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Ein paar Minuten im Verfügungszentrum


 
 
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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 62
Beiträge: 942
Wohnort: Hangover
Der silberne Roboter


Beitrag25.04.2015 16:50
Ein paar Minuten im Verfügungszentrum
von Christof Lais Sperl
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Warum ich hier sitze? Na ja. Hab nach der Schule gleich angefangen, das Beste aus den paar Anlagen rauszuholen. Dünnbrett sollte es allerdings nicht werden. Mittlerweile schreibt sich doch jede Schnarchnase ein. Der eine zieht’s durch, andere hängen noch Jahrzehnte wegen der billigen Krankenversicherung drin, schaffen’s dann aber doch nie. Nirgendwo mehr von diesen Schluffis. Manche schon im fünfzehnten oder  zwanzigsten. Ein Sammelbecken ewiger Weicheeier und Unentschiedener, die sich außer dem Dienst in der Bildungsanstalt oder dem ewigen Studentenleben eh nichts vorstellen können. Und oft nur so viel lernen wollten, wie zur Ausübung der Paukertätigkeit gerade nötig ist. Sogar die die Gymnasialen sind unbelesen und interesselos. Wissen nicht, was sie so machen wollen, haben sich erstmal also quasi ins Lehramt eingeschrieben, wissen ürgendwie noch nich, ob die Fächer die Richtigen sind. In dieser Art geht die Logorrhoe hier tagein tagaus, eine Sülze, die ich zu fast jeder Zeit und an jeder beliebigen Stelle im Betonklotz abrufen kann, wenn ich nicht schnell noch die Flucht ergreife. Wir können’s ja oben mal testen. Ja, genau, wie die da drüben. Manche ätzen sogar im Lesesaal der Bibliothek. Da kann keiner schnell mal hinters Regal abhauen. Entnervende Monologe an den Lesetischen. Haben sie erstmal angebissen, gibt es kein Entweichen mehr. Auf  We’re only in it for the money hat man auch so einen Quasselkopf verewigt, der zur schön schrägen Katzenmusik von einer Zukunft schwafelt, die sowieso nie eintreten würde. Klar, Zappa. Ja, bring’ mir einen mit! Diese Labersäcken sind auf der LP leider nicht verewigt worden. Vielleicht wären sie uns in diesem Falle im wahren Leben erspart geblieben. Mit der Aufnahme aus dem Blickfeld verschwunden. Ohne Milch und Zucker! Dann hätte man sie einfach ins Regal zurückgeschoben, und etwas anderes gehört. Was antres sagen die Locals hier. Nein, diese Sülzmäuler hier unter uns liegen, mal hier, mal dort, bedrohlich, dreidimensional und hochaufgelöst in Millionen Farben vor. Also hat Dech einen der Betroffenen, dessen Klarname mir entfallen ist, wegen der monotonen, mit Rederoutinen gespickten Sprechweise nur noch den Quasi genannt. Ohne! Nein! Milch auch keine! Menschen gibt es an dieser Uni, die als  Deutsch-Studenten ohne mit der Wimper zu zucken vorgeben, dass Schiller ein Drama von Goethe ist. Und tun dies sogar, ohne groß religiös zu sein. Ich sage dir, man findet Leute, die jeden Plural mit Apostroph schreiben, Jagd mit t, Advent auch am Schluss mit d  - und Protestierer, die Widerstand mit ie auf Transparente pinseln. Sprache, die auf Glaubenssätzen und Annahmen basiert. Geglaubt werden sollte aber, wenn überhaupt, nur in der Kirche! Lest verdammt noch mal die Bücher, über die ihr ständig redet, denke ich mir immer. Dann könnte wenigstens noch ein bisschen Rechtschreibung bei euch hängenbleiben. Danke! Ich geb’s dir gleich zurück, oder hol’ dann später noch einen. Was soll ich jetzt mit den ganzen Hirnis anfangen, die mir dauernd ins Gesichtsfeld knallen? Selbst da rein und Deutsch studieren? Gottergottergott. Die Muttersprache kann ich doch schon, und all die Walthers mit ihren Vogelweiden, die Hölderlins und  Hesses sind uns schon von unseren Omaweibern, also den Nickelbrillenmädchen und ihren Bands wie Ougenweide vorgegniedelt worden! Ich würde den ganze Uniladen gern am Kragen packen und so richtig durchschütteln. Damit die alle mal wach werden. Was tun? Fragte der Lenin in mir. Brainstorming, sagte das Ich in mir. Für Medizin bin ich zu doof, Germanistik hat kein Sozialprestige. Außerdem will ich mit den Langweilern nicht den gesamten Vormittag verbringen. Recht und Wirtschaft sind sowieso öde, malen konnte ich noch nie, und würde als Musiker höchstens mit dem Sammelhut in der Fußgängerzone überleben.

In einem Land, in dem man bei der unvermeidlichen Film-Synchronisation jeden französischen Paul, sprich Poll zum englisch gesprochenen Pendant Porl verbiegt, in dem Montréal [mõʀe’al] immer dem anglokanadischen Mantrioll [mʌntɹi:’ɒl] Vorfahrt gewähren muss, und in dem der Fettklops von Plattenhändler auf meine Frage nach dem Boléro im Regal vergeblich eine LP von Ray Well sucht, muss entweder jeden Abend gesoffen, oder etwas für die Kultur getan werden: Perfekt Französisch sprechen! Das ist meine Faszination. Aber hier an der Uni stößt mein jugendliches Arroganzhorn auf die steinerne Faktenlage, dass das Vollkommene doch nicht so ganz einfach zu erreichen ist.

Mehrere romanische Sprachen kannst du nicht kombinieren. Jedenfalls fürs Diplom. Studienordnung. Daher mache ich inoffiziell und heimlich bei Miguel ein bisschen Spanisch. Kannst auch Italienisch bei Orsí machen, musst dich pro forma zusätzlich in Wirtschaft oder Anglistik einschreiben. Gehst dann aber nicht hin, wenn du nur die Fremdsprachen lernen willst. Hauptsache genug Scheine. Nachdem ich mir die Wirtschaftsschnösel ein wenig genauer betrachtet hatte, hab ich mich schnell noch in Englisch eingeschrieben. Die aus der Wirtschaft sehen nämlich alle so aus, als hätten sie ihren Diplomatenkoffer schon als Baby auf der Entbindungsstation in die Hand gedrückt bekommen. An der Schule war Englisch ziemlich öde, aber hier an der Uni beginne ich’s lieben zu lernen - obgleich es zu Beginn vordergründig noch leicht, gegen Ende hin für wirklich Interessierten in der Art einer Schallquelle, die sich dem Beobachter nähernd, einen immer höheren, an zu überwindenden Wellen dichteren Ton erzeugt, immer schwieriger wird. Sagen jedenfalls die, die schon länger drin sind. Wirst es schon noch merken. Eine unbezwingbare tonale Festung, wie eine Gegenstromanlage von unregelmäßig verstreuten Komplikationen, Milliarden Kollokationen, einer schwierig zu erlernenden, regional stark variierenden Melodieführung, willkürlichen Regeln des Artikelgebrauchs und zahllosen Kontinentalvarianten. Einmal heißt es Congress, dann aber fast immer  the Senate, dann immer summer und Iran, aber the Middle East Der schwer zu fassende Betonung macht große Mühen, die Fülle an Vokabular macht ganz schwindelig, und den ständigen Zuwachs an Wörtern kann nicht mal ein Marathonläufer einholen.

Ich kämpfe mich manches mal durch Sätze, bei denen ich jedes Wort verstehe, und doch keinen Lichtstreif von Sinn erkennen kann! Aber all das wird ausgeglichen von der glasklaren Wissenschaftssprache, und der mit Bildern gefüllten Literatur, die jede schwierige Materie zum lebendigen Wortvergnügen machen. Immer dann, so viel weiß ich schon, wenn in einem sprachlichen Code das System an einer Stelle komplex wird, nimmt es an anderer Stelle an Schlichtheit zu. Sagt jedenfalls Hansen. Und wer Wissenschaft wirklich verstehen will, sollte immer dann die griffigen, englischen Originalfassungen lesen - wenn er sie sich besorgen kann.


Die Schwierigkeiten beim Französischlernen nehmen stetig ab. Aber zweierlei bleibt für dieses Wortgebirge: Da ist zum einen der Riesenunterschied zwischen Schrift und Aussprache. Mit den dazugehörigen Möglichkeiten zum Missverständnis. Hast du von einem Monsieur Berteleau gehört, dir den Namen aber nicht buchstabieren lassen, und suchst ihn in einem Telefonverzeichnis, könnte es dreißig, vierzig, fünfzig Schreibweisen für den Namen geben: Bertheleau, Bertelot, Bertelo, Bertellau, Baire-Thelot, Bère-Telo, Berteleaut, Baire-Telleau, Baire-Teleaux, Berte-Ello, Baire-Tello, Bairrtel-Eau und immer so weiter und so fort. Gleich klingende Sätze wie la bière du pêcheur können vier Bedeutungen haben, die, je nachdem wie geschrieben, von der Totenbahre des Fischers bis zum Bier des Sünders reichen.

Andererseits ist der große Wortreichtum durch die ausgeprägte Doppelanlage von Standardsprache und Umgangssprache mit ihren Gruppen- und Geheimsprachen wie dem Argot, für die es allesamt auch umfangreiche, spezielle Wörterbücher gibt, eine weitere, größere Herausforderung. Daher gibt es in vielen Fällen zu einem Bedeutungsbereich mindestens zwei Vokabeln zu lernen: Da kann ein Regenschirm parapluie sein, umgangssprachlich aber ein pépin. Auch ein problème kann ein pépin sein. Wasser, eau, wird zu flotte, journal zu canard frère (wenn’s kein Geistlicher ist) zu frangin, soeur zu frangine, voiture zu bagnole, maison zu baraque, chaussures zu godasses, pantalon zu futal und vin zu pinard. Glücklichwerweise ändert sich zwischen den Varianten das grammatische Geschlecht meist nicht. Ich habe Glück, denn mein Kumpel aus Paris spricht nach Möglichkeit nur in der Umgangssprache. Bei dem kann man lernen, wie in der besten Vorlesung.

Ich will das alles also verinnerlichen, sitze letzte Woche noch im Gang des Aufbau- und Verfügungszentrums, wie man den Klotz hier nennt. Werde aufgefordert, einzutreten. Gehe ins Zimmer der Studienberatung. Verhör. Auftrumpfende Abschreckungswalküren von der Studienberatung, die ihren Abschluss schon in der Tasche haben, und den Kopf daher ganz hoch tragen können. Herr Lais, Sie müssen wissen,  in Romanistik und vor allem im Diplom muss wirklich was getan werden, und bevor ich etwas sagen kann, fährt die Schnepfe fort, drückt ihren Kopf bedrohlich schnell in Richtung meines Gesichts: Haben Sie sich das mit der Romanistik gut überlegt? Ich ganz erstaunt, dass man so was an einer Uni fragen muss! Da geht’s mir wie meinem Bekannten, der mehrere Fitnessstudios managt. Der wollte sich einen neuen BMW holen, und der Hirni von Autoverkäufer fragt: Können Sie sich den überhaupt leisten?

Ich gebe den Stoß Formulare ab, drehe ein paar Halfzware-Zigaretten auf Vorrat, soll draußen warten, werde noch mal reingerufen, alle Dokumente komplett, ich soll einfach ein paar Wochen warten. Offenbar muss die junge Dame mit ihren Predigten die Hochschule gegen das Heer der unentschiedenen und unerschrockenen Schwadroneure abschotten, die dann doch immer wieder in die Seminare drängen, herumdünsten, stricken, hellen Javaanse-Jongens mit Filter rauchen, gemütlich im Warmen sitzen, als dreimalige Quereinsteiger planlos im Leben treiben, und zwischen Fakultäten hin- und herspringen. Mal Physik, mal Bio, mal Tralala, ohne, egal wo, besonders viel zu verstanden zu haben. Leute, die bis fünfundzwanzig gerade mal ein Buch gelesen, aber trotzdem zu jedem Scheißthema Bedeutendes abzusülzen haben. Selbst wenn’s keiner hören will. Mancher Professor muss in schwierigen Fällen sogar Redeverbot erteilen. Ich hab’s bei Dech bereits erlebt.

Die Abschreckung zieht aber bei mir nicht. Ich gehe hin. Jeden Tag. In einer für uns ziemlich ungewohnten Art werden wir nun von Muttersprachlern in natürlichem Stakkato in Übungsveranstaltungen besprochen, oder, wie man auch sagen könnte, zugetextet, worauf die ersten Töchter aus gutem Hause, die sich wie ich von der Studienberatung auch nicht abschrecken lassen hatten, schon fleckgesichtig abzuspringen beginnen. Der gesamte Studiengang: voll von Töchtern aus gutem Hause. Mädchen aller Arten fluten durch die Gänge. Gleich gehen wir hoch. Ich zeig’ dir alles. Aber Achtung! Ein paar sehen aus wie die Schwanitz’schen Traktoristinnen aus dem Campus. Und dann gibt es noch eine nenaartige, die immer irgendwo im Weg steht, mit breitschultrig aufgepolstertem Achtzigerjäckchen und militärisch zackigem Pseudopunkhaar, und zwischen den dreieckig klimpernden Ohrringen vegetiert das nach unten spitz zulaufende Hungergesicht. Es rückt eine verwirrende Ansammlung von Dreiecken ins Blickfeld, von dem das Element in der unteren Mitte mich und die anderen Männer am allerwenigsten interessiert. Dich sicherlich auch nicht. Offensichtlich ein psychisch kompliziert strukturiertes, und vielleicht auch von irgend etwas ein wenig enttäuschtes Wesen, das hier an als militante Nichtraucherin auftritt, sämtliche Fenster aufreißt, daher zum Glück auch nicht in Gesellschaft in der Cafete sitzen kann, und sich oben unter Redeverbot nur noch mitschreibend herumdrückt. Die wird in meinem späteren Leben noch eine ausnehmend unheilsame, ja lebensbedrohliche Rolle spielen. Hat mir jedenfalls die Roma-Oma gesagt, die vor zwei Tagen draußen im Garten herumging und für ein paar Mark Handlinien las.

Klar, auch im Diplom geht man gern den Weg der geringsten Anstrengung, denn die Leute aus italienischen Einwandererfamilien studieren: Na was wohl? Italienisch. Und die frankophonen Gaststudentinnen haben sich in, rate mal, Französisch eingeschrieben. Hätten wir Turkologie gehabt, wäre wohl alles voller Türken gewesen, was, lernt man nur das Nötigste, ungefähr genau so anspruchsvoll ist, wie wenn ein Deutscher an der Columbia Germanistik belegt. Obwohl in den USA im Gegensatz zu Deutschland wenigstens noch haufenweise Bücher gelesen werden müssen. Wenn man nicht zufällig Basketball spielen kann.

Immerhin, ideale Bedingungen. Die Türen der Professoren stehen offen, man kann in den neuen Sprachen, wenn man es darauf anlegt, die gesamte Woche ohne ein deutsches Wort verbringen. Allerdings halten die Unentschlossenen, darunter sogar ein paar original Vokuhila-Mischnas, mit ihren dummen Fragen die Seminare auf. Das wirst du dann selbst noch sehen. Jedenfalls dann, wenn es um vermeintlich anspruchslose Themen geht  - und man sich unter Zugrundelegung des erklärenden Veranstaltungsverzeichnisses, und im guten Glauben ans Leichte, massenhaft in eben dieses vermeintlich schwerelose Seminar eingeschrieben hat. Dies ist oft der Fall bei Themen wie Black American Literature, Native Americans, Sprache und Geschlecht, Frauenliteratur,  Gender Studies und so weiter.  Ich betreibe daher vornehmlich Linguistik, da meide ich die Masse, da alle denken, das wäre zu abstrakt und schwer. Viele glauben, man könne in Literaturwissenschaft mit einem Buch pro Jahr bestehen, das entweder von Camus oder Djian sein muss. In Linguistik sitzen im Proseminar nicht mehr als fünfzehn Leute, von denen 10 interessant bis beängstigend smart sind. Aber auch im Hauptseminar hält die DDR, also der doofe Rest, immer nur den ganzen Laden auf. In Sprachpraxis geht es noch gut mit den professionellen Meinern. Man muss den muttersprachlichen Input der Lektoren eben genau so hinnehmen wie er kommt, da gibt es keine Diskussion, und wenn, dann auf Französisch oder Englisch. Wenn Morrissey einen doppelten Trennungsstrich in einer englischen Arbeit als Fehler wertet  - im Englischen darf man nur einen machen - dann ist das eben so. Was sollte ich dazu noch sagen? Ich vermeide Silbentrennungen ohnehin, da die englischen Trennungsregeln undurchschaubar sind. Einfach eine neue Zeile zu beginnen, das ist die Beuys’sche Kunst, die nicht vom Können kommt. Wenn allerdings irgendeine wissenschaftliche Gegebenheit oder Finesse Gegenstand einer Seminardiskussion bei einem deutschen Professor wird, dann kommen Beiträge, die so abseitig stümperhaft sind, dass sich die Balken biegen: Einer hat in einer textwissenschaftlichen Hausarbeit, gestern bei Dech, einen Text inhaltlich in absurde Kurvendiagramme gefasst, je nachdem, ob es entlang der Textverlaufslinie um das Hauptthema, dicke Linie, geht, oder aber nicht. Dann dünne Linie. Er trägt vor und vor. Sah aus wie ein Kardiogramm auf der sprachwissenschaftlichen Intensivstation, nur ohne Krankenschwester. Eine andere hat dann noch die Sapir-Whorf-Hypothese, Sprache bestimmt Denken, ohne viel Verstand auf den Feminismus übertragen, dabei nicht einbezogen, dass die das Weibliche stark markierenden asiatischen Sprachen trotz der vielen Partikel die elende Situation vieler dort lebender Frauen eben nicht gerade verbessern, und ging auf entsprechende Einwände gar nicht ein. Dech runzelte die Stirn und schwieg. Denkfehler feministisch angepasster Theorien. Man kann eben nicht alles durch die Frauenbrille betrachten, selbst wenn’s praktisch wäre. Da muss man schon ein wenig weiter denken. Wie ebenfalls bei Schwanitz gelesen, gibt es natürlich auch solche Leute, die während ihrer Ausbildung außer einem unscheinbaren Gallimard-Band von Saint-Exupéry  nur den Petit Nicolas lesen, und beim alten Gide schon am ersten Satz scheitern würden. Die kommen am Zwischenprüfungstag schwitzend, und samt Familie und Dackel in gebückter Erwartung auf dem Gang stehend, niemals über die erste Hürde des Vordiploms. Und gesellen sich zum Heer der Wichtigen, die nicht umhinkommen, ständig zu betonen, dass sie einmal irgendwas studiert hätten. Sagt Dech jedenfalls immer.


Und dann die ewige Cafete. Wollig gekleidete Studentinnen, die in den Pausen mitgebrachte und undefinierbare Müslibreis direkt aus den Tupperwaredosen hineinsabbern. Oder Dauerschwätzer, die besser Radiomoderatoren werden sollten. Ich trinke in Mußeminuten meine sechs Kaffees, gucke in eine andere Richtung, rauche eine nach der anderen, genieße die Achtzigerfiguren ohne von den Achtzigern zu wissen, und beobachte Vertreter der K-Gruppen in Nike-Turnschuhen, also den Sneakern vom imperialistischen Feind, wie sie Flugblätter verteilen. K ist ja eigentlich ein attraktiver Gedanke. Und man sagt, wer mit achtzehn nicht K ist, hat kein Herz. Aber diese Kombination, die wirkt, wie wenn Sarah Wagenknecht in einer Thor-Steinar-Jacke aufträte oder Angela Merkel im Che-Guevara-Shirt. Ein Kommunist im fünfhunderter Mercedes, das schafft Spannung!, sagt Rogler. Ich betrachte diese Szenerie nun täglich, und als einsamer Kauz, der alles andere als Frauenversteher ist, habe ich neulich auf eine Kontaktanzeige in der Studentenzeitung geantwortet, und warte nervös auf Rückmeldung. Aber eine Studentin mit kurzer Betonfrisur, auch eine dieser Traktoristinnen, hat mir offenbar nur wegen jener als Unverschämtheit bewerteten Aktion soeben wortlos den Stuhl unterm Hintern weggezogen. Harte Landung. Ich saß eben noch wie ein Volltrottel auf dem arschkalten Steinfußboden. Wie ist dieses Monster mit dem Gesicht einer DDR-Schwimmerin eigentlich an meine Antwort gekommen? Hatte auch sie eine Freundin gesucht?  Ich war mir zu fein, genau nachzufragen, und ließ ihr dann, unter viel Applaus der herumsitzenden Mädchen und mit Freude, einen Becher Cola zu immerhin achtzig Pfennig, direkt aus dem beigefarbenen Zelluloidbecher über das eckige Haupt und die Drahtfrisur regnen. Sie stand wie ein begossener Pudel ohne Gegenwehr, ein wenig trüb, überrascht,  ganz ohne Bravorufe geblieben zu sein.

Mit einer Französischlektorin hat’s jetzt aber doch noch geklappt. Erst habe ich ja gar nicht gewollt. Zuviel Respekt. Und frisch verliebt in eine warme, weiche, wunderbar wuschelige, blondgelockte Barbara. Doch die befindet sich, ich mag ja immer die Schwierigen, in einer akuten Kiff-Verpeilung. Die hat meine Blicke gar nicht bemerkt. Der Strom des Lebens spült mich, wie immer und ewig gegen meinen Wunsch, an die Küsten dieser Dozentin, die sehr gut argumentieren, charlotte au chocolat und ficelles picardes zubereiten, enge karierte Röcke tragen, und noch viele andere Dinge kann. Ihr Lied ist Golden Brown von den Stranglers, sie beweist Musikgeschmack, und die Kombination des Schicksals lässt sich ideal an: Französische Germanistin mit blauer Ente und schwarzem Nummernschild und deutscher Romanistikanfänger. Doch schon kann ich spüren, dass etwas nicht ganz rund läuft, zwei Dickschädel nicht reibungslos zueinander passen. Wir werden voneinander profitieren, doch dann wird sich die Zuneigung ins Boshaft-Konkurrierende verwandeln, sagt die Roma-Oma. Wenn die Lektorin hereinkommt, wirst du bald hören, dass sie hat einen eigentümlichen Sprachfehler hat. Im Französischen und auch in ihrem vollkommen klaren und sauberen Deutsch. Den Endsilben der Satzenden pflegt sie die ein wenig affektiert klingenden Silben efe oder ere anzuhängen, wir müssen noch einkaufen-efe, so hört sich das an. Ein charmanter kleiner Makel, den sie durch ein gut kalkuliertes Zusammenspiel mit einigem Getue so wirken lässt, als sei die besondere Redeweise Merkmal und Anzeichen höchster Kulturbeflissenheit. Noch finde ich das faszinierend.

Ihre Eltern wohnen im département Oise auf dem Lande, haben Schafe, Hunde, Kaninchen, es riecht nach Urlaub. Papa und maman scheissen draußen irgendwo in die Natur, der Weg vom Feld zum Klo wäre zu lang, ein kleiner Dackel lebt beim Esel im Stall, und alle Stunde muss der sein pumpendes I-A machen, braire sagen die Franzosen dazu,  iahen die Deutschen, und sofort beginnt der Dackel vor lauter Schlappohrenschmerz erst zu jaulen und dann zu heulen. Beide sind in ihrer Tierfreundschaft unzertrennlich, der Dackel würde den warmen Stall nie freiwillig verlassen. Der Esel aber muss täglich auf die Weide gebracht werden. Um ihn dorthin zu bewegen, hat man ihm einen Stock quer durchs Gesichtsfeld  zu halten, erst dann wird ihm klar, dass die Lage ernst ist, und er besser folgen sollte. Die sanfte und nachsichtige Lebensabschnitts-Schwiegermutter hat als garde champêtre eine enge Beziehung zur Grundschule und jedes Jahr lassen sich die Erstklässler einzeln breit grinsend mit ihren Zahnlücken auf dem Esel fotografieren. Von jedem Kind bekommt das Tier an diesem Eselsweihnachtstag eine Möhre, und im Wohnzimmer hängt die Bilderreihe vergangener Karotten-Jahrzehnte. Die Schwiegermutter hat den Esel auf geheimnisvolle Weise auch ohne Stock so gut im Griff, dass er wenigstens nicht wegläuft oder bockt. Sonst lässt er nie jemanden auf seinem Rücken sitzen, und trabt im Falle eines Aufsitzversuches sofort unter einen Baum, der exakt so niedrig ist, dass die Intelligenzbestie selbst gerade noch darunterpasst.

Im Dorf lebt einer der Ortsalkoholiker in einem leer stehenden Umspannhäuschen, hat dort Bett und Stuhl, flucht durch die offene Tür und säuft sich eins. Man nennt ihn
le transformateur. Kurzgeschorene Idioten leben in unmittelbarer Nähe des Hofes, beleidigen Rentner als Faulpelze, rufen lauthals ihr fainéant und andere Beleidigungen durch die Straßen, schlagen ihre  Kinder, deren Zahl immer weiter zunimmt, haben eine Schrotflinte an der Wand hängen, und manches Mal nichts weniger als die unterm Arm, wenn sie zum Briefkasten gehen. Einem besonders feisten Nachbarglatzkopf hat die Ehefrau, als sie ihn töten wollte, ins Knie geschossen. Er starb im Krankenhaus, allerdings nicht an den Folgen des Schusses, sondern an einem durch den Schreck ausgelösten Herzinfarkt. So geht es in Ländern zu, in denen die Jäger an der Macht sind, und man in jedem größeren Einkaufszentrum Jagdwaffen frei erstehen kann. Da kommt so mancher auf dumme Gedanken. Oft spiele ich mit den Kindern aus Soissons, die zum Wochenende aufs Land kommen, und beim Puppenspiel muss ich mich an ihren seltsamen Dialekt gewöhnen: Alle va là, pis alle va la, et matt’nant, alle va là. Die Sprache der Nordfranzosen klingt ganz besonders kehlig, steckt noch mehr im Hals als der Pariser Dialekt, und klingt im finalen r-Laut, fast wie Arabischer Akzent, Thüringisch oder Nordhessisch. Um die Dozentin zu besuchen, muss ich immer mit dem Auto durch das Ch’ti-Land und das nächtliche Belgien juckeln, was für ein Fahren ist das auf den des nachts orangefarben beleuchteten Autobahnen! Die Belgier lenken ihre abgelutschten Kisten auf völlig hirnverbrannte Art, überholen blinkerlos mit Fischschwanz links und rechts, fahren nachts ohne Licht, und machen auf dem Standstreifen Pausen ohne Warnblinker. Irgendwann habe ich erfahren, dass die Belgier bis in die Siebziger hinein gar keinen Führerschein brauchten. Die Volljährigkeit war bis dahin vollkommen ausreichend gewesen.

Ich pendele sehr oft und weich gefedert mit meinem von der handbremslosen Pariser Park-und Rangiertechnik verbeulten Kadett zwischen Frankreich und Deutschland, meine französischen Telefonnummern Französisch, die deutschen Deutsch im Kopf. Außer an den blauen Straßenschildern, der rechthaberischen und lichthupenden Raserei und den elenden, mit lächerlich infantiler Narrenkronen-Reklame versehenen Container-Tempeln der rund um die Uhr zu befriedigenden Münzautomaten-Spielsucht, die in der Nähe der Autonahnausfahrten nun wie Pilze aus dem Boden wachsen, kann man im Autoradio auf der Rückfahrt an der unsäglichen Klopapierwerbung, am Mantra wie immer ohne Gewähr, und am bundesrepublikanischen Medizingebet zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker erkennen, dass man nicht noch in Eupen, sondern schon wieder in Deutschland ist, wo auch noch von jeder halbwegs bekannten Band nur die übelsten Stücke, die sie je geschrieben haben, im Radio dudeln: Lessons in Love von Level 42 oder Friday I’m in Love von den Cure sind Beispiele für ein Musikprogramm, das wie das gesamte Land nach der Methode des größtmöglichen Konsensschaffung organisiert ist: Bloß bei keinem anecken oder Lieder spielen, die keiner kennt. Einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden Ländern kann man auch anlässlich eines Kondomkaufs erleben: Hierzulande kramt der Apotheker diskret ein paar Päckchen unter dem Ladentisch hervor, brummt irgendetwas Unverständliches vor sich hin, und packt dann alles in ein neutrales, weißes Plastiktütchen. Und in Frankreich? Dort flöteten die Apothekerinnen den Kunden ein kokettes  bon après-midi, Monsieur! hinterher.

Ich fahre zurück in das Land, das Fragen aufwirft: Warum haben alle Polizistinnen lange Haare und einen Pferdeschwanz, wieso sind alle Postbotinnen blond und warum tragen alle Dicken Leggings und kurze, rote Haare? Warum hat der Tierschutzbund mehr Mitglieder als die Kinderhilfsverbände? Warum werden bei tausenden Verkehrstoten Blitzerwarnungen im öffentlichen Radio durchgegeben? Und warum stopft manche Frau ihren Kleinwagen mit Kuscheltieren voll? Warum trinkt man Waldmeisterlimo und warum gibt es Zigarettenautomaten?

Von Sylvain war bereits wegen Fleischbonbon und vor allem Pascal die Rede gewesen. Als angenehm sanfter Vertreter seiner Muttersprache, steht er ganz im Gegensatz zu der forsch und breitbeinig auftretenden Dubonnet-Schmidt, einem lebenden Beispiel für die Regel, dass alle wichtigen Frauen in Deutschland eines Doppelnamens bedürfen, was auch für die interkulturellen Exemplare gilt, und die den Studenten in doppeltem Sprachtempo zu vermitteln versucht, dass sie es, wenn sie auf Französisch nicht mal einen Kaffee richtig bestellen können, mit der Romanistik lieber sein lassen sollten. Sie schiebt das Französische wie das Abwehrschild des Majestix vor sich her, und will mit dieser Waffe sprachlicher Breitseiten die Seminarräume leeren. Im Nachhinein wird dies alles nur zu verständlich, denn wie beschrieben halten tatsächlich zu viele Talentlose mit ihren Fragen die Veranstaltungen auf, die die wirklich Guten leise über sich ergehen lassen, es vorziehen unter sich zu bleiben, oder während der einsamen Lektüre über den Buchrand von Zeit zu Zeit das Kommen und Gehen in der Caféteria zu beobachten, in deren rauchgeschwängerter Luft bisweilen ein wie ein Penner gekleideter Professor auftaucht, der als Soziologe die Lebensumstände Obdachloser erforscht, und wegen seines Aussehens von den Sicherheitskräften der lokalen Einkaufszentren schon einige Male vor die Tür gesetzt worden ist.

Dubonnet-Schmidt ficht ihre linguistischen Abwehrschlachten. Sylvain ist zurückhaltend, hilfsbereit und unscheinbar. Gehe also besser zu Sylvain. Miltstrom sieht saugut aus, hat Schlag bei den Damen, nutzt dies allerdings nicht übermäßig aus, liest Linguistik und gibt Gartenfeste mit Grillen und Fußball, er immer im Tor, da kannst du dem Professor auf sportliche Weise mal so richtig einen reindreschen. Erste Lektüreverordnung ist Pelz, die spannende Einführung ins Fach. Nie im Leben habe ich etwas von Beginn an als derart faszinierend empfunden wie Sprachwissenschaft. Ich hole mir jetzt Band um Band, Hagège hat gerade den Homme de paroles veröffentlicht, in dem er Biologie, Evolution und Sprachwissenschaft verknüpft, man kann nach den Veranstaltungen stundenlang in der Bibliothek in der Cambridge Encyclopedia of Language oder in den aktuellen Ausgaben der Monde schmökern. Ich fresse mich da durch, musst du auch tun, rauche in der Caféteria,  und beschäftige mich genauer mit der umstrittenen Hypothese von Sapir und Whorf, die das Denken von Sprache bestimmen läßt, noch kann ich schnell denken und alles aufsaugen mit meinen paarundzwanzig. Manchmal leuchtet mir sogar das Monty-Hall-Dilemma in den Kopf. Dann wieder muss ich es mir neu aufrufen, skizzieren und nachschlagen, mein Durchblick reicht noch gerade bis knapp zum Ereignishorizont, manchmal oszilliert er an guten Tagen bis knapp darüber. Mit Hall kann jeder einmal für sich die Grenzen seiner Intelligenz erkunden, was eine spannende Angelegenheit ist, wenn man den nötigen Mut aufbringt.  Mein schwer nikotinsüchtiger und höchst cleverer Kommilitone dort drüben am Tisch, der mit den zittrigen Fingern, wie heißt der bloß noch,  kopiert die Bücher einfach auf seine uferlose Hirn-Festplatte hinüber, und kann vieles auswendig rezitieren. Rede mal mit ihm, wenn du etwas wissen willst. Immer fragt er mich, der schon ein paar Semester dabei ist, nach den wichtigen Büchern. Und in der Woche darauf kann dieser lebende Massenspeicher sie auswendig hersagen! Ich lasse mich aber nicht einschüchtern und stürze mich in alles, was ich konsumieren kann. Es ist die  Zeit der populären Mathematik aus Fraktalen, Gödel, Escher, Bach. Ich berausche mich an Hofstaedter. Und in der Schule hatte ich Mathe nie verstanden! Ohne Zwang aber funktioniert in meinem Kopf auch das, wenn auch in einer leichter zu fassenden, aufbereiteten, lebenswirklichen und praktischen Form. Ohne Fleich kein Preich pflegt Mildstrom stets zu sagen, und hat in diesen rätselhaften Satz eine Verwirrung aus Aufmunterung, Reim, geschickt gesetzter fehlerhafter Aussprache, und der Konfusion durch die Ähnlichkeit von sch- und ch-Laut, die den Hörer zuerst an Fleisch denken lässt, eingebaut. Auch Mildstrom vertritt zu Recht die These der allgemeinen Kaffeebestellunfähigkeit, und hält Moralpredigten, wie ich sie zuvor zuletzt von meinem alten Lehrer Schreiner gehört habe.

Wer Handfestes braucht, schreibt sich bei Dech auf die Teilnehmerliste. Zu dem musst auch du. Der ist Textlinguist, und ein Mensch, der sich über all das maßlos aufregen kann, was ihm dumm oder undurchdacht erscheint - vor allem Lehrer und Schulsystem müssen dran glauben – wobei es ihm ganz beiläufig gelingt, die Studenten in seinem selbstironischen Furor mitzuziehen und für Wissenschaft zu begeistern. Das sind Bibliotheken von Büchern, die dazu noch geschrieben werden müssen! Ruft er immer. Er ist, wie Mildstrom, Verfasser zahlreicher hochkomplexer Arbeiten in Text- und Psycholinguistik, in denen kurze Texte bisweilen in der Art von elektronischen Schaltkreisen dargestellt sind. Immer wieder versucht er mich zu stärken und kritisiert, ich sei nicht realistisch genug, mein eigenes Leben zu ordnen, was schmerzend festsitzt. Denn wo andere lächelnd und frei auf Menschen zugehen können, vermeide ich den Kontakt zur Hierarchie. Macht jemand Karriere, kann ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Durch all dieses Unwohlsein in Gesellschaft und einen Mangel an Entscheidungsfähigkeit und Selbstvertrauen habe ich mir das Leben bisher ziemlich zäh gemacht. Oft muss mich oft mühsam dort herausarbeiten, wo andere längst schon ihre Hausaufgaben gemacht haben. Ich bin kein Mensch, der das Leben gestaltet. Ich bin ein Mensch, der sich treiben lassen muss. Können wir etwas für unsere Anlagen, oder sind wir nur gesteuert von neuronalen Schaltkreisen? Wie die neueste Forschung zeigt, liegt dieser letzte Gedanke gar nicht so fern, denn das, was wir gern als freien Willen bezeichnen, ist vielleicht nur Illusion.

Dech sagt immer, die Notengebung in der Schule, die er für das Fach Englisch ganz genau untersucht hat, sei so gerecht, wie wenn ein Stapel von Schulheften eine Treppe hinab geworfen würde, was auf der obersten Stufe läge, wäre eins und so weiter. Native speaker hatten in seinem Auftrag Englischaufsätze nach ihrem Inhalt hin bewertet und Noten gegeben, die denen der Lehrer diametral entgegengesetzt waren. Was für ein hohlköpfiges System die Lehrerausbildung ist, in der Fragen wie Benotung und Gerechtigkeit oft gar kein Thema sind, werde ich an einem anderen Tag beschreiben.

Wer menschliche  Zuwendung braucht oder etwas nicht verstanden hat, ist bei Frau Böhle gut aufgehoben, einer milden, angenehmen und ruhigen älteren Dame, die für jeden Zeit hat, Fachdidaktik liest, und Forschung im Bereich der Pausenanalyse betreibt, wobei es um die Frage der Planung von Sprache geht, wann das Gehirn welche Pause macht, wie  Sprachproduktion funktioniert, was während der Planung passiert und in welchen Arealen sie stattfindet. Da kannst du auch mal reinschnuppern. Ich habe meinen Aushilfsjob, betreue oben ihre Meßapparaturen, führe Analysearbeiten aus, und komme auf meinen Gängen gelegentlich bei der wie bei jedem amerikanischen Professor stets geöffneten Tür Pablo Mantels vorbei, wobei ich den Gelegenheitskokser und Yuppie-Gastprofessor aus den USA immer lesend von hinten am Schreibtisch sitzen sehen kann. Mantel ist gebürtiger Mestize aus Venezuela, der in den USA lehrt, von einem neuen 190er träumt, und gern über die miese Qualität amerikanischer Autos schimpft. Mantel kann kaum glauben, dass ich die Pausenmessmaschinen beherrsche, für deren Bedienung man genau genommen nur wenige Fähigkeiten mitbringen muss, aber so viel kosten wie ein Mittelklassewagen. Die  Psycholinguisten haben sie für die Uni angeschafft. Ich aber finde es unglaublich, wie gut und fließend Mantel, Spanisch, Englisch, Deutsch und Navajo sprechen kann; Alle mir bekannten Sprachen beherrscht er ohne hörbaren Akzent. Navajo allerdings, betont er gern, sei unlernbar, denn in dieser inkorporierenden Sprache fallen Satz und Wort zusammen und bilden wie im Finnischen eine Einheit aus aneinanderhängenden und verschachtelten Elementen, wodurch man beim Sprechen und Zuhören offenbar schnell den Überblick verlieren kann. Das gibt Hoffnung, wenn selbst ein derart brillanter Kopf Schwierigkeiten zugibt, die selbst die Navajo-Freundin nicht vollständig ausräumen kann.

Alle Hochschullehrer sind hervorragend und mitreißend. Wenn du allerdings Sternstunden erleben willst, musst du zu Hansen. Der ist nicht nur gut. Er ist fast schon ein Genie. Als feiner Hanseat hält der fließend Platt sprechende Hobbyschreiner von uns Hessen in etwa so viel wie wir von den Bayern. Ein Urteil, das er genüsslich pflegt und zelebriert. Er wohnt im allersüdlichsten Zipfel Niedersachsens, in einem Ort namens Speele, und das wohl nur, um nicht unter Hessen leben zu müssen. Täglich muss er pendeln, und als Vielfahrer auch des Öfteren eine Autowerkstatt aufsuchen, wenn etwas an seinem Wagen nicht richtig funktioniert. Hansen versteht es, das diagnostisch einkreisende Denken des Mechanikers als Vorläufermodelle wissenschaftlicher Ansätze in seine Vorlesungen einfließen zu lassen. Nie wieder wirst du einen beleseneren, umfassender gebildeten Menschen erleben. Er spricht akzentfreies Englisch, hat wohl einige hundert Meter vom Wichtigsten aus allen Zeiten gelesen, und sein rundes, weiches, von grauen Locken gekröntes Gesicht ähnelt dem des späten US-Botschafters Kornblum, der auch so einen flapsig-nordischen Stakkato-Akzent in der amerikanischen Schwabbelbacke hat. Hansen färbt sein kühles Norddeutsch mit einem nach Kornblum klingenden englischen Akzenthauch, was das Anglophile seines hanseatischen Dasein noch mehr unterstreicht.

Hansens bevorzugtes Gebiet iat die Soziolinguistik. Er erzählt dazu gern wissenschaftliche Geschichten. Wie die von Laboff, der nicht mit dem späteren Metaphernpropheten Lakoff verwechselt werden darf, im New Yorker Kaufhaus gezielt nach Produkten mit oder ohne prononciertes Final-r fragte, die jeweils im vierten Stock erhältlich waren. Laboff spielte abwechselnd Vertreter der Arbeiterklasse mit hörbarem „r“ und der Mittelklasse ohne. Laboff bekam von den Angestellten seiner Frage in ihrer Aussprache  angepasste Antworten (forth floor oder fo’hth floh’) und konnte damit beweisen, daß der Sprecher sozial gestaffelte Varianten von Sprachen in seinen Antworten aktiv wechseln kann.

Oft kommt auch die Geschichte von Newton, einem Mann, der die Welt berechnete. Die Nachwelt glaubt an die Kalkulierbarkeit aller Phänomene, bis ein Forscher einen Stamm Eingeborener entdeckt, deren Handlungen all dem zuwider laufen, was bis zum Zeitpunkt als christlich-zivilisiert gegolten hatte, die Idee von der berechenbaren Welt muss revidiert und eine neue Zeit des Umdenkens, ein Kuhnscher Paradigmenwechsel der Ideengeschichte, eingeleitet werden.

Wir diskutieren die ain’t-Grenze in Großbritannien und vergleichen die Register des Britischen mit den Dialekten in Deutschland. Hansen bittet Studenten, sich zu begrüßen, die Äußerungen gehen von Guten Tag bis na? Hansen ordnet die Begriffe nach sozialer Beziehung.  Bisweilen fragt Hansen: Kennen Sie die noch die Geschichte von Newton? Wir mussten dann die Geschichte nacherzählen, Hansen machte aus den selbstverständlich bruchstückhaften Erzählungen der Studenten zwei fesselnde Sternstunden der Debatte und streift Locke, Hume, und Searle. Realismus und Nominalismus verbindet er mit dem Spruch Are you married? Unmarred, I betritt stets ohne Grußformel den Seminarraum und beginnt sofort mit den ersten Wörtern seines Vortrages. Alle warten schon gespannt, die Tür geht auf, Hansen kommt herein, und  sagt beispielsweise: Die Soziolinguistik kennt zwei Untersuchungsmethoden, während er Platz nimmt und den Hund der Seminarkollegin tätschelt. Dann beginnt eine neue Geschichte. Manches Mal legt er seine Uhr auf den Tisch und bittet die Studenten, dieses Arrangement zu beschreiben. Da sich natürlich alle Beschreibungen unterscheiden, ist dies der Aufhänger für die Diskussion des unendlichen Potentials von Sprache, den schwer fassbaren Begriff der Bedeutung, die Machtausübung und Bestimmung mittels Redeweise, die er neben Klemperers Sprache des dritten Reiches auch gern an Carrolls Figur Humpty Dumpty erläutert, deren in der Körpermitte getragenes Band sowohl als Gürtel als auch als Kragen gesehen werden kann: Wir bestimmen durch den sprachlichen Blick die Kategorie des Objektes, die Welt wird Untertan der menschlichen Sichtweise. Überhaupt erklärt er viel von Carrolls logischen Finessen und vergisst auch nicht zu erwähnen, dass Carroll stets mit einer Mappe voller Fotos präpubertärer Mädchen durch sein Institut lief, und dass es tatsächlich zum Bruch mit Alices Familie gekommen war. Arno Schmidt ist auch noch ein Steckenpferd, der Bargfelder Zettelkasten und der Triton mit dem Sonnenschirm werden ebenfalls zum Thema gemacht, ich erzählte neulich von Schmidts Prozess, Hansen hatte nicht gewußt, dass auch Schmidt wegen einer einmal Mädchengeschichte einmal angeklagt gewesen war. Ich habe Hansen das betreffende Buch dann aus der Bibliothek geholt und Eindruck machen können.

In den Pausen sitzt er gern hier und ißt so viel Süßgebäck wie ein Däne. Er hat dort ein Ferienhaus und gibt im Plausch gern zu, dass es ihm wie so vielen geht: Das Dänische mit seinen bedeutungsunterscheidenden, dem Englischen ähnlichen Verschlusslauten, dem seltsam vertrauensvollen und freundschaftlich klingenden Final-r, den Wortpaaren nach der Art von brud und bru’d, den Endkonsonanten nach Gutturalverschluss und der Spruch rødgrøde med fløde sind ihm immer ein rotes Tuch geblieben, so rot wie die Flagge der Dänen selbst. Er notiert die Vokabeln an der Tafel. Aussprechen kann er sie nicht.



Ich mache bei Hansen und Dech meine Diplomprüfung in Englisch, und es geht auch um eine Hansen’sche Geschichte, nämlich der von  sound und noise. Der Unterschied zwischen beiden ist detailliert darzulegen: Sound trägt Bedeutung, noise nicht immer. Ein Thema der Semantik. Ich habe mir zur Vorbereitung ägyptische Aussprachemodelle irgendeines Speech-Act-Theoretikers angeeignet, vor denen hatte ich immer solchen Respekt, weil sie alle Chinesisch konnten, da war dann die große Diskussion, ob das Chinesische denn Phoneme hätte, da es doch eine tonale Sprache ist, und wie die Töne zu werten seien. In der Prüfung kommt  allerdings fast ausschließlich  sound und noise, und da ich immer gut aufpasse hatte, kann mir nicht viel passieren. Allerdings verwechsele ich beim Vorlesen in der Prüfung den tonischen Akzent in 'content und con'tent, worauf Hansen mich nun, nach der Prüfung, noch nachsichtig hinweist.

Ich bin frei, erleichtert, und frage nach dem Preis der Welt, die nach dem Strohfeuer mit der Dozentin sofort eine  Affäre mit einer hochintelligenten, absonderlichen Professorentochter bereithält, mit der man nächtelang über Bücher diskutieren kann. Sie hatte geglaubt, mich der Lektorin als Uni-Trophäe abspenstig gemacht zu haben, ist beängstigend smart und schreit so laut, dass ich ihr ein Kissen auf das Gesicht pressen muss, sonst brüllt sie alle Mietshäuser des Vorderen Westens zusammen. Und wenn ich mich lange Zeit gar nicht in ihr bewege, wir es also nach der Art des Tao machen, können wir währenddessen noch über den Zauberberg reden, den sie mit sechzehn schon gelesen hat, und fast auswendig aufsagen kann. Das hat was, Intelligenz vögelt wirklich ungemein gut, doch zu viel davon macht manchmal wahnsinnig, und das Irre ist bei Carole schon bald zu spüren. In den Pausen ziehen wir uns was über und gehen in den Biergarten: Vier Wände. Kein Dach. Überbleibsel vom Angriff 1943, linke Fußballkneipe. Der Vereinsname Windrose ist wegen angeblichen DDR-Anklangs vom DFB abgelehnt worden, der Laden ist Kontaktbörse, es gibt gut eingeschenktes, großes Bier, Selbstgedrehte, Gorbatschow an der Wand. Und dann wieder zurück auf die Bude. Literatur, Sex, Buchstaben, Sex. Sie will bedroht und  gewürgt werden, zerschmilzt, wenn ich ihr sage: Zieh dich aus. Fordert immer mehr Befehle. Bloße Drohung macht sie schon ganz kirre und noch verrückter, als sie es mit ihrem flackernden Blick ohnehin schon ist. Ihre Eltern besitzen eine Bibliothek mit tausenden Bänden, darunter auch Pléiade-Editionen. Manchmal lesen und fallen wir auf der Chaiselongue der Bibliothek oder einfach auf dem Boden übereinander. Sie brüllt. Ich greife mir ein Sofakissen. Aber nur soviel Kissen, dass sie noch gut atmen kann. Sie ist sehr schön. Sie ist die Schönste. Die Betty Blueste. Ein brüllender Vamp, der erobert und fallen läßt, während er schon die nächste, heiße Kartoffel durch die Zinken seiner teuflischen Gabel anvisiert. Ich lasse mich von ihr zum blöd grinsenden Büttel machen, und gebe ihr dann aber doch heldenhaft den Laufpass, als sie, schon früher als von ihr berechnet, nach einer Affäre mit einem doofen Tennistrainer beim Juniorprofessor Raphael auf dem Schoß sitzt, und dessen junge Ehe damit bereits schon niedergemetzelt hat. Der Akt von Selbstschutz ist ungemein schwer, gelingt aber genau zu der Zeit, als ich mir mit Helmut unmenschlich-genüsslich und schenkelklopfend ein Martini-Edel-Bier aufgemacht habe. Nachdem im Radio durchgegeben worden war, irgendein unerträglicher Politiker sei gestorben. Bier zum Blut. Die Röhre auf den Tod. Und noch mehr Bier zur Trauer um die halbverrückte Schönheit. Helmut hat auch was zu erzählen, denn kurz zuvor ist es bei ihm zu dem gekommen, was ich später den Brasselsberger Kniefall nennen werde. Seine Angebetete ist aus einer vornehmen Familie. Eines Abends, als er sie abholen will, rutscht die hochwohlgeborene Mutter, dieses psychische Wrack aus pekuniärer Selbstbehauptung, auf den Knien vor ihm, dem Arbeiterkind, fleht ihn an, die Tochter in Ruhe zu lassen. Für sie soll es einen standesgemäßen Kerl geben. Dabei ist Helmut der beste, den sie je hätte kriegen können. Wir bezwingen die Enttäuschungen und die Befürchtung gutbetuchter Zwangsheirat mithilfe einiger komplett besoffener Wochendenden. Die Lektorin, der Politiker, die Angebetete und Carole sind weg. Die Welt kann durchatmen. Das Leben soll nach diesen fünf Minuten wieder weitergehen. Jetzt hole ich einen, bleib sitzen.



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Beitrag28.04.2015 16:25
Funktioniert nicht
von Christof Lais Sperl
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Dieser Text läuft nicht. Zwar viele Aufrufe, aber kein Kommentar. Offensichtlich ist der Text Schrott. Ich ahne schon: Längen, zu viel an technischem Kram, zuviel Negativität und Wissenschaft. Ich werde das noch einmal neu angehen.

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Beitrag28.04.2015 18:12
Re: Funktioniert nicht
von Jojo1958
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Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:
Dieser Text läuft nicht. Zwar viele Aufrufe, aber kein Kommentar. Offensichtlich ist der Text Schrott. Ich ahne schon: Längen, zu viel an technischem Kram, zuviel Negativität und Wissenschaft. Ich werde das noch einmal neu angehen.


Für mich als Leser wäre es wichtig zu wissen ob hier ein Dozent schreibt.
Fremdwörter sind heute kein Problem mehr, Wiki und Google helfen mir ja weiter, wenn mich denn der Text fesselt. Schnarchzapfen, Trantüten und Müslitussies hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben.

Mich persönlich hat das Lesen relativ angestrengt, das darfst nicht persönlich nehmen, liegt an einem Großhirnschaden oder ADHS bei mir. Aber schon der Versuch drüber zu bleiben ehrt Dich sehr.

lg
Jojo1958


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Christof Lais Sperl
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Beitrag29.04.2015 15:46
Danke, jojo
von Christof Lais Sperl
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Ein Dozent schreibt nicht. Aber einer, der in gewissem Sinne drangeblieben ist. Ich denke, ich sollte noch einiges ban Längen entfernen. Alles erscheint zu technisch. LG, c

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Beitrag29.04.2015 16:57

von Nina
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Hallo Christof,

der Text ist sehr lang. Du kannst Texte auch stückeln und in mehreren (lesefreundlicheren) Abschnitten posten. Unter dem Fenster, in dem Du den Text eingibst, kannst Du dann bei Fortsetzung anklicken (irgendwas in dem Wortlaut steht dann da unter Deinem Eingabefenster) und dann kann jeder von Teil zu Teil springen bzw. gleich sehen, dass es weiter geht.

LG
Nina


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nebenfluss
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Beitrag29.04.2015 21:04

von nebenfluss
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Hallo Christof,

manchmal hilft selbst eine ausbleibende Reaktion weiter. Ich habe keine Ahnung, ob der Text zu 'technisch' ist, da ich ihn nur quergelesen habe, aber wenn du als Autor selbst schon den Verdacht hast, solltest du ihn höchstwahrscheinlich dahingehend überarbeiten. Bitte nicht einfach rausnehmen, wie "Die dicke Republik", zu der ich gerne noch was geschrieben hätte.

Ninas Tipp ist aber so oder so bedenkenswert. Falls eine Stückelung in Fortsetzungen nicht in Frage kommt, schau mal bei den langen "bleiwüstigen" Absätzen, gerade dem an Anfang, ob du nicht mehr unterteilen kannst. Das erhöht die Lesbarkeit - da muss man, wenn's schon völlig dialogfrei ist, dem Leser ein wenig entgegenkommen ...


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Christof Lais Sperl
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Beitrag30.04.2015 06:22
Nina und Nebenfluss
von Christof Lais Sperl
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Gute Tipps. Danke! L G. CLS

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Christof Lais Sperl
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Beitrag30.04.2015 18:05
Verfügungszentrum - Vom Quasi (Verbesserte Version)
von Christof Lais Sperl
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Verfügungszentrum - Vom Quasi

Warum ich hier sitze? Na ja, nach dem Abi gleich anfangen. Das Beste aus den paar Anlagen rausholen. Eins war aber klar. Flach geht gar nicht. Jeder Penner schreibt sich doch mittlerweile ein. Mancher zieht’s durch, andere hängen wegen der billigen Krankenversicherung noch Jahrzehnte drin. Schaffen’s dann aber doch nie. Nirgendwo mehr von solchen Schluffis. Manche schon im fünfzehnten oder  zwanzigsten. Ein Sammelbecken ewiger Weicheeier und Unentschiedener, die sich außer Schuldienst oder ewigem Studileben eh nichts vorstellen können. Und natürlich nur so viel lernen, wie zur Ausübung der Paukertätigkeit gerade nötig ist. Sogar die Gymnasialen. Unbelesen, interesselos. Wissen nicht, was sie so machen wollen, haben sich erstmal also quasi ins Lehramt eingeschrieben, wissen ürgendwie noch nicht, ob die Fächer die Richtigen sind und wollen praktisch quasi gucken. In dieser Art geht die Logorrhoe nun tagein tagaus, eine Sülze, die ich zu fast jeder Zeit und an jeder beliebigen Stelle im Betonklotz abrufen kann.

Ja, genau, wie die da drüben!

Manche ätzen sogar im Lesesaal der Bibliothek. Da kann keiner schnell mal abhauen, wenn die Käsemühle erstmal leiert. Zappa hat auf  We’re only in it for the money auch so einen Quasselkopf verewigt, der zur schön schrägen Katzenmusik von einer Zukunft schwafelt, die sowieso nie eintreten wird. Eines von unseren Labereiern hier ist auf der LP  nicht verewigt worden. Schade. Vielleicht wäre es uns in diesem Falle im wahren Leben erspart geblieben.

OK, bring’ mir mal einen mit! Ohne Milch und Zucker!

Dann hätte man ihn einfach ins Regal zurückgeschoben, und was anderes gehört. Aber nein, unsere Quasselmäuler hier brettern bedrohlich dreidimensional, hochaufgelöst und in Millionen Farben auf  Netzhaut und Trommelfell. Dech hat einen von den Betroffenen, Klarname ist mir entfallen, wegen der monotonen, routinengespickten Sprechweise nur noch den Quasi genannt.

Ohne. Nein! Milch auch keine!

Menschen gibt es an diesem Uniklotz, die als  Deutsch-Studenten ohne mit der Wimper zu zucken salbadern, dass Schiller ein Drama von Goethe ist. Ohne auch noch groß religiös zu sein. Ich sage dir, du findest Leute, die jeden Plural mit Apostroph schreiben. Jagd mit t. Advent auch am Schluss mit d. Und Protestierer, die Widerstand mit ie auf Transparente pinseln. Sprache, die auf Glaubenssätzen und Annahmen basiert. Geglaubt werden sollte aber, wenn überhaupt, nur in der Kirche! Lest verdammt noch mal die Bücher, denke ich mir immer, über die ihr ständig redet. Dann könnte wenigstens noch ein wenig Rechtschreibung bei euch hängenbleiben. Zumal  viele von euch mit Sicherheit auch noch als Deutschlehrer vor die bedauernswerten Klassen treten werden.

Danke! Ich geb’s dir gleich zurück!

Was soll ich jetzt mit den ganzen Hirnis anfangen, die mir dauernd ins Gesichtsfeld knallen? Selbst da rein und Deutsch machen? Gottergottergott. Die Muttersprache kann ich doch schon. Und die Walthers mit ihren Vogelweiden, die Hölderlins und  Hesses sind uns doch schon von unseren Omaweibern, den Teekannenmädchen, und ihren Bands wie Ougenweide erschöpfend vorgegniedelt worden! Ich würde die ganze Uni manchmal gern am Kragen packen und so richtig durchschütteln, damit die alle mal wach werden. Was tun? Fragte der Lenin in mir. Brainstorming, sagte das Ich: Für Medizin bist du zu blöde. Germanistik hat kein Sozialprestige. Außerdem sollst du mit denen keine Zeit verplempern. Recht und Wirtschaft sind langweilig, Malen konntest du noch nie, und könntest als Musiker mit deinen sieben Gitarrengriffen bestenfalls in der Fußgängerzone überleben.

In einem Land, in dem man bei der unvermeidlichen Film-Synchronisation jeden französischen Paul, sprich Poll zum englisch gesprochenen Pendant Porl verbiegt, in dem Montréal [mõʀe’al] immer dem anglokanadischen Mantrioll [mʌntɹi:’ɒl] Vorfahrt gewähren muss, und in dem der Fettklops von Plattenhändler auf meine Frage nach dem Boléro im Regal vergeblich eine LP von Ray Well sucht, muss entweder jeden Abend gesoffen, oder etwas für die Kultur getan werden. Ich hatte Lehmann, einen guten Lehrer. Perfekt Französisch sprechen, das ist meine Faszination, aber hier an der Uni stößt mein jugendliches Arroganzhorn auf die steinerne Tatsache, dass das Vollkommene doch nicht so einfach zu erreichen ist.

Mehrere romanische Sprachen kannst du nicht kombinieren. Jedenfalls fürs Diplom. Studienordnung. Deshalb mache ich inoffiziell und heimlich bei Miguel ein bißchen Spanisch. Kannst auch Italienisch bei Orsí machen. Du musst dich dann pro forma zusätzlich in Ökonomie oder Anglistik einschreiben, gehst aber zu Wirtschaft nicht hin, wenn du nur  Sprachen lernen willst. Nachdem ich mir das Wirtschaftspublikum ein wenig genauer betrachtet hatte, hab ich mich ganz schnell in Englisch eingeschrieben! Weil die aus der Wirtschaft nämlich alle so aussehen, als hätten sie ihren Diplomatenkoffer schon als Baby auf der Entbindungsstation in die Hand gedrückt bekommen. An der Schule war Englisch ziemlich öde, aber hier an der Uni beginne ich’s lieben zu lernen - obgleich es zu Beginn eher leicht, gegen Ende hin für wirklich Interessierte immer schwieriger wird. Sagen jedenfalls die, die schon länger drin sind. Eine unbezwingbare Festung, wie eine Gegenstromanlage aus unregelmäßig verstreuten Komplikationen, Millionen Kollokationen, einer schwierig zu erlernenden, regional stark variierenden Melodieführung, willkürlichen Regeln des Artikelgebrauchs und zahllosen Kontinentalvarianten. Warum heißt es Congress, warum aber fast immer  the Senate Der tonische Akzent macht große Mühen, die Fülle an Vokabular ganz schwindelig, und den ständigen Zuwachs an Wörtern kann nicht mal ein somalischer Marathonläufer einholen. Manches Mal kämpfe ich mich wie in Zeitlupe durch Sätze. Ich verstehe jedes Wort, kann aber trotzdem  keinen Lichtstreif von Sinn erkennen. All das wird allerdings von der glasklaren Wissenschaftssprache, und der mit Bildern gefüllten Literatur ausgeglichen, die jede schwere Materie zum lebendigen Lesevergnügen machen. Immer dann wenn, so viel weiß ich schon, in einem sprachlichen Code das System an einer Stelle komplex wird, nimmt es an anderer Stelle an Einfachheit zu. Sagt jedenfalls Hansen. Und wer Wissenschaft wirklich verstehen will, sollte zu Hansen gehen. Und immer nur die griffigen, englischen Originalfassungen lesen - wenn er an sie herankommt.


Die Schwierigkeiten beim Französischlernen nehmen stetig ab. Und doch sind für diese Felswand zwei Dinge zu vermerken: Da ist zum einen der riesenhafte Unterschied zwischen Schrift und Aussprache - mit den dazugehörigen Möglichkeiten zum Missverständnis. Hast du, um den Unterschied zwischen Schrift und Aussprache zu erklären, von einem Monsieur Berteleau gehört, dir den Namen aber nicht buchstabieren lassen, und suchst ihn in einem Telefonverzeichnis, könnte es dreißig, vierzig, fünfzig Schreibweisen für den Namen geben: Bertheleau, Bertelot, Bertelo, Bertellau, Baire-Thelot, Bère-Telo, Berteleaut, Baire-Telleau, Baire-Teleaux, Berte-Ello, Baire-Tello, Bairrtel-Eau und immer so weiter und so fort. Und völlig gleich klingende Sätze wie la bière du pêcheur können vier Bedeutungen haben, die, je nachdem wie sie geschrieben sind, von der Totenbahre des Fischers bis zum Bier des Sünders reichen können.

Andererseits ist der große Wortreichtum durch die Doppelanlage von Standard-Französisch und der Umgangssprache mit ihren Gruppen- und Geheimsprachen wie dem Argot, für die es allesamt auch umfangreiche, spezielle Wörterbücher gibt, eine weitere, größere Herausforderung. Daher gibt es in vielen Fällen zu einem Bedeutungsbereich mindestens zwei Vokabeln zu lernen: Da kann ein Regenschirm parapluie sein, umgangssprachlich aber ein pépin. Auch ein problème kann ein pépin sein. Wasser, eau, wird zu flotte, journal zu canard frère (wenn’s kein Geistlicher ist) zu frangin, soeur zu frangine, voiture zu bagnole, maison zu baraque, chaussures zu godasses, pantalon zu futal und vin zu pinard. Glücklichwerweise ändert sich zwischen den Varianten das grammatische Geschlecht meist nicht. Ich habe Glück, denn mein Kumpel aus Paris spricht nach Möglichkeit nur in der Umgangssprache. Bei dem kann man lernen, wie in der besten Vorlesung. Und die Jugendlichen? Drehen alle Silben um, meinen pizza, wenn sie zapi sagen, und die Schippen rollen lassen heißt abknutschen!

Ich will den Sprachdschungel also verinnerlichen, sitze letzte Woche noch im Gang des Aufbau- und Verfügungszentrums, wie man den Klotz hier nennt. Werde aufgefordert, einzutreten. Und betrete das Zimmer der Studienberatung. Verhör. Abschreckungswalküren von der Studienberatung, die ihren Abschluß schon in der Tasche haben, und den Kopf daher ganz hoch tragen können, trumpfen rum: Herr Lais, Sie müssen wissen,  in Romanistik und vor allem im Diplom muss wirklich was getan werden. Bevor ich etwas sagen kann, fährt die Tusse fort: Haben Sie sich das mit der Romanistik gut überlegt? Ich ganz erstaunt, dass man so was an einer Uni fragen muss! Da geht’s mir wie meinem Bekannten, der mehrere Fitneßstudios managt. Der wollte sich einen neuen BMW holen, und der Hirni von Autoverkäufer fragt: Können Sie sich den überhaupt leisten?

Ich gebe den Stoß Formulare ab, drehe ein paar Halfzware-Zigaretten auf Vorrat, werde noch mal reingerufen, alle Dokumente komplett, ich soll ein paar Wochen warten. Offenbar muss die junge Dame mit ihren Predigten die Hochschule gegen das Heer der unentschiedenen und unerschrockenen Schwadroneure abschotten, die dann doch immer wieder in die Seminare drängen, vor sich hin dünsten, stricken, hellen Javaanse-Jongens rauchen, planlos im Leben treiben, und zwischen den Fakultäten hin und her springen. Mal Physik, mal Bio, mal Tralala, ohne, egal wo, besonders viel zu verstehen. Leute, die bis fünfundzwanzig gerade mal ein Buch gelesen, aber trotzdem zu jedem Scheißthema Bedeutendes abzuseiern haben. Selbst wenn’s keiner hören will. Mancher Professor muss in schwierigen Fällen sogar Redeverbot erteilen. Ich hab’s erlebt.

Ich hol’ dann gleich noch zwei.

Die Abschreckung zieht aber bei mir nicht. Da können die reden, wie sie wollen. Ich gehe hin. Jeden Tag. Wir werden von Muttersprachlern in natürlichem Tempo in Übungsveranstaltungen besprochen, oder, wie man auch sagen könnte, zugetextet, worauf die ersten Töchter aus gutem Hause, die sich wie ich von der Studienberatung auch nicht abschrecken lassen hatten, schon fleckgesichtig abzuspringen beginnen. Der gesamte Studiengang voll von Töchtern aus gutem Hause. Mädchen aller Arten fluten durch die Gänge. Gleich gehen wir hoch. Ich zeig’ dir oben alles.

Aber Achtung! Ein paar da oben sehen aus wie die Schwanitz’schen Traktoristinnen aus dem Campus. Und dann gibt’s noch so eine nenaartige, die mir überall im Weg steht, mit breitschultrig aufgepolstertem Achtzigerjäckchen und militärisch zackiger Pseudopunkfrisur. Zwischen den dreieckig klimpernden Ohrringen vegetiert das nach unten spitz zulaufende Hungergesicht. Es rückt eine verwirrende Ansammlung von Dreiecken ins Blickfeld, von dem dasjenige in der unteren Mitte mich und die anderen Männer am allerwenigsten interessiert. Ich spreche da mal für alle. Dich sicherlich auch nicht. Offensichtlich ein psychisch kompliziert strukturiertes, und vielleicht auch von irgend etwas ein wenig enttäuschtes, Wesen lümmelt also da oben rum, das als militante Nichtraucherin auftritt, sämtliche Fenster aufreißt, daher zum Glück auch nicht ungestraft in der Cafete sitzen kann, jedenfalls nicht im Winter, und sich unter Redeverbot nur noch mitschreibend im Seminar herumdrückt. Die wird in meinem späteren Leben noch eine ausnehmend unheilsame, ja lebensbedrohliche Rolle spielen. Hat mir jedenfalls die Roma-Oma gesagt, die vor zwei Tagen draußen im Garten herumging, und für ein paar Mark Handlinien las.

Klar, auch im Diplom geht man gern den Weg der geringsten Anstrengung. Die Leute aus italienischen Einwandererfamilien studieren: Na was wohl? Italienisch. Und die frankophonen Gaststudentinnen haben sich, rate mal, in Französisch eingeschrieben. Hätten wir Turkologie gehabt, wäre wohl alles voller Türken gewesen. Was, lernt man nur das Nötigste, ungefähr genau so anspruchsvoll ist, wie wenn ein Deutscher an der Columbia Germanistik belegt. Obwohl, in den USA müssen im Gegensatz zu Deutschland wenigstens noch haufenweise Bücher gelesen werden. Wenn man nicht zufällig Basketball spielen kann, sagt Jim Wallach.

Immerhin, ideale Bedingungen. Türen der Professoren permanent offen, man kann in den Sprachen, wenn man’s darauf anlegt, die gesamte Woche ohne deutsches Wort verbringen. Allerdings halten die Unentschlossenen, darunter sogar ein paar original Vokuhila-Mischnas, ich schwöre es, mit ihren dummen Fragen die Seminare auf. Das wirst du später selbst noch sehen. Jedenfalls dann, wenn es um vermeintlich anspruchslose Themen geht  - und man sich unter Zugrundelegung des erklärenden Veranstaltungsverzeichnisses, und im guten Glauben ans Leichte, massenhaft in eben dieses vermeintlich schwerelose Seminar eingeschrieben hat. Dies geschieht oft bei Themen wie Black American Literature, Native Americans, Sprache und Geschlecht, Frauenliteratur,  Gender Studies, und so weiter.  Ich betreibe daher vornehmlich Linguistik, da meide ich die Masse, da alle denken, das wäre zu abstrakt und schwer. Viele glauben, man könne in Literaturwissenschaft mit einem Buch pro Jahr bestehen, das entweder von Camus oder Djian sein muss.

In Linguistik sitzen im Proseminar nicht mehr als fünfzehn Leute, von denen 10 interessant bis beängstigend smart sind. Aber auch im Hauptseminar hält der doofe Rest immer nur den gesamten Laden auf. In Sprachpraxis geht es noch gut mit den professionellen Meinern. Man muss den muttersprachlichen input der Lektoren eben genau so hinnehmen wie er kommt, da gibt’s keine Diskussion, und wenn, dann auf Französisch oder Englisch. Wenn Morrissey einen doppelten Trennungsstrich als Fehler wertet, im Englischen darf man nur einen machen, dann ist das eben so. Was dazu noch sagen? Ich vermeide Silbentrennungen ohnehin, da die englischen Regeln undurchschaubar sind. Eine neue Zeile beginnen, das ist die Beuys’sche Kunst, die nicht von Können kommt.

Wenn allerdings etwas streng Wissenschaftliches Gegenstand einer Seminardiskussion wird, dann kommen Beiträge, die so abseitig stümperhaft sind, dass sich die Balken knarzend biegen: Einer hat in einer textwissenschaftlichen Hausarbeit bei Dech einen Text in Kurvendiagramme gefasst, je nachdem, ob es entlang der Textverlaufslinie um das Hauptthema, dicke Linie, ging, oder aber nicht. Dann kam die dünne Linie. Er trägt vor und vor. Alles gähnt. Und auuf dem Bild vom Overheadprojektor sah das alles aus wie ein Kardiogramm auf einer sprachwissenschaftlichen Intensivstation, nur ohne Krankenschwester. Eine Andere hat dann im gleichen Seminar noch die Sapir-Whorf-Hypothese, Sprache bestimmt Denken, unüberlegt, unzulässig und ohne viel Verstand auf den Feminismus übertragen und allerlei Sprachgedöhns gefordert, um das Weibliche auszubalancieren. Dabei aber nicht einbezogen, dass die das Weibliche stark markierenden asiatischen Sprachen trotz der vielen femininen Partikel die Situation der dort lebenden Frauen eben nicht gerade verbessern. Sie ging auf entsprechende Einwände gar nicht ein. Ein Denkfehler feministischer Theorien. Man kann eben nicht alles duch die Frauenbrille betrachten. Da muss man schon ein wenig breiter denken und besser untersuchen, wie gesprochen wird. Allerdings macht das mehr Mühe. Ist aber wirksamer.

Und dann die ewige Cafete hier. Wollig gekleidete Studentinnen, die in den Pausen ihre mitgebrachten Müslibreis direkt aus den Tupperwaredosen einschlürfen. Ich trinke in Mußeminuten meine sechs Kaffee, gucke in eine andere Richtung, rauche eine nach der anderen, genieße die Achtzigerfiguren ohne von den Achtzigern zu wissen, beobachte Vertreter der K-Gruppen in Nike-Turnschuhen, also den Sneakern vom imperialistischen Feind, wie sie Flugblätter verteilen. Kommunismus ist ja eigentlich ein attraktiver Gedanke. Und man sagt, wer mit achtzehn kein Kommunist ist, hat kein Herz. Und wer es mit dreißig immer noch ist, hat keinen Verstand. Aber diese Kombination aus Ausbeuterschuhen und revolutionärem Anspruch wirkt, wie wenn Sarah Wagenknecht in einer Thor-Steinar-Jacke aufträte. Oder Merkel im Hugo-Chávez-Shirt. Ein Kommunist im fünfhunderter Mercedes, das schafft Spannung, sagt Rogler im Scheibenwischer.


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Beitrag01.05.2015 18:40
Verfügungszentrum - Steinfußboden und Autobahn
von Christof Lais Sperl
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Einsamer Kauz. Alles andere als Frauenversteher. Also Antwort auf Kontaktanzeige in der Studentenzeitung. Chiffre. Wartete hochnervös auf Rückmeldung. Rauf und runter flirrt’s die Luftröhre lang. Eine dieser Traktoristinnen, Beton-Kurzhaar, hat mir wegen dieser sichtlich wie offen als Unverschämtheit bewerteten Aktion soeben wortlos den Stuhl unterm Hintern weggezogen. Ich Idiot bis eben noch wie ein Vollblöder auf dem arschkalten Steinfußboden. Wie ist das Monster mit dem Gesicht einer DDR-Schwimmerin eigentlich an meine Antwort gekommen? Hatte es eine Freundin gesucht? Hätte ich gewusst, dass auch Traktoristinnen in den Chiffres rumschnuppern, hätte ich nie geschrieben. War mir zu fein, nachzufragen, ließ ihr dann, unter viel Applaus herumsitzender Mädchen und mit Freuden, einen Becher Cola, immerhin achtzig Pfennig, direkt aus dem beigefarbenen Zelluloidbecher über eckiges Haupt und Betonfrisur regnen. Stand wie ein begossener Pudel und ohne Gegenwehr, die Alte. Ein wenig trüb und überrascht, ganz ohne Applaus geblieben zu sein. Dumm gelaufen. Verdrückte sich raus in den Cafetengarten.

Mit einer Französischlektorin hat’s jetzt aber doch noch geklappt. Erst hatte ich ja gar nicht gewollt. Zuviel Respekt. Und frisch verliebt in diese warme, weiche, wunderbare, blondgelockte Barbara. Doch die befindet sich, ich mag ja immer die Extraschwierigen, in einer akuten Kiff-Verpeilung. Dauernd schon morgens stoned in der Kiste. Und kaum mal raus zum Seminar. Hat  meine Blicke gar nicht bemerkt, wenn sie überhaupt mal da war. Der Strom des Lebens spült mich, wie immer und ewig gegen den eigenen Wunsch, an die Küsten dieser Dozentin, die sehr gut argumentieren, charlotte au chocolat und ficelles picardes zubereiten, knallenge karierte Röcke tragen, und noch viele andere Dinge kann. Ihr Lied ist Golden Brown von den Stranglers. Das Mädel beweist Musikgeschmack. Die Kombination des Schicksals lässt sich ideal an: Französische Germanistin mit blauer F-Ente und schwarzem Nummernschild mit deutschem Romanistikanfänger. Doch schon ist spürbar, dass hier etwas nicht ganz rund läuft. Zwei aggressive Dickschädel nicht reibungslos zueinander passen können. Erst gut zusammen, dann böse auseinander, sagt die Roma-Oma. Wie Name Kollege von Sonne bei Nacht an Chimmel? Mond. Ja, Mond schlecht an Chimmel. Ich warte erstmal.

Wenn sie herunterkommt, wirst du bald hören, dass sie einen eigentümlichen Sprachfehler hat. Im Französischen, und auch in ihrem vollkommen klaren und sauberen Deutsch. Dem Satzende pflegt sie die ein wenig affektiert klingenden Silben efe oder ere anzuhängen. Wir müssen noch einkaufen-efe, so hört sich das an. Ein charmanter kleiner Makel, den sie durch ein gut kalkuliertes Zusammenspiel mit einigem affektierten Getue so wirken lässt, als sei die besondere Redeweise Merkmal und Anzeichen höchster Kulturbeflissenheit. Noch finde ich das Rock-, Sprach, und Perlenkettengeklingel mächtig faszinierend.

Die Eltern wohnen auf dem Lande, haben Schafe, Hunde, Kaninchen, es riecht nach Urlaub. Papa et maman scheissen draußen irgendwo in die Natur, der Weg vom Feld zum Klo wäre zu lang. Ein kleiner Dackel lebt beim Esel im Stall. Alle Stunde muss der sein pumpendes I-A machen, braire sagen die Franzosen dazu,  iahen die Deutschen, und sofort beginnt der Dackel vor lauter Schlappohrenschmerz erst mal einen zu jaulen und dann kommt ein langer Heuler. Die Tierfreundschaft ist unzertrennlich, der Dackel würde den warmen Stall nie freiwillig verlassen, wenn das Langohr drin ist. Der Esel muss aber täglich auf die Weide gebracht werden. Um ihn dorthin zu bewegen, hat man ihm einen Stock quer durchs Gesichtsfeld  zu halten, erst dann wird ihm klar, dass die Lage ernst ist, und er besser folgen sollte. Die sanfte und nachsichtige Lebensabschnitts-Schwiegermutter hat als garde champêtre eine enge Beziehung zur Grundschule und jedes Jahr lassen sich die Erstklässler einzeln breit grinsend mit ihren Zahnlücken auf dem Esel fotografieren. Von jedem Kind bekommt der Alte an diesem Eselsweihnachtstag eine Möhre. Im Wohnzimmer hängt die Bilderreihe vergangener Karotten-Jahrzehnte. Die Schwiegermutter hat den Esel auf geheimnisvolle Weise auch ohne Stock so gut im Griff, dass er wenigstens nicht wegläuft oder bockt. Sonst läßt er nie jemanden auf seinem Rücken sitzen. Er trabt im Falle eines Aufsitzversuches einfach unter einen Baum, der exakt so niedrig ist, dass die Intelligenzbestie selbst gerade noch darunterpasst.

Im Dorf lebt einer der Ortsalkoholiker in einem leer stehenden Umspannhäuschen. Hat dort Bett und Stuhl auf zwei Meter mal zwei. Flucht durch die offene Tür und säuft sich eins. Man nennt ihn le transformateur. En passant alle so Salut, transformateur, ça va? Kurzgeschorene Idioten leben vis-à-vis, beleidigen Rentner als Faulpelze, rufen lauthals ihr fainéant und andere Beleidigungen durch die Straßen, schlagen ihre plärrenden Kinder, deren Zahl immer weiter zunimmt, haben eine Schrotflinte an der Wand hängen, und manches Mal nichts weniger als die unterm Arm, wenn sie zum Briefkasten gehen. Einem besonders feisten Nachbarglatzkopf hat die Ehefrau, als sie ihn töten wollte, ins Knie geschossen. Er starb im Krankenhaus, allerdings nicht an den Folgen des Schusses, sondern an einem durch den Schreck ausgelösten Herzinfarkt. So geht es in Ländern zu, in denen Intellektuelle und Jäger an der Macht sind, und man in jedem größeren Einkaufszentrum Waffen frei erstehen kann. Da kann so mancher auf dumme Gedanken kommen.

Oft spiele ich mit den Kindern aus Soissons, die zum Wochenende zum Luftschnappen aufs Land kommen. Beim Puppenspiel muss ich mich an ihren seltsamen Dialekt gewöhnen: Alle va là, pis alle va la, et matt’nant, alle va là. Die Sprache der Nordfranzosen klingt kehlig, steckt noch mehr im Hals als der Pariser Dialekt, und klingt im finalen r-Laut, fast wie Arabischer Akzent, Thüringisch oder Nordhessisch. Fast wie zuhause.

Um die Dozentin zu besuchen, muss ich immer mit dem Auto durch das Ch’ti-Land und das nächtliche Belgien juckeln, was für ein Fahren ist das auf den des nachts orangefarben beleuchteten Autobahnen! Die Belgier lenken ihre Schüsseln auf hirnverbrannte Art, überholen blinkerlos mit Fischschwanz links und rechts, fahren nachts ohne Licht, und machen auf dem Standstreifen warnblinkerlose Pausen. Ich habe mittlerweile erfahren, dass die Belgier bis in die Siebziger hinein gar keinen Autoführerschein brauchten. Achtzehn hatte schon von ganz allein gereicht.

Ich pendele sehr oft und opelweich gefedert mit meinem von der handbremslosen Pariser Park-und Rangiertechnik verbeulten Kadett zwischen Frankreich und Deutschland, meine französischen Telefonnummern Französisch, die deutschen Deutsch im Kopf. Spüren, mal wieder in Deutschland zu sein: Blaue Straßenschilder, der rechthaberische und lichthupende Linksspur-Raserei direkt hinter der Grenze. Elende, mit lächerlich infantiler Narrenkronen-Reklame versehene Tempel rund um die Uhr stillbarer Spielsucht. Spielo-Container, die in der Nähe der Autobahnausfahrten nun wie Pilze aus dem Boden wachsen. Im Autoradio unsägliche Klopapierwerbung. Das Mantra wie immer ohne Gewähr. Das bundesrepublikanische Medizingebet zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker. Man erkennt bloß am Radio, lässt man mal die Sprachen außen vor, nicht noch in Eupen, sondern schon wieder in Deutschland zu sein. Dort, wo auch noch von jeder halbwegs bekannten Band nur deren misslungenste Stücke dudeln: Lessons in Love von Level 42. Friday I’m in Love von den Cure. Und jedes dritte Stück ist die Sauce von Collins oder Cocker. Beispiele für ein Musikprogramm, das wie das gesamte Politgebilde nach der Methode des größtmöglichen Konsensschaffung organisiert ist: Bloß bei keinem anecken oder Lieder spielen, die keiner kennt.

Einen fundamentalen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland kann man auch anlässlich eines Kondomkaufs erläutern: Hierzulande kramt der Apotheker diskret ein paar Päckchen unter dem Ladentisch hervor, brummt irgendetwas Unverständliches vor sich hin, und packt dann alles in ein neutrales, weißes Plastiktütchen. Und in Frankreich? Dort flöteten die Apothekerinnen den Kunden ein kokettes  bon après-midi, m'sieur! hinterher.

Ich fahre zurück in ein Land, das Fragen aufwirft. Warum haben alle Polizistinnen lange Haare und einen Pferdeschwanz, wieso sind alle Postbotinnen blond und warum haben alle Dicken Leggings und kurze, rote Haare? Warum werden trotz Tausender Verkehrsopfer Blitzerwarnungen im öffentlichen Radio durchgepetzt? Und warum stopfen manche Frauen ihre Kleinwagen mit Kuscheltieren voll?

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Christof Lais Sperl
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Der silberne Roboter


Beitrag02.05.2015 14:43
Verfügungszentrum - Sternstunden
von Christof Lais Sperl
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Von Sylvain war bereits wegen Fleischbonbon und Pascal die Rede. Als angenehm sanftmütiger Vertreter seiner Muttersprache steht er ganz im Gegensatz zu der forsch und breitbeinig auftretenden Dubonnet-Schmidt, einem lebenden Beispiel für die Regel, dass alle wichtigen Frauen in Deutschland eines Doppelnamens bedürfen. DS versucht, den Studenten in doppeltem Sprachtempo zu vermitteln, dass sie es, wenn sie auf Französisch nicht mal einen Kaffee richtig bestellen können, mit der Romanistik lieber ganz sein lassen sollten. Sie schiebt das Französische wie das Abwehrschild einer weiblichen Ausgabe des Majestix vor sich her, und will mit dieser Waffe sprachlicher Breitseiten und Frontalangriffe die Seminarräume leerfegen. Dubonnet-Schmidt ficht also ihre linguistischen Schlachten, Sylvain aber ist zurückhaltend, hilfsbereit und unscheinbar. Miltstrom sieht saugut aus, hat Schlag bei den Damen, nutzt dies allerdings nicht übermäßig aus, liest oben Linguistik und gibt einmal jählich ein Gartenfest mit Grillen und Verdauungsfußball.

Er immer im Tor. Da kannst du dem Professor mal so richtig einen reindreschen.

Deine erste Lektüreverordnung ist Pelz. Spannende Einführung. Nie im Leben habe ich etwas von Beginn an als derart faszinierend empfunden wie das Universum der Sprachwissenschaft. Ich hole mir jetzt Band um Band, man kann gar nicht genug davon kriegen. Hagège hat gerade den Homme de paroles veröffentlicht, in dem er Biologie, Evolution und Sprachwissenschaft verknüpft. Man kann stundenlang in der Bibliothek in der Cambridge Encyclopedia of Language oder in der Monde schmökern. Ich fresse mich da durch, das wirst du auch bald tun, rauche meine zehn Stück in der Caféteria,  und beschäftige mich mit Sapir und Whorf, die das Denken von Sprache bestimmen lassen. Noch kann ich schnell denken und alles aufsaugen mit meinen paarundzwanzig. Manchmal leuchtet mir sogar das Monty-Hall-Dilemma in den Kopf. Mein schwer nikotinsüchtiger und höchst cleverer Kommilitone dort drüben am Tisch, der mit den zittrigen Fingern - wie heißt der bloß noch? - kopiert die Bücher einfach auf seine Hirn-Festplatte. Er kann vieles auswendig rezitieren. Rede mal mit ihm. Der haut dir die wissenschaftlichen Schlagzeilen um die Ohren. Breaking News. Alle Altsemester, die er für kompetent hält, fragt er nach den wichtigen Büchern. Und in der Woche darauf kann dieser lebende Massenspeicher sie auswendig hersagen! Da läutet wieder die Bammelklingel in der Seele:

Wenn’s schon solche Typen gibt, wozu soll noch jemand welche wie dich brauchen?

Ich lasse mich aber nicht immer einschüchtern und stürze mich in alles, was ich konsumieren kann. Nun ist die  Zeit populärer Mathematik aus Fraktalen. Man liest Gödel, Escher, Bach. Ich berausche an diesen Sachen. Und in der Schule hatte ich Mathe nie verstanden. Ohne Fleich kein Preich pflegt Mildstrom stets zu sagen, und hat in diesen rätselhaften Satz eine Verwirrung aus Aufmunterung, Reim, geschickt gesetzter fehlerhafter Aussprache und der Konfusion durch die Ähnlichkeit von sch- und ch-Laut eingebaut, die den Hörer zuerst an Fleisch denken lässt. Auch Mildstrom vertritt die beliebte These der allgemeinen Kaffeebestellunfähigkeit. Und hält Moralpredigten, wie ich sie zuletzt von meinen alten Lehrern hörte.

Wer Handfestes braucht, schreibt sich bei Dech auf die Liste. Zu dem musst auch du irgendwann. Der ist Textlinguist, und ein Mensch, der sich über all das maßlos aufregen kann, was ihm dumm oder undurchdacht erscheint - vor allem Lehrer und Schulsystem müssen dran glauben – wobei es ihm ganz beiläufig gelingt, die Studenten in seinem selbstironischen Furor mitzuziehen und für Wissenschaft zu begeistern.

Das sind Bibliotheken von Büchern, die dazu noch geschrieben werden müssen!

ruft er immer und fuchtelt ungeschickt mit seiner Hand in der Luft herum. Er ist, wie Mildstrom, Verfasser zahlreicher, hochkomplexer Arbeiten in Text- und Psycholinguistik, in denen kurze Texte bisweilen in der Art von elektronischen Schaltkreisen dargestellt sind. Du öffnest das Buch und denkst erst einmal, du hättest ein Lehruch für TV-Techniker in der Hand. Immer wieder versucht er mich zu stärken und kritisiert, ich sei nicht realistisch genug, mein eigenes Leben zu ordnen, was an schwachen Tagen schmerzend hochsticht. Denn wo andere lächelnd und frei auf Menschen zugehen können, vermeide ich den Kontakt zu Menschheit und vor allem Hierarchie. Macht jemand Karriere, kann ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Schmerzendes Unwohlsein in Gesellschaft. Mangel an Entscheidungsfähigkeit. Kein Selbstvertrauen. So habe ich mir das Leben ziemlich zäh eingerichtet. Und muss mich mühsam dort herausschälen, wo andere längst schon ihre Hausaufgaben gemacht haben. Ich bin kein Mensch, der Leben gestaltet. Ich bin ein Mensch, der sich treiben lassen muss. Zu Freundinnen und Zielen. Wann endlich kommt mal die, die mir auch selbst gefällt? Nicht die, welche sich mir aufdrängt! Die ich nur aus fauler Bequemlichkeit gewähren lasse.

Ein Luzidtraum ist ein Zustand aktiver Gestaltung. Doch was selten im Traum gelingt, gewährt das Leben nie. Können wir steuern oder sind wir nur Marionetten neuronaler Netze? Wie Teile der Forschung zeigen, liegt dieser letzte Gedanke manchem Denker gar nicht so fern. Das, was wir als freien Willen bezeichnen, könnte pure Illusion sein. Ein Horror, wenn man sich’s richtig überlegt.

Dech sagt immer, die Notengebung in der Schule, die er für das Fach Englisch mehrfach untersucht hat, sei so gerecht, wie wenn ein Stapel von Schulheften eine Treppe hinab geworfen würde. Was auf der obersten Stufe läge, wäre eine Eins. Das ganz unten eine Sechs. Native speaker hatten in seinem Auftrag Englischaufsätze nach ihrem Inhalt hin bewertet und Noten vergeben, die denen der Lehrer diametral entgegengesetzt waren.

Wer weniger kalte Wissenschaft als menschliche  Zuwendung braucht oder etwas nicht verstanden hatte, ist bei Frau Böhle gut aufgehoben, einer milden, angenehmen und ruhigen älteren Dame, die für jeden Zeit hat, Fachdidaktik liest, und Forschung im Bereich der Pausenanalyse betreibt. Dabei geht es um die Frage der Planung von Sprache, wann das Gehirn welche Pause macht, wie  Sprachproduktion funktioniert, was während der Planung passiert und in welchen Arealen sie stattfindet. Anzahl, Länge und Stelle der Pausen können anhand von Transkripten und an Diagrammen der Tonaufzeichnungen gemessen werden. Ich habe oben meinen Aushilfsjob, betreue Böhles Meßapparaturen, führe Analysearbeiten aus, komme auf meinen Gängen gelegentlich bei der wie bei jedem amerikanischen Professor stets geöffneten Tür Pablo Mantels vorbei, wobei ich den Gelegenheitskokser und Yuppie-Gastprofessor aus den USA immer lesend von hinten am Schreibtisch sitzen sehen kann. Mantel ist gebürtiger Mestize aus Venezuela, lehrt in den USA, träumt von einem neuen 190er, und schimpft gern über die miese Qualität amerikanischer Autos. Mantel kann kaum glauben, dass ich die Pausenmessmaschinen beherrsche, für deren Bedienung man genau genommen nur wenige Fähigkeiten mitbringen muss, die aber so viel kosten wie ein Mittelklassewagen. Immer wieder muss ich ihm die Messung erklären, ich aber finde es faszinierend, wie gut und fließend er, Spanisch, Englisch, Deutsch und Navajo nicht nur sprechen, sondern förmlich aus dem Ärmel schütteln kann. Alle mir bekannten Sprachen beherrscht er ohne hörbaren Akzent. Navajo allerdings sei unlernbar, betont er gern, denn in dieser Sprache fallen Satz und Wort zusammen und bilden wie im Finnischen eine Einheit aus aneinanderhängenden und verschachtelten Elementen, wodurch man beim Sprechen und Zuhören schnell den Überblick verlieren kann. Dann geht es dir wie den Simultandolmetschern, die, wenn sie aus dem Deutschen übertragen, immer geduldig auf die Verben warten müssen. Das gibt Hoffnung, wenn selbst ein derart brillanter Kopf Schwierigkeiten zugibt, die selbst die Navajo-Freundin nicht ausräumen kann.

Wenn du aber Sternstunden erleben willst, musst du zu Hansen. Der ist nicht nur gut. Er ist fast schon ein Genie. Zwar stehen nur wenige auf der Teilnehmerliste, doch im Seminar fühlt sich’s trotzdem überfüllt an. Das liebt nur an Hansen selbst. Als feiner Hanseat hält der fließend Platt sprechende Historiker, Philosoph, Linguist und Hobbyschreiner von uns Hessen in etwa so viel wie wir selbst von den Bayern. Eine Voreingenommenheit, die er genüsslich pflegt und zelebriert: Er wohnt im allersüdlichsten Zipfel Niedersachsens, in einem Ort namens Speele, und das nur, um nicht unter Hessen übernachten zu müssen. Täglich muss er über ein paar Dörfer und die unsichtbare Grenze pendeln. Und als Vielfahrer auch des Öfteren eine Autowerkstatt aufsuchen, wenn etwas an seinem alten Wagen wieder nicht richtig funktioniert. Hansen versteht es, das diagnostisch einkreisende Denken des Mechanikers als Vorläufermodelle wissenschaftlicher Ansätze in seine Vorlesungen einfließen zu lassen. Nie wieder wirst du einen beleseneren, umfassender gebildeten Menschen erleben. Er spricht akzentfreies Englisch, sagt jedenfalls Morrissey, hat wohl einige tausend Meter vom Wichtigsten aus allen Zeiten gelesen, und sein rundes, weiches, von grauen Locken gekröntes Gesicht ähnelt dem des späten US-Botschafters Kornblum, der auch so einen flapsig-nordischen Stakkato-Akzent in der amerikanischen Schwabbelbacke hat. Hansen färbt sein kühles Norddeutsch mit einem Kornblumig klingenden englischen Akzenthauch, was das natürlich Anglophile seines hanseatischen Dasein noch mehr unterstreicht. Wenn du dich irgendwo einschreibst, dann bei dem!

Hansens bevorzugtes Gebiet ist die Soziolinguistik. Er erzählt dazu gern wissenschaftliche Geschichten. Wie die von Laboff, der nicht mit dem späteren Metaphernpropheten Lakoff verwechselt werden darf. Laboff fragte in einem New Yorker Kaufhaus nach Produkten mit oder ohne prononciertes Final-r, die jeweils im vierten Stock erhältlich waren. Laboff spielte also abwechselnd Vertreter der Arbeiterklasse mit hörbarem „r“ und der Mittelklasse ohne. Laboff bekam von den Angestellten seiner Frage in ihrer Aussprache  angepasste Antworten (forth floor oder fo’hth floh’) und konnte damit beweisen, daß der Sprecher nach Schichten gestaffelte Varianten von Sprachen in seinen Antworten aktiv wechseln kann.

Oft kommt auch die Geschichte von Newton, einem Mann, der die Welt berechnete. Die Welt glaubt an die Kalkulierbarkeit aller Phänomene, bis ein Forscher einen Stamm Eingeborener entdeckt, deren Handlungen all dem zuwider laufen, was bis zum Zeitpunkt als christlich-zivilisiert gegolten hatte, die Idee von der berechenbaren Welt muss revidiert und eine neue Zeit des Umdenkens, ein Kuhnscher Paradigmenwechsel der Ideengeschichte, eingeleitet werden.

Wir diskutieren die ain’t-Grenze in Großbritannien, und vergleichen die Register des Britischen mit den Dialekten in Deutschland. Hansen bittet Studenten, sich zu begrüßen, die Äußerungen gehen von Guten Tag bis na? Hansen ordnet die Begriffe nach sozialer Beziehung.  Bisweilen fragt er unmittelbar: Kennen Sie die noch die Geschichte von Newton? Wir müssen dann die Geschichte nacherzählen. Hansen macht aus den selbstverständlich bruchstückhaften Erzählungen der Studenten zwei fesselnde Sternstunden der Debatte und streift Locke, Hume, und Searle. Realismus und Nominalismus verbindet er mit dem Spruch Are you married? Unmarred, I betritt stets ohne Grußformel den Seminarraum und beginnt sofort mit den ersten Wörtern seines Vortrages. Alle warten schon gespannt, die Tür geht auf, Hansen kommt mit seinem dicken Bauch herein, und  sagt beispielsweise: Die Soziolinguistik kennt zwei Untersuchungsmethoden, während er Platz nimmt und den Hund der Seminarkollegin tätschelt. Dann beginnt eine neue Geschichte. Manches Mal legt er seine Uhr auf den Tisch und bittet die Studenten, das Arrangement zu beschreiben. Da sich natürlich alle Beschreibungen unterscheieden, ist dies der Aufhänger für die Diskussion des unendlichen Potentials von Sprache, den schwer fassbaren Begriff der Bedeutung, die Machtausübung und Bestimmung mittels Redeweise, die er neben Klemperers Sprache des dritten Reiches auch gern an Carrolls Figur Humpty Dumpty erläutert, deren in der Körpermitte getragenes Band sowohl als Gürtel als auch als Kragen gesehen werden kann: Wir bestimmen durch den sprachlichen Blick die Kategorie des Objektes und die Welt wird Untertan menschlicher Sichtweise. Überhaupt erklärt er viel von Carrolls logischen Finessen und vergisst auch nicht zu erwähnen, dass der stets mit einer Mappe voller Fotos präpubertärer Mädchen durch sein Institut lief, dass es aus naheliegenden Gründen tatsächlich zum Bruch mit Alices Familie gekommen war. Arno Schmidt ist auch ein ein Steckenpferd Hansens. Ich erzählte neulich von Schmidts Prozess, Hansen hatte gar nicht gewußt, dass auch Schmidt wegen einer Carrollschen Geschichte einmal angeklagt gewesen war. Ich habe ihm das betreffende Buch dann aus der Bibliothek geholt und wenigstens einmal im Leben das Gefühl gehabt, etwas zu wissen.

In den Pausen sitzt auch er gern hier und ißt Süßgebäck wie ein Däne, raucht allerdings nicht. Er hat in Dänemark ein Ferienhaus und gibt gern zu, dass es ihm wie so vielen geht: Das Dänische mit seinen bedeutungsunterscheidenden Verschlusslauten, dem seltsam vertrauensvollen und freundschaftlich klingenden Final-r, den Wortpaaren nach der Art von brud und bru’d, den Endkonsonanten nach Gutturalverschluss und der Spruch rødgrøde med fløde sind ihm immer ein rotes Tuch geblieben. So rot wie die Flagge der Dänen selbst. Er notiert die Vokabeln an der Tafel. Aussprechen aber kann er sie nicht.



Ich hatte bei Hansen und Dech meine Diplomprüfung in Englisch. Es geht um eine Hansen’sche Geschichte, nämlich der von  sound und noise. Der Unterschied zwischen beiden war detailliert darzulegen. Sound trägt Bedeutung, noise nicht immer. Ein Thema der Semantik. Ich hatte mir zur Vorbereitung ägyptische Aussprachemodelle irgendeines Speech-Act-Theoretikers angeeignet, vor denen hatte ich immer solchen Respekt, weil sie alle Chinesisch konnten, da war dann die große Diskussion, ob das Chinesische denn Phoneme hätte, da es doch eine tonale Sprache ist, und wie die Töne zu werten seien. In der Prüfung kamen allerdings fast ausschließlich  sound und noise dran, und da ich immer gut aufpasse, konnte mir nicht viel passieren. Allerdings verwechselte ich beim verschwitzten Vorlesen den tonischen Akzent in content und content, worauf Hansen mich nach der Prüfung noch nachsichtig hinwies.

Ich bin frei. Erleichtert. Frage nach dem Preis der Welt, die nach dem Strohfeuer mit der Dozentin sofort eine  Affäre mit einer absonderlichen Professorentochter bereithält, mit der man nächtelang über Bücher diskutieren kann. Sie hatte geglaubt, mich der Lektorin als Uni-Trophäe abspenstig gemacht zu haben, hatte nicht gewusst, dass schon Schluss war, ist beängstigend smart und schreit so laut, dass ich ihr ein Kissen auf das Gesicht pressen muss, sonst brüllt sie alle Mietshäuser zusammen. Oder irgendjemand ruft die Polizei. Wenn ich mich nicht in ihr bewege, wir also das Tao machen, können wir währenddessen noch über den Zauberberg reden, den sie mit sechzehn schon gelesen hat, und fast auswendig aufsagen kann. Das hat was, Intelligenz vögelt wirklich ungemein gut, wenn man dabei noch Settembrini und Naphta durchsprechen kann. Doch zu viel davon macht manchen wahnsinnig. Und das Irre ist bei Carole schon bald zu spüren.

In den Pausen ziehen wir uns was über und gehen in den Biergarten: Vier Wände. Kein Dach. Überbleibsel vom Angriff 1943, linke Fußballkneipe. Der Vereinsname Windrose ist wegen angeblichen DDR-Anklangs vom DFB abgelehnt worden, der Laden ist Kontaktbörse, es gibt gut eingeschenktes, großes Bier, Selbstgedrehte, Gorbatschow an der Wand. Und dann wieder zurück auf die Bude. Literatur, Sex, Buchstaben, Sex. Sie will bedroht und  gewürgt werden, zerschmilzt, wenn ich ihr Order gebe. Fordert immer mehr Befehle. Bloße Drohung macht sie schon ganz kirre und noch verrückter, als sie es mit ihrem flackernden Blick ohnehin schon ist. Ihre Eltern besitzen eine Bibliothek mit tausenden Bänden, darunter auch Pléiade-Editionen. Manchmal fallen wir auf dem Lesesofa der Bibliothek oder einfach auf dem Boden übereinander. Sie brüllt. Ich greife mir ein Sofakissen und drückte es ihr ins Gesicht. Aber nur soviel, dass sie noch gut atmen kann. Sie ist sehr schön. Sie ist zurzeit die Schönste. Die Betty Blueste. Ein brüllender Vamp, der erobert und fallen läßt, während er schon die nächste, heiße Kartoffel durch die Zinken seiner teuflischen Gabel anvisiert. Ich lasse mich von ihr zum blöd grinsenden Büttel machen, saufe mich nächtelang mit Martini Rosso voll, rauche dreißig Stück,  gebe ihr dann aber doch ganz heldenhaft den Laufpass, als sie, schon früher als von ihr berechnet, beim Juniorprofessor Raphael auf dem Schoß sitzt, und dessen junge Ehe damit bereits schon niedergemetzelt hat. Der Selbstschutz ist schwer, schwer, schwer, gelingt. Muss gelingten. Sonst sterbe ich. Gelingt genau zu der Zeit, als ich mir mit Helmut unmenschlich-genüsslich und schenkelklopfend ein Martini-Edel-Bier aufmache, nachdem im Radio durchgegeben worden war, der unerträgliche Politiker sei gestorben. Bier zum Blut. Die Röhre auf den Tod. Und noch mehr Bier zur Trauer um die halbverrückte Schönheit. Helmut hat auch was zu erzählen, denn kurz zuvor ist es bei ihm zu dem gekommen, was ich den Brasselsberger Kniefall nennen werde.

Seine Angebetete ist aus einer besseren Familie. Eines Abends, als er sie abholen will, rutscht das hochwohlgeborene Muttertier, dieses labile, flatterige Wrackgerippe aus pekuniär stimulierter Selbstbehauptung und den Körpersäften aus Diazepam, auf den Knien vor ihm, dem Arbeiterkind, fleht ihn mit gefalteten Händen an, die Tochter in Ruhe zu lassen. Für sie soll es einen standesgemäßen Kerl geben. Irgendeinen, der vor zwanzig Jahren schon mit Schlips um den Hals und Aktienpaket in der Hand aus der Mutter gekrochen kam. Dabei ist Helmut der beste, den sie je hätte kriegen können. Wir bezwingen die Enttäuschungen und die Befürchtung gutbetuchter Zwangsheirat mithilfe göttlich besoffener Wochendenden. Die strenge Lektorin, der böse Politiker, die schöne Angebetete und die flackernde Carole sind weg. Die Welt kann durchatmen. Das Leben soll weitergehen. Jetzt hole ich wieder einen, bleib sitzen.

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