans benannte: Breitling.
Sie zeigte ihm 8 Uhr morgens, Goldman konnte es nicht fassen. Sich vor 14 Uhr derart ausgeschlafen zu fühlen, war nun wirklich nicht seine Art. Schnell schnappte er sich ein paar frische Kleider aus seinem Koffer und spurtete mit haarsträubender Geschwindigkeit halb nackt bis ins Bad am Ende des Ganges. Nach dieser Großtat wollte er sich gerade mit einer Dusche dafür entlohnen, aber Celine hatte kein Shampoo bereitgestellt. Goldman atmete einmal tief ein. Dann rannte er den Weg zurück, packte eine Flasche Duschgel aus seinem Koffer und schnellte zurück ins Bad, wo er sich einschloss und flach atmend seinen Triumph genoss.
Nach einer ausgiebigen Dusche ging Goldman federnden Schrittes zurück in sein süßlich-herbal duftendes Zimmer und stieß die Fenster auf. Der Geruch musste heraus, oder Celine würde ihn umbringen. Wenn dieses Landei jemals in ihrem Leben Cannabis gerochen hatte, würde er ein echtes Problem haben.
Die Uhr an seinem nassen Arm glitt immer wieder vor und zurück, jetzt hatte sie sich an seinem Arm verkeilt und schnürte ihm die Blutzufuhr ab. Flüchtig schaute er auf das Ziffernblatt, während er sie den Arm hinunterschob. Er hatte bereits 5 Minuten Verspätung. Also noch reichlich Zeit für eine Zigarette und einen Schokoriegel aus seinem Koffer.
Er lehnte sich aus seinem Fenster und ließ den Blick über die Straße schweifen. Rechts neben ihm waren Grovs Rollläden immer noch heruntergelassen. Das freute Goldman; er würde nicht der Einzige sein, der zu spät kam. Außerdem würde er sich sowieso alleine durchs Dorf schlagen müssen, während Elena und Grov die beiden anderen Tatorte besichtigten.
Hinter Grovs Rollläden schien etwas vorzugehen. Dichter Rauch, wie ihn nur eine Karo-Zigarette produzieren konnte. Grov hatte mehr Courage als Goldman ihm zugetraut hatte. Celines Schatten hing schließlich über den Beiden wie ein Damoklesschwert. Goldman blickte nun wieder auf die Straße, die nun mit einigen wunderlichen Gestalten bevölkert war. Er entdeckte einen sehr alten Mann, der eine Baskenmütze umgedreht hatte und sie nun als eine Art Barett trug. Sein Gang, der an Stechschritt grenzte und seine wachsamen Augen, die alles um ihn herum zu erfassen versuchten, ließen auf eine militärische Karriere schließen. Den würde er sich nachher vornehmen, so viel, wie der alte Sack herumstarrte. Er sah Madame Dombelvès und einen Kompagnon vor dem Hotel lungern und warten. Der Anblick verbesserte seine Laune nicht.
Grovs Fensterläden wurden nach oben gezogen und Goldman sah kurz seine Hand, wie er eine Kippe achtlos auf die Straße schnippte. Sie verfehlte eine junge Frau, die einen großen Korb mit Möhren schleppte, um Haaresbreite. Verdammt, dachte Goldman bei sich. Das wäre lustig geworden.



_________________
You can be watching TV and see Coca-Cola, and you know that the President drinks Coke, Liz Taylor drinks Coke, and just think, you can drink Coke, too. A Coke is a Coke and no amount of money can get you a better Coke than the one the bum on the corner is drinking. All the Cokes are the same and all the Cokes are good. Liz Taylor knows it, the President knows it, the bum knows it, and you know it.
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