Dünne Fäden I + II

[tassilok]

Dünne Fäden I

Ich muss noch schnell, so kurz vor Acht,
den USB-Stick
für die Sitzung Morgen,
nach der Nacht, besorgen

Er ist für’s Meeting,
um die Zahlen unsres Teams,
dem Vorstand aufzutischen,
ohne Scham
sie mit Illusionen zu versorgen

Mein Blick trifft über einer Drehtür,
die Gemurmel schluckt und speit,
den neon leuchtend Gruß,
der mich willkommen heißt.

Und auf dem Eingang,
wie eine Krone, sitzen Stacheln,
um den ungeliebten Gästen
aus der Luft die Ruhe nicht zu gönnen.


Dünne Fäden II
Dünne Fäden, an stählernen Drähten,
laden dich nicht ein.
Atem, weiß und filigran vergänglich,
streicht dir über’s Federkleid.

Ein roter Tropfen rinnt herab
und Neonlicht lässt schillern ihn,
ich trete unter deinem Grab hindurch,
vergess dich nicht, muss weiter ziehn!

[tassilok]

Ich brauch noch den USB-Stick für das Meeting, Morgen um 09:00. Die Präsentation kopier ich nachher auf den Stick und nehm ihn Morgen mit zum Meeting. Ich werde den Herren Zahlen präsentieren, die unser Team in gutem Licht darstellen.
Ob ich mich Schäme, zu bescheißen? Nein, überhaupt nicht, denn das gehört dazu! Sonst ist man immer der Idiot, so läuft das Spiel eben.

Ganz schön Kalt, hier draußen. Im Parkhaus war's etwas wärmer, aber hier unten vor der Passage, ist's doch sehr kalt. Es ist schon kurz vor 8, jetzt aber schnell noch zum Saturn und den Stick kaufen.  Gleich machen die Geschäfte zu.

Schön, wie die weißen Schleier meines Atems sich verflüchtigen, so vergänglich. Schluss jetzt, die paar Schritte noch zur Drehtüre und dann rein!

Das ist ja faszinierend, wie die Türe das Geplauder der Menschen schluckt, die rein gehen und wie sie's ausspuckt, wenn welche herauskommen!

"Herzlich Willkommen" Ja, der Neongruß über der Drehtüre ist für meinen Geldbeutel gedacht! Welche Neonbuchstaben würden wohl für Penner dort stehen? "Draußenbleiben!" oder "Verpiss dich, Schmarotzer!"

Was is'n das? Wie bizarr! Stahlstifte über dem Spruch "Herzlich Willkommen"! Ach so, über der Drehtüre könnten ja Tauben landen und die Stahlstifte sollen das verhindern! Zwischen den Stiften ziehen sich Spinnweben, wie dünne Fäden, dass lässt doch das "Herzlich Willkommen" in einem ganz anderen Licht erscheinen: "Herzlich Willkommen ihr Flugratten  !"

Oh Gott, da hängt ja eine! Und der rote Strich da, auf dem "Herzlich Willkommen", das ist Blut! Armes Tier. Jetzt muss ich auch noch unter einem Grab durchlaufen! Da wart ich, bis keiner mehr in der Drehtüre ist, dann kann ich schnell rein laufen.

Jetzt krieg ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Ich kann doch nichts dafür, dass die dort solche Todesfallen aufbauen. Was ist das Viech auch so blöd und…

Schnell, jetzt ist frei!

[Gine]

Hallo tassilok!

Bin gerade dabei, mir an deinem Versmaß die Zähne auszubeißen.
Komisch ... dafür, dass ich da einfach keine Ordnung reinbringen kann, gefällt es mir erstaunlich gut. Ganz besonders im Zusammenhang mit den Prosatext, der doch so Manches erklärt.

Vielleicht liegt es ja gerade daran, dass es sich mal reimt und mal nicht (und gelegentlich an Stellen, an denen man es nicht erwarten würde), dass ich es ganz besonders aufmerksam gelesen habe.


Verwirrte Grüße
Gine

P.S.: Arme, arme Taube(n)

[Eredor]

Hi,

wirklich unglaublich, was du in deinem Gedicht versteckt hast. Für mich hat sich so ziemlich alles durch das Lesen des Prosatextes entschlüsselt.

Meiner Meinung nach war das ein wenig zu kryptisch. Aber da kann man nichts machen, das ist alles Geschmackssache.

Ich hoffe, dass wir noch einige deiner Texte zu lesen bekommen werden.

lg Dennis

[tassilok]

Hallo Gine,

vielen Dank für deine Antwort. Das mit dem teilweisen Reimen mach ich seit einiger Zeit. Ich finde, dass ein Wechsel zwischen strengem Schema und freier Formulierung den Zeitgeist widerspiegelt.

Auf der einen Seite postulieren wir ständig unsere Freiheit und auf der anderen Seite steigern wir die Anforderungen und versteckte Zwänge.

Mir gefällt an den zwei Teilen des Gedichts vor allem der Übergang der Stimmung von einer beiläufigen Oberflächlichkeit zu einer tiefen Nachdenklichkeit. Im Prosatext hab ich das nicht so gut getroffen, wie in den Gedichten.

Danke.

Tschüss.

Tassilo.

[tassilok]

Hallo Dennis,

auch vielen Dank für deine Antwort.

Meine Frau meinte auch, dass das Gedicht für jemanden, der nicht vor dem Eingang stand und diese "Vogelabwehr" über den "Herzlich Willkommen" Neonbuchstaben gesehen hat, unverständlich seien. Deshalb habe ich den Prosatext gepostet. Zusammen mit diesem finde ich das Gedicht sehr verständlich und auch eindringlich und ich glaube, dass durch die Form des Gedichtes die Eindringlichkeit gesteigert wird.

Danke.

Tschüss.