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Die Brunnenfrau


 
 
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Pinta Oleander
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen

Alter: 63
Beiträge: 42
Wohnort: Valensole/France


Beitrag09.11.2008 12:21
Die Brunnenfrau
von Pinta Oleander
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Die Brunnenfrau

Es war einmal eine junge Frau, die lebte mit ihrem Mann und ihren Kindern am Rande eines dunklen Waldes. Tagein tagaus musste sie hart arbeiten: Reisig und Holz für das Feuer sammeln, Wasser schleppen, den Garten umgraben, Unkraut jäten, Gemüse ziehen, Essen kochen, Kleidung nähen, Strümpfe stopfen, Wäsche waschen, Kinder streicheln, trösten und unterrichten, Ordnung schaffen, sauber machen und und und.
Bei all diesen rastlosen Tätigkeiten blieb ihr keine Zeit für sich selbst; sie versuchte jedoch fröhlich und munter zu bleiben und stimmte oft ein Liedchen an, das von Herzen kam, ihr ganz leicht über die Lippen huschte und ihrem Lächeln etwas Geheimnisvolles verlieh.

Ihr Mann war von großer Vergesslichkeit. Unselig ließ er alles herumliegen, stiftete Unfrieden und wurde nicht selten von Übellaunigkeit anheim gefallen. Seine Stimme war herrisch und seine Taten gebieterisch.
Oft schlich er von zu Hause fort mit der Eingebung, auf die Jagd zu gehen und seiner Pflicht nachzukommen, die Familie zu ernähren. War er jedoch erst einmal in den dunklen Wald eingedrungen, wurde er von der intensiven Farbe des Blätterwerks, den Geräuschen der vielen Tiere, der Anmut und der vielfältigen Schönheit der Pflanzen so irritiert, dass er den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte und tage- und nächtelang herumirrte, ohne auch nur das geringste Wild erlegt zu haben. Er vergaß dann sogar seinen Namen und seine Herkunft. Wenn er nach langer Abwesenheit wieder sein Haus erblickte, kehrte sein Gedächtnis vorübergehend zurück, ohne wirklichen Schaden genommen zu haben.

Sie nahm ihr Leben auf sich wie eine schwere Last, die man eben zu tragen hatte, konnte sich aber dennoch den Zweifeln nicht erwehren, dass irgendetwas in ihrem Leben nicht am richtigen Platze war.

So ging es jahrein jahraus, die Kinder wurden groß und zogen in die Ferne. Die Jahre vergingen wie im Fluge und die junge Frau wurde nicht mehr jünger: ihre Hände verkrümmten und ihr Rücken rundete sich, die Zähne wurden gelb, die Haare strohig, der Teint verblasste, das liebliche Lächeln auf ihrem Gesicht erlosch und in ihrem Gemüt herrschte feindselige Dunkelheit. Immer wieder nagten widrige Zweifel an ihrem Wohlsein und sie schaffte es nicht mehr, die Dinge genau zu benennen und sie zu unterscheiden.
Bei all diesen konfusen Umständen verlor sie schließlich ihren Appetit und eines Morgens, als sie neben ihrem Mann erwachte, hatten sich ihre Zähne wie von selbst in die Matratze eingegraben, der offen stehende Mund verzerrte sich und hatte die ganze Nacht über wie eine offene Wunde geblutet... ihr Gesicht war zu einer grotesken Maske erstarrt !
Vor Schreck erhob sie sich, um in den Spiegel zu sehen, aber im Spiegel war ihr Antlitz nicht mehr zu finden; es hatte sich aus dem Staube gemacht.
Die bittere Erkenntnis ihres Unglücks fiel über sie her wie ein Schwarm Heuschrecken und laut gellten ihre Schreie ins Land. Niemand hörte sie jedoch, niemand nahm Notiz von ihrer Verzweiflung und selbst der Mann neben ihr schien für immer zu schlafen.
Panisch lief sie hinaus und durch den Schleier der herausstürzenden Tränen sah sie den Brunnen vor dem Haus. Dort, an jenem Brunnen hatte sie jeden Abend gestanden und mit verschränkten Armen über den Brunnenrand gebeugt leise über ihr Schicksal geweint. Die unzähligen Tränen hatten sich über die Jahre hin zu einer reichen Quelle angesammelt und den Brunnen gefüllt.
Der Brunnen war ihre einzige Zuflucht gewesen und jetzt, im Augenblick tiefster Grämung, ging sie langsam und mit weichem Schritt auf ihn zu. Das Herz klopfte wild in ihrer besorgten Brust und das Atmen fiel ihr schwer.
Am Brunnenrand angekommen, klammerten sich ihre feuchten Hände in den staubigen Stein und langsam richtete sich ihr vom Schluchzen geschüttelter Körper wieder auf, um sich über den Rand zu beugen.
All die Jahre, die sie mühsam in Kauf genommen hatte, zogen in ihrem Gedächtnis vorbei in Form von Erinnerungen; sie hörte das Lachen in den Kinderkehlen, sie schaute auf die sonnigen, vor Fruchtbarkeit strotzenden Felder, sie dachte an das wärmende Feuer im Kamin und den blendenden Schnee vor ihrer Tür, sie hörte unzählige Vogelstimmen, die sie morgens aus dem Schlaf sangen, sie erlebte von neuem das Wechselspiel von harter Arbeit und friedlichem Müßiggang, das Hin- und Her der Jahreszeiten, das Auf- und Ab der Pflichten, Tätigkeiten und Gefühle, das Weggehen und das Wiederkommen... und selbst der krankhaft mürrische, erbitterte, griesgrämige und nichts liebende Mann an ihrer Seite erschien ihr jetzt wie eine trügerische Einbildung...
So stand sie da, versunken in der Erinnerung ihres Lebens, eingegangen in ihren Traum, der wirklich zu werden schien.
Wie von selbst hatte sie sich über den Brunnenrand gebeugt und schaute auf das stehende Wasser hinab. Anfangs sah sie nur die Spiegelung des offenen Himmels mit den wenigen Wolken davor, doch langsam kristallisierte sich auf der glitzernden, leicht wogenden Wasseroberfläche ein Gesicht, das sie schon einmal gesehen hatte.
Doch trotz großer Anstrengung konnte sie sich weder seiner Herkunft erinnern, noch die Lücke im Gedächtnis wieder schließen. Aber dem Gesicht machte dies nichts aus, es schien freundlich und geduldig, strahlte Zuversicht aus wie eine Höhensonne und gab ihr letztlich den Glauben an sich selbst zurück.
Ein tiefes Gefühl von Glück und Frieden drängte sich in ihre schmerzende Seele und übertönte ihr Malheur. Dankbar streckte sie die Hände aus, um das Gesicht zu berühren und verlor dabei das Gleichgewicht.
Kopfüber und mit geschlossenen Augen fiel sie in den Brunnen. Das Wasser teilte sich und nahm sie auf wie einen Fremden, den man hereinbittet und ihm einen Teller Essen hinstellt. Sie glitt in die Flut ohne zu ertrinken, als wäre das Wasser schon immer ihr Element gewesen. Sie trieb hinab in eine andere Welt und ließ ihn los, den Lebensschmerz.

Ist ein Brunnen ein ausgegrabener Schacht, der irgendwo endet? Und wenn ja, dann wo? Im Inneren der Erde? Im Ursprung? Im Nichts?

Sie tauchte ein in die Unendlichkeit menschlicher Existenz, sie schwamm durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ließ sich treiben zwischen Raum und Zeit, ohne diese auch nur zu berühren oder zu bewegen.

Als sie zur Ruhe gekommen war und die Augen von neuem öffnete, sah sie ein weibliches Wesen mit langen grünen Haaren, die vom Wasser getrieben leicht um den nackten, jugendlichen Körper spielten. Die ästhetische Schönheit dieses Wesens verschlug ihr den Atem. Es trug das Gesicht, das sie oben im Brunnen auf der Wasseroberfläche gesehen hatte. Die Brunnenfrau besaß keine Beine sondern einen langen Fischschwanz, der über und über mit hellgrün schillernden Schuppen versehen war. Seine leichten Bewegungen waren dem Wasser angeglichen und hatten nichts Wirkliches an sich.
"Du brauchst keine Angst mehr zu haben», sagte die Brunnenfrau mit singender Stimme und strich sich über die Haare.
"Deine Wunden sind verheilt und deine Tränen getrocknet. Du hast mir das Leben geschenkt, das du selber nicht mehr wolltest. Jetzt bist du frei und kannst tun und lassen was du willst."
"Ich weiß aber gar nicht was ich will», antwortete die Frau, verwundert über sich selbst.
"Du wirst es bald erfahren. Du kannst hier leben, es gibt genug Platz für uns beide. Ich habe lange auf dich gewartet - jetzt endlich bist du gekommen. All die Jahre, die vergangen sind, sind nicht umsonst gewesen. Deine Tränen haben das Wasser befruchtet und den Brunnen gefüllt, damit ich in ihm wirken kann."
"Aber was tust du hier auf dem Grund meines Brunnens?"
"Es ist der Brunnen des Lebens und er gehört nur sich selbst. Ich bin da, weil du mich gerufen hast. Ich werde bald zum Meer hinausschwimmen und auf dem Grund meinen Palast erbauen. Wenn du es wünschst, kannst du mit mir kommen. Aber ruhe dich jetzt erst einmal aus, du hast es verdient. Und vergiss nicht: alles ist möglich und es ist nie zu spät!“
Und damit verschwand sie in den Fluten.

Die Frau fühlte sich beruhigt. Sie wusste jetzt, warum sie sich ihr Leben lang Tausende von Fragen gestellt hat, warum sie oft mit ihrem Schicksal gehadert hatte, warum man Kinder auf die Welt bringt, die doch eines Tages sterben werden, warum der Mann an ihrer Seite keinen Halt geben konnte, warum man Dinge tut, die man später bereut, warum es immer und immer wieder Unzulänglichkeiten und Missverständnisse gibt, warum man eigentlich nicht allein sein will und doch mit den meisten Menschen nicht atmen kann...

Und dann sah sie das Gesicht wieder, das Gesicht, das ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Stärke und ihre Kraft in sich verewigt hatte. Es war ihr Spiegelbild… von jetzt an würde sie es besser hüten.



_________________
Lügen haben kurze Beine und die Wahrheit fährt im Rollstuhl...
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