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Babella Klammeraffe
Alter: 61 Beiträge: 884
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27.05.2015 09:17 Der Pianist von Babella
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Der Pianist
Nein, niemand weiß, wann das Konzert begann.
Der Pianist trägt einen roten Schal,
Am Flügel thront er, wie gefesselt,
Gefesselt vor dem großen, vollen Saal.
Alte liegen hilflos in den Kinderwagen.
Weil sie betören, bringt man ihnen Brei
Bis sie, von warmer Milch beschwichtigt
Entschlummern bis zum Nächstenmorgenschrei.
Furioso. Rechts springt stürmisch, schwarz auf weiß
Die Linke ist in blaue Harmonie verstrickt
Vivace. Allegretto. Ohne Pause -
Ohne Pause weil er sonst erstickt.
Kinder schieben Rollatoren durch die Gänge,
Lachen ohne Gründe, zanken ohne Streit
Zählen ihre Falten, prahlen mit Beschwerden
Verströmen sture Unbarmherzigkeit.
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn
Die Hände auf den Tasten, die Füße am Pedal
Sie würgt und zwingt, er fügt sich, spielt
Er spielt, verdeckt die Wunden mit dem Schal
Die Jungen leiden unter Wechseljahren
Tun weise und verstecken ihre Gier
Sie schleichen umeinander, sich vergleichend
Und dichten heimlich Schund auf Packpapier.
Niemals ein Tacet, niemals weises Schweigen
Es darf nicht einmal ein Andante geben.
Accelerando! Presto! Treibt ihn -
Treibt ihn. Er spielt um sein Leben.
Die in der Mitte mühn sich mit dem Jüngerwerden
Sie fühlen Schwere, fühlen tiefe Schuld.
Sie üben zu vergeben und vergessen
Was man sie lehrte damals mit Geduld.
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn
Die Hände streiten heftig, wie von Sinnen
Sie greifen über, greifen unter, jagen
Jagen, doch sie können nicht gewinnen.
In Särgen stöhnen Frauen in den Wehen,
Die Babys liegen in den Sterbebetten
Bereit, sich ihrem Anfang hinzugeben
Sich in die Leere loszuketten.
Er beugt sich vor, er wogt zurück
Greift in die Tasten, stark und tief
Er zuckt und schlägt und packt und tönt
Tönt gequält. Tönt sterbend schief.
Im Foyer die abservierten Priesterinnen
Die Bar. Die arbeitslosen Philosophen.
Intellektuelle abgegeben an der Garderobe,
Niemand droht mehr mit den Katastrophen.
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn.
Sie zieht die Schlinge. Man steht dichtgedrängt.
Warum hat er den Schal nicht abgenommen.
Er greift ins Leere. Schweigt. Er hängt.
Erlahmen und Erschlaffen füllt den Saal.
Da. Die Bahre. Geht zur Seite.
So viele ungespielte Noten.
Es gibt nur jähe Enden. Sucht das Weite.
Weitere Werke von Babella:
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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28.05.2015 22:08
von firstoffertio
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Die nächsten zwei Wochen werde ich wenig Zeit für Computer haben. Deswegen heute noch ein Kurzkommentar von mir.
Das ist natürlich wunderbar geschrieben. Rhyme, Rhythm, Story.
Die (wir) Alten werden wieder Kinder.
Lieblingsstrophe:
Kinder schieben Rollatoren durch die Gänge,
Lachen ohne Gründe, zanken ohne Streit
Zählen ihre Falten, prahlen mit Beschwerden
Verströmen sture Unbarmherzigkeit.
Mich erinnert das sehr daran, was meine Mutter mir aus dem Altenheim erzählt, wo sie freiwillig mitarbeitet.
Auch der Pianist. Dort treten öfters welche auf und spielen die alten Lieder, die die Bewohner noch kennen.
Dann ist das "Ende" aber doch überraschend.
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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30.05.2015 10:45
von Literättin
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Also dies hier ist unleugbar gut gemacht, technisch sauber, gut gereimt (ohne Krampf und Bemühtheit und inhaltlich gelungen) und sehr bilderreich gearbeitet.
Das hat sehr viel was mir gefällt: dieses skurrile Panoptikum im Konzertsaal und der getriebene Pianist.
Es wirkt allerdings auf mich wie eine Szene aus den 1920er Jahren. Oder eher noch Jahrhundertwende. Vielleicht liegt's an der gereimten Form? Eine Szenerie aus heutiger Zeit jedenfalls bekomme ich nicht vor das innere Auge. Ich sehe Herren in Frack und Damen mit großen Hüten, der Kinderwagen hat bei mir große Speichenräder und sowohl die Sterbebetten, wie die Särge sind mit üppigem weißen Linnen ausgestattet, während der Konzertsaal in rotem Samt prunkt.
Obwohl nichts davon erwähnt wäre und obwohl die Rollatoren stählern da hindurch geschoben werden, weil sie mir so in den Kopf kommen.
Im dieser Art hat das für mich sehr viel skurrilen Charme und ich mag das.
Wenn nur ausgerechnet ein Klavierkonzert für mich persönlich im Zusammenhang mit der Themenstellung das glatte Gegenteil des hier gezeigten bedeuten würde, aber das ist nur eigens meine Sicht, die gerade und ausgerechnet Musik als beinahe einzige lebensechte Jetzt-Realisierung betrachtet. Das ist jetzt wahrscheinlich schräg formuliert, ich kriege das gerade nicht besser hin.
Jedenfalls bedeutet Musik mir lebendige Jetztzeit in einer wirklichen Form, die den Moment weder verkehren noch verpassen kann - sofern es kein Kaufhaushintergrundgedudel ist. Aber hier zeigt sie moderne Getriebenheit?
Der Pianist hetzt sich jedenfalls quasi selbst zu Tode, indem er nicht mehr selbst handelt, sondern getrieben wird.
Und so hat dieses Gedicht auf der einen Seite sehr viel Charme, auf der anderen Seite kann ich den Zusammenhang zwischen Pianisten und seinem Publikum nicht herleiten. Oder auch den Zusammenhang zwischen dargebotener Musik und dem schrägen Treiben im Publikum. Oder den Zusammenhang mit dem Musikbild und der Themenstellung.
Und so gefällt es mir, während ich gleichzeitig die letzte Verbindung nicht eingehen oder nicht mitgehen kann.
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Gießkanne Volle Kanne ungeduldig
Alter: 21 Beiträge: 655 Wohnort: Nicht mehr in deiner Welt
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30.05.2015 15:12
von Gießkanne
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Lieber Schreiberling,
deine Idee ist gut. Sie überzeugt mich aber nicht vollständig, denn das was mich überzeugt ist dein schöner Schreibstil. Ich kann es nicht oft genug sagen und möchte es auch nicht bei jedem Gedicht sagen, was mir gefällt, aber es ist so:
Die weichen Worte, mit denen du spielst, ziehen mich in deinen Bann und, wirklich, von diesen Menschen die eine solche Fähigkeit haben bin ich zutiefst beeindruckt.
SIEBEN Punkte sollst du bekommen!
Awesome good,
Gießkanne
_________________ Die Schlacke einer verbrannten Liebe im Hochofen des Herzens ist ein Nebenprodukt, das man so schnell leider nicht loswird.
Mogmeier |
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Mardii Stiefmütterle
Alter: 64 Beiträge: 1774
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31.05.2015 16:47
von Mardii
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Hallo Lyriker/in,
das ist ein düsteres balladeskes Gedicht. Erzählt wird die Geschichte vom Pianisten, der während seines letzten Auftritts zu Tode kommt, stranguliert wird. Das wirkt sehr theatral. Die Strophen alternieren zwischen diesem Geschehen und den Vorgängen in den Rängen und im übrigen Theater. Hier wird eine Bühne des Lebens beschrieben, die nicht sehr anheimelnd ist.
Die Kinder sind schon Greise, sie lassen greisenhaftes Verhalten erkennen. Das Kind schiebt den Rollator, die Schwangere gebärt in einem Sarg.
Währenddessen beobachten sie vielleicht die Vorgänge auf der Bühne, das Weltgeschehen und sind schon in jungen Jahren von Siechtum befallen.
Zitat: | Niemals ein Tacet, niemals weises Schweigen
Es darf nicht einmal ein Andante geben.
Accelerando! Presto! Treibt ihn -
Treibt ihn. Er spielt um sein Leben. |
Der Pianist müht sich ab eine perfekte Vorstellung zu geben, aber er müht sich umsonst. Er ist genauso zum Sterben verurteilt wie sein Publikum, nur sieht man es ihm nicht an. Sein Tod erscheint darum um so tragischer.
Ein sehr surrealer Text.
lg Mardii
_________________ `bin ein herzen´s gutes stück blech was halt gerne ein edelmetall wäre´
Ridickully |
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finis Klammeraffe
F
Beiträge: 577 Wohnort: zurück
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F 31.05.2015 22:06
von finis
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Guten Abend..
Das finde ich gar nicht schlecht: die ins Gegenteil verkehrte Alterserscheinungen. Die Idee hat was. Es gelingt mir nur nicht so recht, sie im Gedicht zu verorten. Diese Szenerien scheinen total abgeschnitten - sowohl von Stimmung als auch von den Ortsbeschreibungen her - von der Pianistenszene zu sein, sodass ich mich frage, inwiefern sie harmonieren sollen oder ob sie nur zusammengepuzzlet wurden, um die Themenvorgabe zu erfüllen.
Zitat: | Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn |
Ich finde diesen Vers sehr geschickt gestaltet und als zentralen Vers gewählt.
Der Einstieg in Dein Gedicht fällt verhältnismäßig schwer, weil nicht klar wird, wie sich die beiden unterschiedlichen Ebenen zueinander verhalten und wie man die Bildwelten verbinden soll. Und so sehr mir die Vorstellung von an der Garderobe abgegebenen Intellektuellen gefällt, frage ich mich hier, welche Funktion sie mit den arbeitslosen Philosophen (Klischee) und den abservierten Priesterinnen (im Nichts mündende Provokation) erfüllen. Gehören sie zum Konzertpublikum? Der Struktur Deines Gedichtes zufolge nicht, da gehören sie auf die Ebene mit den Greisen im Kinderwagen und den Babies im Sarg. Aber was haben sie da zu suchen, wie passen sie da rein? Dann mündet das ganze in der wenig überraschenden Pointe, dass der Pianist von seinem eigenen Schal erwürgt wird. Das hat dann auch wieder etwas: Die Sterbeszene ist Dir sehr gut gelungen, finde ich. Auch den etwas galgenhumorigen Schluss.
Formal bleibt mir noch zu sagen, dass Du angenehm ungezwungen reimst und eigentlich keine bzw. nur winzige metrische Unebenheiten aufkommen. Also insgesamt sauber.
Gern gelesen -
finis
_________________ "Mir fehlt ein Wort." (Kurt Tucholsky) |
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tronde Klammeraffe
T
Beiträge: 524
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T 01.06.2015 21:46
von tronde
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Hallo!
Pluspunkte für die Reime und die paradoxen Bilder, die die Lebensabschnitte beschreiben. Gelungen finde ich die Idee von der Zeit, die uns lebt.
Hat mich an "See-Leben I" von Werner Koch erinnert, da lebt jemand rückwärts.
7 Punkte
Grüße
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Rainer Zufall Klammeraffe
Alter: 70 Beiträge: 801
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02.06.2015 07:46
von Rainer Zufall
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Will aus Zeitgründen keinen Kommentar da lassen. Aber: Ich liebe dein Gedicht.
Grüße von Zufall
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Lionne Eselsohr
Alter: 49 Beiträge: 452
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02.06.2015 20:48
von Lionne
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Inhaltlich nicht mein Favorit, aber nur, weil es so viele andere gute und drübernachdenkenswerte Texte hat. Ansonsten bin ich aber ziemlich beeindruckt vom Können dieses Autors. Sehr gut gemacht, sagt der Laie
_________________ Wenn wir in uns selbst ein Bedürfnis entdecken, das durch nichts in dieser Welt gestillt werden kann, dann können wir daraus schließen, dass wir für eine andere Welt erschaffen sind.
C.S. Lewis |
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3308
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04.06.2015 01:23
von Constantine
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Bonjour!
Deine Idee, das Spiel mit zeitlichen Gegensätzen, z.B. "Alte liegen hilflos in den Kinderwagen", gefällt mir. Auch dein Bemühen, dein Gedicht in vierzeilige Strophen zu verfassen und jeden zweiten und vierten Vers einer Strophe in einen Pausenreim zu führen, fällt, verglichen mit den anderen Beiträgen, ins Auge.
Allerdings halte ich dein Gedicht insgesamt noch für unausgereift, sowohl inhaltlich als auch formal (Aufbau der Strophen) wäre mMn etwas mehr Garzeit besser gewesen, um einige Schwächen auszumerzen oder sich zumindest über das Gesamtbild im Klaren zu werden.
Zitat: | Der Pianist
Nein, niemand weiß, wann das Konzert begann.
Der Pianist trägt einen roten Schal,
Am Flügel thront er, wie gefesselt,
Gefesselt vor dem großen, vollen Saal. <-- die erste Strophe als Vorgabe der Satzkonstruktionen, Interpunktionen und Verb-Wiederholung von Vers 3 zu Vers 4.
Alte liegen hilflos in den Kinderwagen.
Weil sie betören, bringt man ihnen Brei(Komma)
Bis sie, von warmer Milch beschwichtigt(Komma)
Entschlummern bis zum Nächstenmorgenschrei nächsten Morgenschrei.
Furioso. Rechts springt stürmisch, schwarz auf weiß(Punkt)
Die Linke ist in blaue Harmonie verstrickt(Komma)
Vivace. Allegretto. Ohne Pause -
Ohne Pause(Komma) weil er sonst erstickt. <-- Ich verstehe hier die Verwendung des Gedankenstrichs anstelle eines Kommas (wie in Strophe 1) nicht.
Kinder schieben Rollatoren durch die Gänge, <-- Warum hier ein Komma und kein Punkt?
Lachen ohne Gründe, zanken ohne Streit(Komma)
Zählen ihre Falten, prahlen mit Beschwerden(Komma)
Verströmen sture Unbarmherzigkeit. <-- Insgesamt fällt in dieser Strophe eine Abkehr vom Stil (Satzkonstruktion, Satztempo) der ersten beiden Strophen auf. Es wirkt auf mich eher abgehackt aufgezählt anstelle, wie in den Strophen 1 und 2, "erzählerisch" vorzugehen. Warum dieser Stilwechsel?
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn(Punkt)
Die Hände auf den Tasten, die Füße am Pedal(Komma)
Sie würgt und zwingt, er fügt sich, spielt <-- kein Komma, kein Gedankenstrich. Warum?
Er spielt, verdeckt die Wunden mit dem Schal(Punkt) <-- Hier die Wiederholung des End-Verbs "spielt" (Vers 3) zu Beginn des vierten Verses. In Strophe 1 noch mit Komma getrennt, in Strophe 3 mit einem Gedankenstrich versehen, hier kein Satzzeichen.
Die Jungen leiden unter Wechseljahren(Punkt) <-- Für mich weichst du von deiner gegensätzlichen Systematik ab, in dem du "Jungen" und "Wechseljahren" in Bezug setzt, obwohl es eher "Mädchen" lauten solle.
Tun weise und verstecken ihre Gier(Punkt oder Komma)
Sie schleichen umeinander, sich vergleichend(Komma oder Gedankenstrich)
Und dichten heimlich Schund auf Packpapier. <-- keine Verb-Wiederholung!
Niemals ein Tacet, niemals weises Schweigen(Punkt)
Es darf nicht einmal ein Andante geben.
Accelerando! Presto! Treibt ihn -
Treibt ihn. Er spielt um sein Leben. <-- Hier die Verb-Wiederholung mit Gedankenstrich.
Die in der Mitte mühn sich mit dem Jüngerwerden(Punkt)
Sie fühlen Schwere, fühlen tiefe Schuld.
Sie üben zu vergeben und vergessen
Was man sie lehrte damals mit Geduld. <-- keine Verb-Wiederholung. Dieser Endvers ist arg dem Reim geschuldet und würde mMn passender "was man sie damals mit Geduld lehrte" heißen.
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn(Punkt)
Die Hände streiten heftig, wie von Sinnen(Komma)
Sie greifen über, greifen unter, jagen
Jagen, doch sie können nicht gewinnen.
In Särgen stöhnen Frauen in den Wehen, <-- Punkt? Hier ist der Gegensatz von Särgen, Frauen, Wehen passend zum Konzept.
Die Babys liegen in den Sterbebetten(Komma)
Bereit, sich ihrem Anfang hinzugeben
Sich in die Leere loszuketten.<-- keine Verb-Wiederholung.
Er beugt sich vor, er wogt zurück(Punkt oder Komma)
Greift in die Tasten, stark und tief(Komma oder Punkt)
Er zuckt und schlägt und packt und tönt(Komma)
Tönt gequält. Tönt sterbend schief.<-- Verb-Wiederholung.
Im Foyer die abservierten Priesterinnen
Die Bar. Die arbeitslosen Philosophen.
Intellektuelle abgegeben an der Garderobe, Intellektuelle an der Garderobe abgegeben,
Niemand droht mehr mit den Katastrophen. <-- Du zählst eher auf, anstelle dich an deinen ersten beiden Strophen zu orientieren.
Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn.
Sie zieht die Schlinge. Man steht dichtgedrängt.
Warum hat er den Schal nicht abgenommen.
Er greift ins Leere. Schweigt. Er hängt.
Erlahmen und Erschlaffen füllt den Saal.
Da. Die Bahre. Geht zur Seite.
So viele ungespielte Noten.
Es gibt nur jähe Enden. Sucht das Weite. |
Die Strophen sind für mich vom Tempo und Aufbau her nicht einheitlich gehalten. Du wechselst vom in die Tasten hauenden Pianisten auf die Zuhörer im Konzertsaal, aber was die Zuhörer, die Jüngerwerdenden an Schuld fühlen und vergeben und vergessen wollen, was die abservierten Priesterinnen und arbeitslosen Philosophen, die leidenden Jungen und die stöhnenden Frauen im Sarg und die in Kinderwagen liegenden Alten mit dem vom Schal erwürgten Pianisten zu tun haben, ist mir nicht ersichtlich. Warum der Pianist nicht die Zeit hat, sein Stück zu Ende zu spielen, weiß ich nicht. Was das Stück mit den Zuhörern anstellt, ob es überhaupt etwas mit ihnen anstellt oder ob alles Beschriebene unabhängig vom Stück ist, erkenne ich leider auch nicht. Dafür sind die gesamten gegensätzlichen Vorgänge zu statisch. Stattdessen habe ich das Gefühl, hier wäre eine Konzentrierung auf den Pianisten passender gewesen, als mich mit der Zuhörerschaft abzulenken.
Punkte, Kommata und Gedankenstriche kommen und gehen, wie sie wollen.
Manchmal wird die Grammatik vernachlässigt und der Reim erzwungen, was mir aber als ein gesamtabsichtliches Konzept nicht konsequent genug angewendet wird.
Inhaltlich mit dem Pianisten und seinem Konzert und den Gegensätzen passend gewählt, scheitert für mich dein Gedicht am formellen Durcheinander.
Im Vergleich zu den anderen Beiträgen, hast du es leider nicht in meine Top 10 geschafft: zéro points.
Merci beaucoup.
LG,
Constantine
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Einar Inperson Reißwolf
Beiträge: 1675 Wohnort: Auf dem Narrenschiff
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04.06.2015 02:52
von Einar Inperson
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Hallo du, irgendwo in Raum und Zeit,
du bietest uns das Gedicht im Wettbewerb, das am strengsten seine Form einhält. Eine Form, die in ihrer scheinbaren Gleichförmigkeit, dem furiosen Stück schwarz auf weiß, dem wilden Spiel durch die Halluzinationen in diesem Altersheim des Lebens, der Unruhe in Kopf und Körper, eine trügerische Ruhe entgegensetzt.
Adagio möchte man deinem Pianisten zurufen, oder auch piano. Er würde es wohl nicht hören und auch der Leser wird gehetzt, ihm brüllt der Text in den Ohren. Was hilft da schon die scheinbar beruhigende Form.
Sehr gerne dem Konzert gelauscht.
Im freien Bewertungssystem der 9 Federn hätte ich klar über den Durchschnitt gegriffen. Warum bist du hier nicht in den Punkten. Allein, weil bei den anderen Gedichten, eine Strophe, ein Vers vielleicht nur, einen besonderen Nerv bei mir getroffen hat.
_________________ Traurige Grüße und ein Schmunzeln im Knopfloch
Zitat: "Ich habe nichts zu sagen, deshalb schreibe ich, weil ich nicht malen kann"
Einar Inperson in Anlehnung an Aris Kalaizis
si tu n'es pas là, je ne suis plus le même
"Ehrfurcht vor dem Leben" Albert Schweitzer |
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Rübenach Exposéadler
R
Beiträge: 2837
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R 04.06.2015 08:38
von Rübenach
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vier
_________________ "Vielleicht sollten mehr Leute Schreibblockaden haben." Joy Williams |
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crim sex, crim & rock'n'roll
Beiträge: 1578 Wohnort: München
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05.06.2015 19:02
von crim
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Meistens fein gedrechselt, wenn mir auch so ein "Nächstenmorgenschrei" als Reim eher negativ auffällt, ist das Gedicht in seiner Gesamtheit eine Leistung, die mit ordentlicher Punktzahl gewürdigt werden muss. 6.
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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05.06.2015 22:09
von Lorraine
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Hallo
Für Analysen und Kommentare ist leider keine Zeit. Alle Texte habe ich mit großem Interesse mehrfach gelesen. Beste Grüße,
Lorraine.
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anderswolf Reißwolf
Beiträge: 1069
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05.06.2015 23:21
von anderswolf
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So, wie dieses Gedicht grundsätzlich zwei Ebenen hat, nämlich die Geschichte des Pianisten und die der invertiert Lebenden, so zerfällt auch die Bewertung dieses Gedichts in zwei Teile: einerseits besticht die Verfremdung des Lebens durch Solarisation. andererseits nutzt sich dieser Effekt so schnell ab, dass man die Erlebnisse des Pianisten tatsächlich hinterfragt. Mit dem Ergebnis eine großen Leere, denn da ist nichts, was das Interesse des Lesers fängt, nichts, wo anzuknüpfen wäre im Verständnis, im Hinterfragen, im Interpretieren. Hinzu kommen Formulierungen wie die "betörenden Alten", die viel Toleranz erfordern, will man sie verstehen.
Angesichts der Konkurrenz: Null Punkte.
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Stimmgabel Papiertiger
Beiträge: 4370 Wohnort: vor allem da
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06.06.2015 05:33
von Stimmgabel
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zu / der Pianist :
quasi zwei separate Gedichte strophen hier ineinander, alternierend abwechselnd geschaltet; einmal das Bild des Pianisten [ wer hier figurativ tatsächlich gemeint ist, ist mir unklar? ], der sich quasi mit seinem kämpfenden Klavierspiel von Strophe zu Strophe mehr in seinem Spiel, in der Zeit erhängt [ als wäre es ein Spiel, das vorab schon sinnlos angelegt sei ... warum, keine Ahnung ... eben, mit fehlt hier die/meine Figuration ]
Dann im zweiten Gedicht ein Sinn_umgekehrt aufgezeigter Lebensweg als Figuration zum Menschen_leben ... alles spielt sich zeitlich umgekehrt ab; die Jungen verhalten sich wie die Alten; die Alten leben das Leben der Jungen. auch zu diesem Bild fehlt mir die Bedeutung einer Meta_ebene.
Nun ist beides in Alternierung; welche Funktion könnte es haben?
vielleicht: das Bild der Zeit, die Vorstellung, die wir davon haben, existiert nicht nur einzig in unserer Vision, vielmehr bedeuten/gewichten wir sie auch beliebig aus ihrer eigenen Linearitität ganz herausgerissen ... mmhhh ?
... bauten uns unsere persönliche Zeitvorstellung? und: als führe Zeitverstrich immer in ein Ende, ein Ende immer zu einem Anfang ???
ehrlich, so recht gelingt mir hier kein sinniges Metabild ... wird an mir liegen ...
beide Gedichte sind durchgängig mit einem unteren Kreuzreim strukturiert; beide Gedichte verfolgen Strophe für Strophe eine quasi Zeilenvers_dichtung ... so gesehen konsequent und sauber durchgeführt;
nur, was hat das Ganze mit einem Langedicht [ seiner inneren Struktur ] zu tun ??? ehrlich, recht wenig !!!
Gruß Stimmgabel
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_________________ Gabel im Mund / nicht so hastig... |
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Zinna schweißt zusammen, was
Beiträge: 1551 Wohnort: zwischen Hügeln und Aue...
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06.06.2015 17:31
von Zinna
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Hallo Inko,
die Zeit war knapp zum schreiben und kommentieren, passt ja zum Thema. Irgendwie.
Ich bitte um Verzeihung, dass meine Kommentare diesmal besonders kurz ausfallen.
Ein furioses Tempo, mein lieber Schwan und ein kraftvoller Rhythmus treibt einen durch den Text.
Die Zeit, nicht greifbar, nicht haltbar zwischen jung werden und alt bleiben, hat den Pianisten an der Klaviatur des Lebens erdrosselt.
Das ist gemein, findest du nicht auch?
Er hat sich doch noch auf einen Punkteplatz gespielt.
LG
Zinna
_________________ Wenn alle Stricke reißen, bleibt der Galgen eben leer...
(c) Zinna |
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lilli.vostry Wortschmiedin
Beiträge: 1219 Wohnort: Dresden
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07.06.2015 02:27 aw:DerPianist von lilli.vostry
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Hallo,
ich bin unschlüssig bei diesem Gedicht. Die erzählte Geschichte wirkt auf mich teils ernst, teils unfreiwillig komisch bis übertrieben dramatisch. Und teils zu bemüht gereimt.
Der wiederholende Vers: "Er hat die Zeit nicht, denn die Zeit hat ihn" wirkt gestelzt und sehr allgemein, obendrein sprachlich nicht stimmig. Denn eingentlich müsste es doch heißen: Er hat keine Zeit.
Ein schwerkranker Pianist spielt in einem Altenheim, will es schnell hinter sich bringen. Es wird sein letzter Auftritt.
V6 ist mir unklar. Wieso geht es plötzlich um die Jungen, die auch noch unter Wechseljahren leiden?! Entsprechende Beschwerden treten doch erst in späteren Jahren auf... Oder soll es ein Synonym für etwas anderes sein?
Unverständlich auch: "In Särgen stöhnen Frauen in den Wehen" - Untote??
Und eine Bar im Pflegeheim? Der Vers fällt auch aus dem vorher beschriebenen Ambiente heraus.
Das ist mir zu wenig überzeugend vom Inhalt wie Form.
Dieser Text steht nicht auf der Liste meiner zehn besten Texte in diesem Wettbwerb.
Viele Grüße,
Lilli
_________________ Wer schreibt, bleibt und lebt intensiver |
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keinort.nirgends Wortedrechsler
Beiträge: 62
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07.06.2015 06:01
von keinort.nirgends
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Sooo, jetzt schaue ich mal, dass ich meinen letzten Kommentar noch fertig bekomme, bevor die Zeit abläuft!
Zunächst: Ich mag das Grundmotiv des Gedichts, also die Umkehrung von alt und jung, "Alte in Kinderwagen", "Kinder schieben Rollatoren" usw. Allerdings beschleicht mich ein wenig das Gefühl, dass diesem Text die "Langdichtung" nicht zugute kommt, sondern ihm eher schadet.
Ich glaube, mit der Hälfte an Strophen, oder weniger, ließe sich das genauso bewerkstelligen. Einerseits weil diese alt-jung-Bilder und das "Getriebensein des Pianisten" sich für meinen Geschmack irgendwann nur noch wiederholen, ohne wirklich einen textlichen Mehrwert bereitzuhalten. Andererseits weil auch einzelne Segmente für mich wie aufgefüllt wirken:
"großen, vollen Saal." - das denke ich mir bei einem Saal automatisch mit dazu, da entsteht durch die Attribute kein wirklicher bildlicher Mehrwert für mich. Nun gut, leer könnte er schon sein, aber zumindest das "groß" denke ich mir automatisch mit.
"Sie üben zu vergeben und vergessen" - das ist zwar semantisch nicht das Gleiche, allerdings wirkt es für mich hier auch als Füllsel.
"Er zuckt und schlägt und packt und tönt " - diese Polysyndeta, die im Text häufiger vorkommen, können schon eine steigernde Wirkung haben, allerdings wirken sie auf mich hier teilweise eingeschoben. Mit der besonderen Situation im Hinterkopf, in der sich der Pianist hier befindet, würde sich mir gedanklich wohl das gleiche Bild formen, stände da nur "er zuckt" oder "er schlägt".
Um mir die Metrik über den ganzen Text hinweg anzuschauen, fehlte mir leider die Zeit. Allerdings sind da schon am Anfang ein paar Wechsel in den Hebungen und auch im Versmaß, die ich mir inhaltlich nicht ganz erklären kann. Gerade beim inhaltlichen Themenfeld "Musik" könnte hier durch den sehr bewussten Umgang und subtilen Wechsel mit/im Versmaß viel gewonnen werden, denke ich.
Ganz allgemein erinnert mich dieses Setting an einen Film, von dem ich mal gehört habe (aber nie gesehen), in dem ein Typ seinen Puls immer über einer gewissen Frequenz halten muss, weil ihn sonst irgendein eingesetztes Implantat umbringen würde. Funfact am Rande (: Weiß nicht, ob Du den wohl beim Verfassen kanntest.
So, jetzt muss ich langsam mal mit meinen Bewertungen anfangen. Bis gleich in der Auflösung!
Liebe Grüße,
Kein Ort
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Malaga Klammeraffe
Beiträge: 826
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07.06.2015 13:42 Re: Der Pianist von Malaga
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Leider nur ein Kommentar, keine Bewertung - Zeitproblem.
Doch wenn ich bewertet hätte, wäre dies mein Favorit gewesen.
Der Pianist, der spielt, spielt um sein Leben, gegen die Zeit, getrieben von der Zeit, kann doch nicht gewinnen. Kann dem Ende nicht entgehen. Die Zeit zieht die Schlinge. Er lässt sich jagen, kein Innehalten, Schweigen. Kein Anschauen der Wunden. Ein Getriebensein durch das Leben, von der Zeit und vom Publikum. Spiegelt ja unser modernes Lebensgefühl ("Schneller Wohnen", zum Beispiel )
Am Ende: Wie man da das Weite suchen kann, ist mir allerdings nicht klar ...?
Die Strophe mit den abgedankten Priesterinnen und den arbeitslosen Philosophen: Sinnbild für die Sinnentleerung des Lebens, das auf Zeit reduziert wurde?
Bedeutung des roten Schals?
Zur Form:
Der Wechsel mit den Strophen, die die Synchronizität der Zeit zeigen, damit ihre (der Zeit) Verräumlichung; die Alten gleich Babys, die Jungen in Wechseljahren ...
Zitat: | In Särgen stöhnen Frauen in den Wehen,
Die Babys liegen in den Sterbebetten |
Toller Einstiegssatz.
Tolles Gedicht, obendrein gereimt. Schöne Bilder, schöne Wortwahl. Spiel mit lyrischen Mitteln, ohne den Einsatz zu forcieren.
Alle Achtung, dies unter Wettbewerbsbedingungen zu schreiben.
PS: Trotzdem: (Achtung:Sarkasmus:) "Es gibt nur jähe Enden." - Schön wär´s!
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