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Spuren im Sand


 
 
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Sterneule
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Beiträge: 8



S
Beitrag27.08.2015 11:14
Spuren im Sand
von Sterneule
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Spuren im Sand

Vor mir läuft ein Junge, übermütig springt er über die Wellen, spritzt mit dem Wasser. Ich sehe die Spuren im Sand, kaum eingedrückt. Der große Zeh ragt heraus, er bildet einen eigenen Ton. Er flitzt davon, nur die roten Haare leuchten. Rote Haare? Er ist blond. Wer rennt vor mir? Dieser Junge oder ein anderer aus einer anderen Zeit. Ein Junge mit feuerroten Haaren und einem besonderen Fußabdruck. Mein Bruder war sechs Jahre jünger als ich.
In dem Jahr, als mein Bruder sieben geworden war, fuhren wir nach Langeoog. Mein Bruder liebte den Strand, die Wellen. Jede Qualle schob er zurück ins Wasser. Er fütterte die Möwen mit Brotkrumen, sammelte Hühnergötter.
Eine Sturmflut zog auf. Das Meer überflutete den Strand, Mein Bruder durfte nicht mehr allein an die Nordsee gehen, ich musste ihn begleiten. Früh gingen wir gemeinsam fort, wir trennten uns im stillen Einverständnis. Ich traf mich mit einem Freund. An unserem Treffpunkt war er nicht. Ich kam einige Minuten zu spät, bestimmt saß er längst zu Hause, biss in sein Honigbrötchen.
Außer Atem kam ich in der Pension an, mein Bruder fehlte. Ich suchte ihn, erst am Strand, auf der Landungsbrücke, zwischen den Dünen. Ich fand ihn nicht. Ich fragte die Menschen, die mir entgegen kamen: „Haben sie ihn gesehen? Meinen Bruder. Er hat rote Haare.“ Niemand kannte ihn. Ich hätte auf ihn aufpassen sollen. Wo war er nur? Ich wagte nicht, auf das Meer hinaus zu sehen. Ich fragte in der Eisdiele nach, im Wellenschwimmbad, in der Bücherei. Mein Bruder blieb verschwunden. Wie sage ich es nur den Eltern? Ich fror, als ich vor der Pensionstür stand. Sie saßen schon beim Frühstück. Mutter guckte mich vorwurfsvoll an, als ich kam: „Wo bleibt ihr denn?“
Ich konnte ihr das Furchtbare nicht erzählen. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, Vater öffnete. Ein großer Mann stand draußen, er hielt meinen Bruder mit beiden Armen, der Kopf mit den feuchten Haaren hing herab, die Augen  geschlossen. Für einen Moment durchströmte mich Erleichterung. Der Aufschrei meiner Mutter ließ mich innerlich gefrieren. Sie rutschte in sich zusammen, ich fing sie auf und zog sie ins Schlafzimmer. Ich blieb bei ihr. Ein Arzt verabreichte ihr eine Beruhigungsspritze. Kurz wachte sie auf, sie sah mich vorwurfsvoll an: „Warum hast du nicht auf deinen Bruder aufgepasst?“ Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Vater lief im Wohnzimmer auf und ab. Er würdigte mich keines Blickes. Ein Beerdigungsinstitut hatte meinen Bruder abgeholt. Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Hause. Meine Vater sah mich nicht an, meine Mutter blickte anklagend.
Ich bin das erste Mal wieder am Strand, in Langeoog. Zwanzig Jahre sind vergangen. Es erscheint mir, als wäre es gestern passiert. Für meinen  Vater war ich gestorben, zusammen mit meinem Bruder. Er ging ins Ausland. Mutter ließ sich in ihrem Kummer treiben, sie trank. Nie hat sie den missbilligenden Blick verloren. Ich kümmerte mich um Mutter, versuchte ihren Alkoholkonsum zu verbergen, fälschte ihre Unterschrift, da ihre Hände zitterten. Nach der Schule begann ich als ungelernte Arbeiterin am Fließband, ich musste Geld für Mutter und mich verdienen. Ich arbeite dort heute noch. Im Spiegel sehe ich eine verhärmte Frau, die nie gelebt hat. Vor einem Jahr starb Mutter. Ich fühlte mich befreit von ihr, aber nicht von meiner Schuld.

Die Spuren im Sand verlocken mich ihnen zu folgen. In das Wasser hinein, bis ich den Boden unter den Füßen verliere. Untergehen in den Wellen, das Leben hinter mir lassen. Wenn ich Glück habe, zieht eine Sturmflut auf. Jeden Tag gehe ich zum Strand, ich suche nach meinem Bruder. Es ist ein Zwang, dem ich nicht entkomme. Niemand wird mich vermissen. Ich habe keine Freunde, mit Mutter war das nicht möglich. Vater fragt nicht nach mir. Er wird froh sein, wenn ich nun auch tot bin.
Das Meer steigt, die Sturmflut ist da. Abends um zehn Uhr gehe ich zum Strand hinunter. Das Wasser tost. Ich wate hinein. Das Meer reißt mich mit. Die auslaufende Flut drückt mich nach unten. Ich verliere mein Bewusstsein. Eine Jungenstimme sagt: „Wach auf. Du kannst hier nicht sterben. Lebe um meinetwillen. Höre auf, dich selbst zu bemitleiden. Es war meine Schuld, dass ich gestorben bin, nicht deine. Ich wollte eine Muschel retten und fiel ins Wasser. Nun wach doch auf.“
Ich öffne die Augen. Sie sind verklebt vom Salz der Nordsee. Ich muss husten, ein Schwall Wasser fließt aus dem Mund. Wo bin ich? Ich liege im Sand. Ein Mann mustert mich besorgt. Noch mehr Salzwasser strömt aus mir heraus. Ich bin müde, todmüde. Der Mann trägt mich in ein Haus und legt mich ins Bett. Mit einem Federbett deckt er mich zu. Ich schlafe tief, wie lange nicht mehr.
Eine knarrende Tür reißt mich aus dem Schlaf. Der Mann steht neben mir.
„Wo bin ich?“
„Du bist bei mir. Ich zog dich gestern wie eine nasse Katze aus dem Meer.“
„Wieso warst du dort?“
„Ich beobachte dich schon länger. Deinen Bruder konnte ich nicht retten, damals. Aber dich wollte ich nicht verlieren.“
„Du warst das.“
„Warum wolltest du sterben?“
„Mein Leben ist nichts wert. Ich fühle mich schuldig an seinem Tod.“
„Du bist nicht schuld. Dir hätte niemand die Verantwortung für einen siebenjährigen Jungen aufbürden dürfen.“
Gemeinsam frühstücken wir. Es schweigt sich gut mit ihm. Ich gehe zurück in die Pension und hole meine Sachen. Er begleitet mich bis zur Fähre.

Ich schließe meine Wohnung auf. Am liebsten liefe ich davon. Immer noch liegt der Geruch von Alkohol und Erbrochenem in der Luft. Ich hasse diese Wohnung, die Erinnerungen an Mutter. Die Post liegt auf dem Dielentisch, ich nehme sie mit ins Wohnzimmer. Rechnungen, Werbung, Lohnabrechnung, Post von der Bank, das Übliche. Nein, halt, da liegt noch ein Brief mit ausländischen Briefmarken. Ich drehe ihn um. Ich erschrecke, ein Brief von Vater. Was will er? Soll ich ihn wegwerfen? Die Hände öffnen ihn. Der Brief liegt vor mir, ich wage kaum ihn anzuschauen. Ich fasse mir Mut. Ich lese:
„Liebe Tochter,
Ich erfuhr von einem Bekannten, wie es euch ergangen ist. Mir ist klar geworden, dass ich dir die Schuld am Tod unseres Kleinen auflastete, um mich nicht selbst meiner Schuld zu stellen. Es muss für dich die Hölle gewesen sein, deine Mutter durch ihre Alkoholsucht zu begleiten. Du bist früh arbeiten gegangen. Du hattest keine Chance, dir selbst ein Leben aufzubauen. Ich ließ dich allein, als du mich am meisten brauchtest. Ich kann es nicht wieder gut machen. Ich werde dich unterstützen, du sollst deinen Weg gehen können. Ich bin in einer Woche bei dir, dann sprechen wir über alles. Ich hoffe, du verzeihst mir.
Dein Vater.“
Die Woche ist über meinem Urlaub vergangen und er ist nicht hier. Ich räume die Post weg. Zwei Schreiben Brot mit Käse reichen für das Abendbrot. Ich setze mich vor den Fernseher. In den Nachrichten wird von der Sturmflut an der Nordsee berichtet.
Es klingelt.
Mein Vater steht draußen. Er schaut mich an. Ich schließe die Tür vor ihm. Vielleicht später einmal. Ich werde meinen Weg allein gehen. Ich bin stark.

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Christof Lais Sperl
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Beitrag27.08.2015 11:18
Schön...
von Christof Lais Sperl
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...aber was sind Hühnergötter? Dein Erzählfluss ist gut!

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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 11:21
Hühnergötter?
von Sterneule
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Das sind Steine mit einem Loch in der Mitte. Findet man am Meer oft. Ich weiß auch nicht, warum sie so bezeichnet werden.
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hobbes
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Beitrag27.08.2015 11:56

von hobbes
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Hier gibt es doch gerade irgendwo einen Faden zur Präsens-Frage. In diesem Text passt es meiner Meinung nach gut, aber nun ja, ich mag das ja sowieso.

Aber zum Text an sich: Hm, schwierig. Vom Grundlegenden her gefällt mir das, vom Inhaltlichen her sowieso, das Schreiberische passt auch, nichts, was mich so richtig aus dem Text herauswirft.

Und doch bin ich nicht ganz überzeugt.

Vermutlich liegt das zum einen an der Länge bzw. der Kürze des Texts. Das geht mir fast ein bisschen schnell alles, ich kome kaum hinterher. Und eben mit diesem Eindruck erscheint mir der auftauchende Retter in der Not, der Brief des Vaters mehr wie ein Mittel zum Zweck, weniger zwingend aus der Erzählung heraus. Anders gesagt, es meldet sich der leise Verdacht, dass das nicht ganz stimmig ist, mehr gewollt, weniger "echt". Dazu kommt noch, oder vielmehr das wirkt dann damit zusammen, dass du nicht viel Neues erzählst. Diese Geschichten, diese Figuren - es ist fast ein bisschen zu sehr Klischee, zu oft schon gehört/gelesen, zu wenig eigene Stimme. Ich vermute, wenn du deiner Protagonistin bzw. der Geschichte an sich mehr Raum zugestehst, könnte das schon ganz anders aussehen.

Im Grunde erlebe ich sie (die Prota) momentan hauptsächlich über die Art, wie sie die Geschichte erzählt. Nüchtern, emotionslos - und das passt ja auch, nur ist es mir im Gesamten fast zu wenig.
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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 12:42
Danke für deine Antwort
von Sterneule
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Das hieße ja, die ganze Geschichte neu ausarbeiten. Ich werde es versuchen.
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hobbes
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Beitrag27.08.2015 13:02
Re: Danke für deine Antwort
von hobbes
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Sterneule hat Folgendes geschrieben:
Das hieße ja, die ganze Geschichte neu ausarbeiten. Ich werde es versuchen.

Ich weiß nicht, ob es das wirklich heißt. Ich könnte mir wie gesagt vorstellen, wenn du allen und allem mehr Raum* gibst (wobei ich jetzt leider auch nicht die leiseste Idee habe, wie das genau aussehen könnte), dann wäre das schon etwas ganz anderes.

Aber vielleicht meldet sich auch noch jemand, der eine ganz andere Idee dazu hat.



* Das ist jetzt wirklich ganz banal gemeint: Prinzip: aus fünf Seiten zehn machen.
(Du liebe Zeit, ich kann selbst kaum glauben, dass ich sowas mal sage)
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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 13:13
Mehr Raum
von Sterneule
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Ich hatte anfangs noch die Geschichte des Bruders erzählt, doch das erschien mir dann überflüssig.
Ich könnte mir vorstellen, dass der Retter von dem Mädchen spricht, dass die Ich-Erzählerin einst mal war.
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gold
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Beitrag27.08.2015 13:31

von gold
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Hallo Sterneule,

mir ist das Ganze zu glatt. Interessant wäre m.E. die inneren Konflikte der Prota noch etwas auszuführen. So liest sie sich leer, was sie vermutlich auch ist. Aber es wäre doch ganz gut, dies noch mehr zu zeigen.

Zitat:
Ich könnte mir vorstellen, dass der Retter von dem Mädchen spricht, dass die Ich-Erzählerin einst mal war.


Ich denke, das wäre ein interessanter Ansatz.

Der Titel "Spuren im Sand" ist mir zu abgegriffen.
Der Titel "Suren im Sand" wink hatte mich gelockt, da ich dachte: "Suren im Sand", das klingt interessant, das ist bar jeder Ironie! das muss ich unbedingt lesen. Hättest du den Fehler nicht gemacht, hätte ich die Kurzgeschichte vermutlich nicht gelesen. wink

Liebe Grüße
gold


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rieka
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Beitrag27.08.2015 14:51

von rieka
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Deine Geschichte, bzw. die Idee zu deiner Geschichte gefällt mir.
Allerdings bleibe ich auch an dieser schon erwähnten Distanz hängen.  Du hast dir schwierige emotionale Prozesse ausgesucht, etwas womit ich mich auch herumschlage und mehr schlecht als recht zu Rande komme. Tiefgreifend werde ich dir also (noch) nicht helfen können.
Ich versuche mich mal an einem Ausschnitt.
Sterneule schreibt:
Zitat:
Außer Atem kam ich in der Pension an, mein Bruder fehlte.
Ich suchte ihn, erst am Strand, auf der Landungsbrücke, zwischen den Dünen. Ich fand ihn nicht. Ich fragte die Menschen, die mir entgegen kamen: „Haben sie ihn gesehen? Meinen Bruder. Er hat rote Haare.“ Niemand kannte ihn. Ich hätte auf ihn aufpassen sollen. Wo war er nur? Ich wagte nicht, auf das Meer hinaus zu sehen. Ich fragte in der Eisdiele nach, im Wellenschwimmbad, in der Bücherei. Mein Bruder blieb verschwunden. Wie sage ich es nur den Eltern? Ich fror, als ich vor der Pensionstür stand. Sie saßen schon beim Frühstück. Mutter guckte mich vorwurfsvoll an, als ich kam: „Wo bleibt ihr denn?“
Ich konnte ihr das Furchtbare nicht erzählen. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, Vater öffnete. Ein großer Mann stand draußen, er hielt meinen Bruder mit beiden Armen, der Kopf mit den feuchten Haaren hing herab, die Augen  geschlossen. Für einen Moment durchströmte mich Erleichterung. Der Aufschrei meiner Mutter ließ mich innerlich gefrieren. Sie rutschte in sich zusammen, ich fing sie auf und zog sie ins Schlafzimmer. Ich blieb bei ihr. Ein Arzt verabreichte ihr eine Beruhigungsspritze. Kurz wachte sie auf, sie sah mich vorwurfsvoll an: „Warum hast du nicht auf deinen Bruder aufgepasst?“ Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Vater lief im Wohnzimmer auf und ab. Er würdigte mich keines Blickes. Ein Beerdigungsinstitut hatte meinen Bruder abgeholt. Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Hause. Meine Vater sah mich nicht an, meine Mutter blickte anklagend.

Ich vermute, du siehst oder ahnst den ganzen Schrecken, dieses bodenlose Entsetzen dieses Protagonisten. Ich vermute er ist weiblich, genau weiß ich es gar nicht, ich bekomme nur ein vages Gesicht. Deine Worte formulieren diesen Schrecken nicht.
Ich würde nun meinen Kritikern sagen und habe es bisher immer getan: „Ja, das lässt sich in diesem Moment auch gar nicht in Worte fassen, weil der Prota in einer Schockstarre oder sonst was ist, mehr oder weniger funktioniert und gar nicht sagen, beschreiben kann, wie es ihm geht. Wenn ich überhaupt die passenden Worte finde.“
Ich höre dann: „Das genügt nicht, um in den Prota hineingleiten zu können, ihn nicht nur zu sehen, sondern an seiner Statt fühlen zu können.
Zitat:
Außer Atem kam ich in der Pension an, mein Bruder fehlte.

Sie war bestimmt nicht nur außer Atem. Die Panik kroch wahrscheinlich sich immer mehr ausbreitend in ihr hoch
Zitat:
Ich suchte ihn, erst am Strand, auf der Landungsbrücke, zwischen den Dünen. Ich fand ihn nicht. Ich fragte die Menschen, die mir entgegen kamen: „Haben sie ihn gesehen? Meinen Bruder. Er hat rote Haare.“  

Sie fragte bestimmt nicht nur, sondern kämpfte gegen sich in ihr ausbreitende Angst.
Zitat:
Niemand kannte ihn. Ich hätte auf ihn aufpassen sollen. Wo war er nur? Ich wagte nicht, auf das Meer hinaus zu sehen. Ich fragte in der Eisdiele nach, im Wellenschwimmbad, in der Bücherei. Mein Bruder blieb verschwunden

Diese Fragen finde ich gut.
Zitat:
Wie sage ich es nur den Eltern? Ich fror, als ich vor der Pensionstür stand.  

Gefroren, nur vor Kälte?
Zitat:
Sie saßen schon beim Frühstück. Mutter guckte mich vorwurfsvoll an, als ich kam: „Wo bleibt ihr denn?“
Ich konnte ihr das Furchtbare nicht erzählen.  

In diesem Satz wird die Sprachlosigkeit, die eine solche Situation begleitet und die sich auch in der Geschichte wiederspiegelt deutlich. In dem Entsetzen steckt Sprachlosigkeit und doch muss die Erzählung Wege finden, dies in Sprache zu setzen.
Zitat:
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, Vater öffnete. Ein großer Mann stand draußen, er hielt meinen Bruder mit beiden Armen, der Kopf mit den feuchten Haaren hing herab, die Augen  geschlossen. Für einen Moment durchströmte mich Erleichterung. Der Aufschrei meiner Mutter ließ mich innerlich gefrieren. Sie rutschte in sich zusammen, ich fing sie auf und zog sie ins Schlafzimmer. Ich blieb bei ihr. Ein Arzt verabreichte ihr eine Beruhigungsspritze.  

Den Verlauf kann man wohl so raffen. Obwohl hier eine ungeheure Tragik steckt. die Person, die Schuld, Angst und Entsetzen schon längst nicht mehr zu trennen weiß, bewahrt Haltung und hilft der Mutter. Als wäre sie selbst emotional gar nicht da.
Zitat:
Kurz wachte sie auf, sie sah mich vorwurfsvoll an: „Warum hast du nicht auf deinen Bruder aufgepasst?“  

Aber hier wird es wieder eng mit der knappen Formulierung. Der Vorwurf im Blick der Mutter ist zu wenig klar. Es könnte auch wegen eines heruntergefallenen Glases sein. Wieder bleibt das Entsetzen und die extreme Not außen vor.  
Zitat:
Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Vater lief im Wohnzimmer auf und ab. Er würdigte mich keines Blickes. Ein Beerdigungsinstitut hatte meinen Bruder abgeholt. Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Hause. Mein Vater sah mich nicht an, meine Mutter blickte anklagend.


Liebe Sterneule,
ich versuche mich an einem auch traumatische Erlebnisse beschreibendem Text und kriege es noch keineswegs richtig hin. Ich mache ähnliche Fehler wie du. Wenn ich hier also den Finger auf einige Stellen lege, tue ich es noch nicht aus der Warte derjenigen, die schon weiß wie es geht. Ich kann dir noch nicht sagen, wie es gelingen kann, die Dramatik, die in deiner Geschichte steckt, in den Leser zu pflanzen.
Ich wünsche dir, dass noch ein paar Kritiker reinschauen, die dir konkrete Ratschläge geben können.
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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 15:01
Danke
von Sterneule
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Danke für deine Kritik. Ich hoffe, sie hilft mir weiter, das Entsetzen in Worte zu fassen. Ich habe selbst ähnliches erlebt und dachte über ganz andere Dinge nach. Das Ersetzen erfasst einen erst viel später. Du hast trotzdem recht, der Leser muss was von der Gefühlsspannung spüren können.
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gold
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Beitrag27.08.2015 16:34

von gold
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Liebe Sterneule,

Ich merke erst jetzt, wie sehr verbunden du selbst mit der Geschichte bist.
Daher hoffe ich, dass dich meine Kritik nicht verletzt hat.
Ich finde es immer immens schwer, solche tragischen Ereignisse, die wie ein Trauma anmuten, in Worte zu fassen. Und wenn dann noch etwas lieblose, schnoddrige Kommentare folgen, ist das umso schwerer.

Liebe Grüße
gold


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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 17:40
Vollkommen ok
von Sterneule
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Ich hätte die Geschichte nicht hochladen müssen, wenn ich Angst habe, dass es mich zu sehr trifft. Ich habe sie verändert, damit sie mir nicht zu sehr an die Nieren geht. Und ich wollte genau das, was du geschrieben hast: Kritik. Nur so komme ich mit dem Schreiben voran.
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Nina
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Beitrag27.08.2015 17:58

von Nina
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Hallöchen Sterneule,

erst mal danke, dass der blöde Tippfehler im Titel weg ist. Laughing

Nun zu Deiner Geschichte.
Ich empfinde den ersten Teil der Geschichte als zum Teil stichpunktartige Erinnerung. Mir kam es vor, als hättest Du dort die wesentlichen Teile Deiner Erinnerung / Vergangenheit zusammen getragen. Allerdings mehr als Notizzettelsammlung, d.h. es ist noch nicht alles so verbunden und erzählt, dass ein Außenstehender Leser/in, der Deine Geschichte nicht kennt, ganz folgen kann.

Im nachfolgenden Abschnitt, der sich, meinem Empfinden nach, SEHR GUT einpasst in die Erzählung, ist Dir das gelungen, was meines Erachtens im ersten Teil fehlt.

Erstmal das, was mir positiv auffiel: Der zweite Teil, beginnend mit

Zitat:
Die Spuren im Sand verlocken mich ihnen zu folgen. In das Wasser hinein, bis ich den Boden unter den Füßen verliere.


ist eingebunden in die Erzählung, wie wellenartig. Und weil das eines der wichtigen Elemente des Gesamten ist, halte ich diese Erzählweise für sehr gelungen! Auch kann ich Dir folgen mit dem, was Du dort erzählst. Es ist und wird für mich nachfühlbar. (Das Ende gefällt mir nicht, weil ich denke: Wie schade, dass nach all den Jahren nicht ein aufeinander-zugehen möglich ist ..., aber das ist Sache der Autorin, wie sie diese Geschichte enden lassen möchte).

Im ersten Teil fehlt nicht sehr viel, um die noch fehlenden Ergänzungen einzufügen, damit der Text "rund" wird. Es sind schon viele schöne Formulierungen drin, ein bisschen Arbeit ist es aber noch.

Insgesamt ein gelungener Einstieg.

Gibt es Fragen, die Du selbst an den Text hast oder an Deine Leser?

Liebe Grüße
Nina


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Sterneule
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Beitrag27.08.2015 18:51

von Sterneule
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Hallo Nina,

danke für deine und für die ganzen anderen Kritiken. Ich werde mich jetzt ran machen und die Geschichte überarbeiten und wieder hochladen.

Fragen habe ich erst mal keine, bestimmt kommen sie noch beim Schreiben.

Liebe Grüße

sterneule
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Tjana
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Beitrag27.08.2015 20:18

von Tjana
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Guter Einstand, finde ich.
Eigentlich mag ich keine Ich-Erzähler, aber hier verschafft er mir mehr Nähe zum bewegenden Inhalt, als es mit der personalen Weise geschehen wäre.

Hoffentlich noch nicht zu spät für deine Überarbeitung, möchte ich auf einige wenige Stellen hinweisen, die mir auffielen.

Zitat:
Wer rennt vor mir? Dieser Junge oder ein anderer aus einer anderen Zeit. Ein Junge mit feuerroten Haaren und einem besonderen Fußabdruck. Mein Bruder war sechs Jahre jünger als ich


Mir war der blaue Satz an Erklärung zu viel. Die anfängliche Frage und der letzte Satz formen das Bild hinreichend und lassen dem Leser trotzdem noch Raum.

Zitat:
Sie saßen schon beim Frühstück. Mutter guckte mich vorwurfsvoll an, als ich kam: „Wo bleibt ihr denn?“


Hier hatte ich Probleme mit der Chronologie. Sie gehen früh gemeinsam los. Vermutlich vergeht der Tag, bis sie am Treffpunkt verabredet sind. Aber als sie ihn im Pensionszimmer sucht, sitzen die Eltern beim Frühstück??? Die ganze Nacht ist vergangen? Dazu passt die Frage der Mutter nicht, zu wenig besorgt nach so vielen Stunden.

Zitat:
kurz wachte sie auf, sie sah mich vorwurfsvoll an: „Warum hast du nicht auf deinen Bruder
aufgepasst?“


Hier nur eine Kleinigkeit: Wenn die Mutter „auf ihn“ sagen würde, spräche mehr Leid aus ihr. Hier ebenso von „deinem Bruder“ zu sprechen, klingt mir zu distanziert.

Zitat:
Noch am gleichen   selben Tag fuhren wir nach Hause.


Die Geschichte wird in kurzen, emotionslosen Sätzen erzählt, was mir gefällt.  Dann sollte Einiges an Eindrücken über Empfindungen in der Sprache selbst versteckt werden. „nach Hause“ vermittelt etwas Heimeliges, Friedfertiges. Das streitet mit dem schrecklichen Erlebnis. Wenn du mal Noch am selben Tag verließen wir Langeoog/die Pension überlegst, bleibt da nicht die gewählte Linie besser erhalten?

Zitat:
Jeden Tag gehe ich zum Strand, ich suche nach meinem Bruder. Es ist ein Zwang, dem ich nicht entkomme.


Den Satz braucht es m.E. nicht. Der Zwang wird durch den ersten Satz deutlich.

Zitat:
Es schweigt sich gut mit ihm.


Den fand ich sehr gut

Zitat:
Immer noch liegt der Geruch von Alkohol und Erbrochenem in der Luft.


Nach einem Jahr???  Ich verstehe, dass du ausdrücken willst, wie belastend die Wohnung für sie ist. Aber der Geruch dieser beiden ist nicht glaubwürdig.
 
Zitat:
Die Post liegt auf dem Dielentisch,


Wie kommt sie dahin? Sie hat doch keine Freunde. Hat trotzdem jemand die Blumen gegossen? Warum hebt sie die Post nicht vom Boden auf (es gibt doch immer noch Türen mit Briefschlitzen)


Ich hoffe, das war jetzt nicht zu viel. Es ist ja „nur“ der Einstand.

Viel Erfolg beim Überarbeiten. Die Geschichte verdient es.

LGT


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gold
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Beitrag27.08.2015 20:36

von gold
Antworten mit Zitat

Nina hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
(Das Ende gefällt mir nicht, weil ich denke: Wie schade, dass nach all den Jahren nicht ein aufeinander-zugehen möglich ist ..., aber das ist Sache der Autorin, wie sie diese Geschichte enden lassen möchte).



Genauso habe ich das empfunden. Es ist mir einfach zu dramatisch.

Liebe Grüße
gold


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rieka
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Beitrag28.08.2015 11:26
Re: Danke
von rieka
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Sterneule hat Folgendes geschrieben:
Danke für deine Kritik. Ich hoffe, sie hilft mir weiter, das Entsetzen in Worte zu fassen. Ich habe selbst ähnliches erlebt und dachte über ganz andere Dinge nach. Das Ersetzen erfasst einen erst viel später. Du hast trotzdem recht, der Leser muss was von der Gefühlsspannung spüren können.

Kann sein, dass es dir im Moment gar nicht recht ist, dass ich noch was schreibe, weil du schon längst wieder am neuen Aufbau deiner Geschichte bist. Aber mich beschäftigte da noch was, wenn du es nicht brauchen kannst, lass es einfach liegen.
Sterneule hat Folgendes geschrieben:
  Das Ersetzen erfasst einen erst viel später.

Ich glaube, das ist der maßgebliche Punkt, der es so schwer macht, solche Situationen real zu beschreiben. Die Emotionalität ist in solchen Momenten wie eingefroren, wie eine Leere. Was sich wirklich abspielte, wird erst später verständlich, wenn überhaupt. Wenn der Prota plötzlich seine Gefühle reflektieren würde, wäre er schon längst aus dieser tragischen Situation herausgefallen und es wäre eine andere Geschichte.
Aber da du einen Rückblick in die Vergangenheit tust, könntest du vielleicht die heutige Sicht, das heutige Verständnis einflechten, was aber deutlich werden müsste, um die damalige Sprachlosigkeit oder Leere oder was immer das auch war, nicht zu zerstören.

Sicher bin ich mir mit diesem Ratschlag nicht, könnte sein, dass es die Atmosphäre zerstören würde.
Nimm es einfach als unausgegorenes Nachdenken von mir und schau, ob etwas davon brauchbar für dich ist oder nicht.
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MoL
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Beiträge: 1838
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Das bronzene Stundenglas


Beitrag12.09.2015 23:43

von MoL
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Liebe Sterneule!

Oh Mann, was für eine mitreissende Story!

Nur irgendwie habe ich den Eindruck, dass da zwei Stücke nicht zusammenpassen!
Der erste Teil ist grandios! Locker erzählt aus der Sicht eines jungen Teenagers. Brillant, ich kann alles fühlen, werde mitgerissen, umgehauen.

Aber ab "Das Meer steigt, die Sturmflut ist da." bin ich, ja, raus irgendwie.
Sorry, aber der zweite Teil ... wirkt auf mich konstruiert. Als hättest Du den ersten Teil wirklich erlebt (bzw. leider erleben müssen) und Dir im zweiten Teil überlegt, was Du Dir wünschst, wie die Geschichte weitergeht
Dass dieser Nicht-Retter des Bruders all die Jahre aufs Meer schaut und auf Touristinnen achtet und dann nach 20 (!) Jahren das damals 13jährige Mädchen erkennt ... und dann auch noch die Adresse des Vaters herausfindet, welcher dann aufgrund eines Briefes Einsicht zeigt ... sorry: Völlig abstrus!

Vielleicht solltest Du einfach Abstand davon nehmen, auf Teufel komm raus ein Happy End erzwingen zu wollen! Du willst ein schönes Ende schreiben, willst alle Fäden verknüpfen, sich alles auflösen lassen.
Nein.
Du kannst unglaublich dicht und spannnend und mitreißend und toll schreiben, der erste Teil beweist es! Mach weiter so un dlass Dir nicht von Dir selbst oder vermeindlichden Regeln etwas aufzwingen! Schreib so, wie es ist, dann wird es großartig! Selbst wenn es kein Happy End gibt ...
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Drakenheim
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Beiträge: 387
NaNoWriMo: 50166
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Beitrag14.09.2015 21:04
Re: Spuren im Sand
von Drakenheim
Antworten mit Zitat

Hallo Sterneule,

ich habe mir deinen Text vorgenommen und die Stellen markiert, die mich beim Lesen beeinflusst haben.
Rot = Störung
Grün = Klasse
Blau = Meine Gedanken.

Ich hoffe, es hilft dir weiter.

LG
Drakenheim

Sterneule hat Folgendes geschrieben:
Spuren im Sand

Vor mir läuft ein Junge, übermütig springt er über die Wellen, spritzt mit dem Wasser. Ich sehe die Spuren im Sand, kaum eingedrückt. Der große Zeh ragt heraus, er bildet einen eigenen Ton. Er flitzt davon, nur die roten Haare leuchten. Rote Haare? Er ist blond. Wer rennt vor mir? Dieser Junge oder ein anderer aus einer anderen Zeit. (Ja, den Satz würde ich wohl auch streichen...) Ein Junge mit feuerroten Haaren und einem besonderen Fußabdruck. Mein Bruder war sechs Jahre jünger als ich.
In dem Jahr, als mein Bruder sieben geworden war, fuhren wir nach Langeoog. Mein Bruder liebte den Strand, die Wellen. Jede Qualle schob er zurück ins Wasser. Er fütterte die Möwen mit Brotkrumen, sammelte Hühnergötter.
Eine Sturmflut zog auf. Das Meer überflutete den Strand, Mein mein Bruder durfte nicht mehr allein an die Nordsee gehen, ich musste ihn begleiten. Früh gingen wir gemeinsam fort, wir trennten uns im stillen Einverständnis. Ich traf mich mit einem Freund. An unserem Treffpunkt war er nicht. (Unklar, wer der "er" ist. Ich dachte erst, es wäre der Freund, nicht der Bruder.) Ich kam einige Minuten zu spät, bestimmt saß er längst zu Hause, biss in sein Honigbrötchen.
Außer Atem kam ich in der Pension an, mein Bruder fehlte. Ich suchte ihn, erst am Strand, auf der Landungsbrücke, zwischen den Dünen. Ich fand ihn nicht. Ich fragte die Menschen, die mir entgegen kamen: „Haben sie ihn gesehen? Meinen Bruder. Er hat rote Haare.“ Niemand kannte ihn. Ich hätte auf ihn aufpassen sollen. Wo war er nur? Ich wagte nicht, auf das Meer hinaus zu sehen. Ich fragte in der Eisdiele nach, im Wellenschwimmbad, in der Bücherei. Mein Bruder blieb verschwunden. Wie sage ich es nur den Eltern? Ich fror, als ich vor der Pensionstür stand. Sie saßen schon beim Frühstück. Mutter guckte mich vorwurfsvoll an, als ich kam: „Wo bleibt ihr denn?“  (Bedenkt man dass die wirklich heftigen Vorwürfe und Anklagen noch kommen werden, finde ich das Wort "vorwurfsvoll" an dieser Stelle zu stark. Vielleicht eher ein "pikiert"?)
Ich konnte ihr das Furchtbare nicht erzählen. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, Vater öffnete. Ein großer Mann stand draußen, er hielt meinen Bruder mit beiden Armen, der Kopf mit den feuchten Haaren hing herab, die Augen  geschlossen. Für einen Moment durchströmte mich Erleichterung. Der Aufschrei meiner Mutter ließ mich innerlich gefrieren. Sie rutschte in sich zusammen, ich fing sie auf und zog sie ins Schlafzimmer. Ich blieb bei ihr. Ein Arzt verabreichte ihr eine Beruhigungsspritze. Kurz wachte sie auf, sie sah mich vorwurfsvoll an: „Warum hast du nicht auf deinen Bruder aufgepasst?“ Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Vater lief im Wohnzimmer auf und ab. Er würdigte mich keines Blickes. Ein Beerdigungsinstitut hatte meinen Bruder abgeholt. Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Hause. Meine Vater sah mich nicht an, meine Mutter blickte anklagend.

(Bis hierhin finde ich den Text gut gelungen. Die steigende Panik deiner Prota kann ich auch aus den sachlichen Formulierungen heraus spüren.)


Ich bin das erste Mal wieder am Strand, in Langeoog. Zwanzig Jahre sind vergangen. Es erscheint mir, als wäre es gestern passiert. Für meinen  Vater war ich gestorben, zusammen mit meinem Bruder. Er ging ins Ausland. Mutter ließ sich in ihrem Kummer treiben, sie trank. Nie hat sie den missbilligenden Blick verloren. Ich kümmerte mich um Mutter, versuchte ihren Alkoholkonsum zu verbergen, fälschte ihre Unterschrift, da ihre Hände zitterten. Nach der Schule begann ich als ungelernte Arbeiterin am Fließband, ich musste Geld für Mutter und mich verdienen. Ich arbeite dort heute noch. Im Spiegel sehe ich eine verhärmte Frau, die nie gelebt hat. Vor einem Jahr starb Mutter. Ich fühlte mich befreit von ihr, aber nicht von meiner Schuld.

(Bis hierhin auch gut. Eine familiäre Extremsituation, aber glaubwürdig, denn zerbrochene Familien gibt es viele.)

[color=dark blue]Jeden Tag gehe ich zum Strand, ich suche nach meinem Bruder. Es ist ein Zwang, dem ich nicht entkomme[/color]. (Ich habe diese Sätze nach vorne gezogen.)
Die Spuren im Sand verlocken mich ihnen zu folgen. In das Wasser hinein, bis ich den Boden unter den Füßen verliere. Untergehen in den Wellen, das Leben hinter mir lassen. Wenn ich Glück habe, zieht eine Sturmflut auf. Jeden Tag gehe ich zum Strand, ich suche nach meinem Bruder. Es ist ein Zwang, dem ich nicht entkomme. Niemand wird mich vermissen. Ich habe keine Freunde, mit Mutter war das nicht möglich. Vater fragt nicht nach mir. Er wird froh sein, wenn ich nun auch tot bin. (Würde ich streichen. "Vater fragt nicht nach mir" ist kurz, prägnant und enthält alles, was es zu ihrem Verhältnis zu sagen gibt.)
Das Meer steigt, die Sturmflut ist da. (Mit meinen Änderungen kommen die beiden "Sturmflut" leider dicht beisammen.) Abends um zehn Uhr gehe ich zum Strand hinunter. Das Wasser tost. Ich wate hinein. Das Meer reißt mich mit. Die auslaufende Flut drückt mich nach unten. Ich verliere mein Bewusstsein. Eine Jungenstimme sagt: „Wach auf. Du kannst hier nicht sterben. Lebe um meinetwillen. Höre auf, dich selbst zu bemitleiden.Es war meine Schuld, dass ich gestorben bin, nicht deine. Ich wollte eine Muschel retten und fiel ins Wasser. Nun wach doch auf.“ (Sehr lang. Zu lang. Zu ausführlich, um echt zu wirken.)
Ich öffne die Augen. Sie sind verklebt vom Salz der Nordsee. Ich muss husten, ein Schwall Wasser fließt aus dem Mund. Wo bin ich? Ich liege im Sand. Ein Mann mustert mich besorgt. Noch mehr Salzwasser strömt aus mir heraus. Ich bin müde, todmüde. Der Mann trägt mich in ein Haus und legt mich ins Bett. Mit einem Federbett deckt er mich zu. Ich schlafe tief, wie lange nicht mehr. (Hier finde ich ihre Wahrnehmungen zu klar, zu detailliert. Wenn ich aus einer Ohnmacht erwache ist meine erste Frage (welch Klischee) "Wo bin ich?". Und wenn mich dann noch jemand tragen würde, dann würde ich wohl nur das Schaukeln wahrnehmen, und dass die Umgebung irgendwie an mir vorbeigleitet.)
Eine knarrende Tür reißt mich aus dem Schlaf. Der Mann steht neben mir.
„Wo bin ich?“
„Du bist bei mir. Ich zog dich gestern wie eine nasse Katze aus dem Meer.“ (Das klingt abfällig, als würde er sie nicht mögen.)
„Wieso warst du dort?“
„Ich beobachte dich schon länger. Deinen Bruder konnte ich nicht retten, damals. Aber dich wollte ich nicht verlieren.(Nach zwanzig Jahren erinnert er sich bestimmt noch an den Jungen, aber das Mädchen erkennt er gewiss nicht mehr. Das Leben wird sich tief in ihr Gesicht gegraben haben. Höchstens vielleicht auffällige Merkmale ("Du erinnerst mich an einen Jungen, den aus dem Meer geholt habe. Er hatte auch so feuerrotes Haar wie du. Leider kam ich zu spät" Oder so.) Dann kann sie ihn betrachten und den Mann erkennen, der ihren Bruder damals im Arm hielt. Wäre immer noch ein gewaltiger Zufall, aber glaubwürdiger als so.)
„Du warst das.“
„Warum wolltest du sterben?“
„Mein Leben ist nichts wert. Ich fühle mich schuldig an seinem Tod.“
„Du bist nicht schuld. Dir hätte niemand die Verantwortung für einen siebenjährigen Jungen aufbürden dürfen.“
Gemeinsam frühstücken wir. Es schweigt sich gut mit ihm. Ich gehe zurück in die Pension und hole meine Sachen. Er begleitet mich bis zur Fähre.


(Schöner Abschluss für diese Begegnung. Würde ich auf jeden Fall so lassen.)
Smile

Ich schließe meine Wohnung auf. Am liebsten liefe ich davon. Immer noch liegt der Geruch von Alkohol und Erbrochenem in der Luft. Ich hasse diese Wohnung, die Erinnerungen an Mutter. Die Post liegt auf dem Dielentisch, (wer hat sie dort hin gelegt?) ich nehme sie mit ins Wohnzimmer. Rechnungen, Werbung, Lohnabrechnung, Post von der Bank, das Übliche. Nein, halt, da liegt noch ein Brief mit ausländischen Briefmarken. Ich drehe ihn um. Ich erschrecke, ein Brief von Vater. Was will er? Soll ich ihn wegwerfen? Die Hände öffnen ihn. Der Brief liegt vor mir, ich wage kaum ihn anzuschauen. Ich fasse mir Mut.
Ich lese:

(Dieser Absatz wirkt auf mich, wie aus weiter Ferne geschrieben.
Die roten Stellen stören mich beim Lesen, den Satz in grün finde ich klasse.)


„Liebe Tochter,
Ich erfuhr von einem Bekannten, wie es euch ergangen ist. Mir ist klar geworden, dass ich dir die Schuld am Tod unseres Kleinen auflastete, um mich nicht selbst meiner Schuld zu stellen. Es muss für dich die Hölle gewesen sein, deine Mutter durch ihre Alkoholsucht zu begleiten. Du bist früh arbeiten gegangen. Du hattest keine Chance, dir selbst ein Leben aufzubauen. Ich ließ dich allein, als du mich am meisten brauchtest.
Ich kann es nicht wieder gut machen. Ich werde dich unterstützen, du sollst deinen Weg gehen können. Ich bin in einer Woche bei dir, dann sprechen wir über alles. Ich hoffe, du verzeihst mir.
Dein Vater.“

(Den Brief bezieht sich allein auf die Tochter und ihre Gefühle. Im letzten Absatz kann ich das verstehen, da geht es um die zukunft. Aber davor hätte schon erwartet, dass er sein Verhalten gegen die Mutter bedauert, der Frau, die er immerhin mal geliebt hat. Schließlich hat er sie beide allein gelassen, als sie ihn beide am meisten brauchten. Vielleicht sehe ich das etwas eng, aber seine Gefühle für die Mutter kommen mir zu kurz.)

Die Woche ist über meinem Urlaub vergangen und er ist nicht hier. Ich räume die Post weg. Zwei Schreiben Brot mit Käse reichen für das Abendbrot. Ich setze mich vor den Fernseher. In den Nachrichten wird von der Sturmflut an der Nordsee berichtet.
Es klingelt.
Mein Vater steht draußen. Er schaut mich an. Ich schließe die Tür vor ihm. Vielleicht später einmal. Ich werde meinen Weg allein gehen. Ich bin stark.

(Nimm hier Tempo raus, tritt auf die Bremse. Nach zwanzig Jahren wird sie sich erst mal wundern, wer der weißhaarige alte Mann ist, der ihr vage bekannt vorkommt. Nach zehn Jahren Kontakt auf Sparflamme war ich erschrocken, wie weiß mein Vater auf einmal war. In meinem Kopf ist er dunkelhaarig geblieben.
Und ihre Reaktion kann ich gut verstehen. Erst mal die Tür zumachen, jetzt braucht er auch nicht mehr zu kommen. Später vielleicht. Denn das mit dem "stark" redet sie sich nur ein.)

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