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Sue Rovia
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 30
Beiträge: 586
Wohnort: Metronom
Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag09.11.2014 19:27

von Sue Rovia
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Hi,

mir gefällt dein Text richtig gut. So gut, dass er mir wahrscheinlich den Sonntag gerettet hat. Allerdings finde ich Flokis Einwand, dass es eventuell ein schwieriger Anfang für ein Buch sein könnte schon sehr berechtigt. Als leidenschaftliche Verfechterin der Wichtigkeit von theoretischer, und moderner Physik sind mir Mirabeau und ihr Vortrag natürlich mehr als symphatisch. Ich glaube aber nicht, dass ich am Text geblieben wäre, wenn ich ein gewisses Hintergrundwissen und eine Grundbegeisterung für das Thema nicht mitgebracht hätte.


Zitat:
Denn er war das Auge des Hohen Rates, und das Auge sprach nicht, ebenso wenig wie die Stimme handelte oder die Hand beobachtete. Das Auge sieht. Die Stimme spricht. Die Hand straft. Der Geist führt. Das waren die Gesetze des Hohen Rates, und keinem der Ratsmitglieder wäre es eingefallen, sie zu verletzen.


Diesen Satz finde ich richtig genial. Da hast du du mich als Fantasyleser abgeholt und selbst wenn Mirabeau jetzt über Biotechnologie und nicht über die Relativitätstheorie sprechen würde, hätte ich Sätze vielleicht überlesen aber das Buch deswegen trotzdem nicht aus der Hand gelassen. Vielleicht ein bisschen mehr davon und ein bisschen weniger vom Kausalitätsprinzip, so sehr ich es auch liebe Wink

Ich will wissen wie es weitergeht!
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bibiro
Geschlecht:weiblichKlammeraffe
B


Beiträge: 716



B
Beitrag09.11.2014 19:37

von bibiro
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Ich weiß, es gibt von Andreas Eschbach den Einwand, zu langsame Manuskriptanfänge zu streichen und erst zu einem späteren - rasanteren - Zeitpunkt in den Plot einzusteigen.

Ich finde aber, man kann es auch andersherum lösen:

Früher in den Plot einsteigen, zu einem Zeitpunkt, der mehr Action hat.

Man könnte entweder (ich produziere Phantasie mit Schneegestöber) das Auge eingeschüchtert vor der Stimme des Rates erleben oder - noch früher einsteigend - wie er sich bei seinem letzten Auftrag irgendeine wilde Verfolgungsjagd liefert und dann mittendrin abberufen wird, um "bitte übernehmen Sie" den Auftrag für diese Observation zu erhalten. Nur, um dann festzustellen, dass er sich gerade in Timbuktu (oder sonst j. w. d.) befindet, und der Vortrag schon in x Stunden in Paris beginnt ...

Nur so als Idee. Vielleicht kannst du was draus machen. Meist hat man ja eine Idee, was "seine Leute" vor dem eigentlichen Plot tun und lassen.

Grüßke Bibi
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Gast







Beitrag09.11.2014 19:40

von Gast
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Hallo!

Der Text ist ausgesprochen gut. So gut, dass er sicher ein professionelles Lektorat überleben dürfte. Große Lob von mir, denn der Text liest sich wirklich flüssig. Eine Feststellung, die ich nicht oft  machen kann. Daher meine Frage. Wie lange wurde an dem Text gearbeitet? Wie oft wurde er überarbeitet? Wie viele Testleser hatten ihn schon in der Hand? Ich stelle die Fragen, den die Antworten für die Leser des Forums interessant sein könnten, weil sie einmal abschätzen können, wie viel Arbeit in einem Text steckt. Entstand in wenigen Tagen, dann sollten die Frage besser unbeantwortet bleiben, weil dies Neid auch bei mir auslösen würde.

Ich bin auf die Antworten gespannt.

Viele Grüße

Attingat
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Zeitenträumer
Geschlecht:männlichLeseratte
Z

Alter: 44
Beiträge: 123



Z
Beitrag10.11.2014 01:29

von Zeitenträumer
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Hallo zusammen ... vielen, vielen Dank für das Lob! Embarassed

Was die "Langsamkeit" des Anfangs angeht, fällt es mir schwer, das zu ändern. Ich könnte mir vorstellen, das Gewicht des Textes ein wenig mehr in Richtung Hoher Rat und weg von der Zeit zu verschieben, aber nur ein wenig - Zeit ist nun mal das Grundthema. Die Idee, das Ganze etwas früher beginnen zu lassen, finde ich nicht schlecht, allerdings könnte es nur sehr wenig früher sein, vielleicht mit dem Befehl des Geistes des Rates an das Auge ... werde ich noch mal ein wenig sacken lassen und herumwälzen. Immerhin hätte ich so auch die Sache mit der Umgewichtung gleich mit erfüllt.

Attingat, was deine Frage betrifft (Ich kann mich natürlich nicht an jede Überarbeitung erinnern, aber ungefähr):
Erstmal steckt natürlich ein bisschen Recherche in dem Text. Geschrieben habe ich die erste Version dann tatsächlich in recht kurzer Zeit, das war vor etwas mehr als einem Jahr. Ich habe sie dann noch einige Male selbst überarbeitet, bevor sie zwei Testleser in die Hand bekamen, von denen einer eher inhaltlich-logisch, der andere eher sprachlich orientiert kritisiert. Weitere Überarbeitungen meinerseits. Zwischendurch lag das gute Stück natürlich auch längere Zeit rum, weil ich an anderen Abschnitten gearbeitet habe. Tja, und dann der vorerst letzte Schliff hier im Forum ...
Also ich würde mal sagen, der jetzige Text hat mit der ersten Rohfassung zwar den Kern gemein, aber die Frucht hat sich sehr verändert. Allerdings hatte ich auch schon beim Schreiben der Rohfassung ein gutes Gefühl, wie das eben manchmal so ist.

Beste Grüße und nochmal vielen Dank für das Feedback!

David
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Sue Rovia
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

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Beiträge: 586
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag13.11.2014 21:31

von Sue Rovia
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Gibt es eigentlich schon eine Fortsetzung, bzw. ein erstes Kapitel?
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Zeitenträumer
Geschlecht:männlichLeseratte
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Alter: 44
Beiträge: 123



Z
Beitrag14.11.2014 10:02

von Zeitenträumer
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Hallo Sue,
es gibt bereits ein ganzes Manuskript! Confused  Hier im Forum werde ich mich allerdings erstmal dem Prolog widmen, da ich diesen demnächst als Textprobe für Agenturen / Verlage nutzen will.  Der Prolog hat allerdings noch einen zweiten Teil, der in der Antike spielt und auch hier im Einstand steht. Ist etwas länger (und wird sicher noch gekürzt), aber wenn du Lust hast, freue ich mich natürlich über jede Kritik!
Liebe Grüße,
David
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Sue Rovia
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

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Beiträge: 586
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag14.11.2014 17:01

von Sue Rovia
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Ein Manuskript klingt super Wink
Alles klar, ich werde so dann in den Untiefen des Einstandes wühlen um meine Neugierde ein kleines wenig  zu beruhigen Laughing
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Sue Rovia
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

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Beiträge: 586
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag17.11.2014 16:26

von Sue Rovia
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So, dann widme ich mir nochmal der Kritischen Vernichtung deines Textes Pfiffig Blinzeln Wobei es da glaube ich gar nicht mehr soviel zu vernichten gibt.

Die Prolog-/bzw. Kapitelüberschriften als Zeitangaben finde ich sehr gut.

Zitat:
Die Augen des Gehörnten ruhten auf ihm, unergründlich, ewig. Der Druide betrachtete das steinerne Abbild des Gottes, halb Mensch, halb Hirsch, der mit gekreuzten Beinen dasaß, die Widderkopfschlange um den Hals gelegt.
Dich, Cernunnos, dachte er. Insgeheim fürchten sie Dich am meisten. Sie alle. Er lächelte. Ungezählt und vielgestaltig waren die Unsterblichen, doch keiner, so glaubte er, flößte den Menschen so viel Respekt ein wie der Gott mit dem Hirschgeweih: Cernunnos, der Gehörnte, Herrscher über die Anderen Welten.
Der Druide schloss die Augen. „Ich bin der ewige Strom des Flusses“, murmelte er in einer alten Sprache, die nur wenige verstanden. Was für eine Sprache?  „Ich bin das Allessehende Auge. Ich bin die Waage der Wahrheit. Ich bin die Kraft der Eiche. Sieh durch meine Augen, o Cernunnos, sprich mit meiner Stimme, urteile durch meinen Geist, strafe, wenn es sein muss, durch meine Hand. Und es wird besser sein und nicht schlechter.“
Wie alle Barden und Druiden kannte er die Verse des Rechts, kannte sie besser als die meisten, doch Recht in dieser Welt war etwas anderes als die Gerechtigkeit des Gehörnten, die ewigen Gesetze des Alls und der Zeit. Jeder würde am Ende seines Lebens durch den Schleier in die Anderen Welten gehen, und dort entschied allein Cernunnos über das Dasein und die Wiederkehr eines jeden. ]Das ist es, was sie so sehr an Dir fürchten. Die Gerechtigkeit.
Der Druide seufzte. Er hatte die Pflichten, die vor ihm lagen, für einen Moment vergessen können, doch die Schatten verrieten ihm, dass es beinahe Mittag war. Wenn Belenos‘ Auge am höchsten stand, würden sich die Sippen der Haeduer auf dem Neunquell in Bibracte versammeln und von ihm erwarten, dass er Recht sprach– ein Recht, das keinem genug war, hatten doch alle zu wenig Das Auge des Belenos gefällt mir gut. Aber insgesamt hast du in dem Satz vier fremde Namen drin. Ich glaube das ist zuviel auf einmal.
 Er kniete vor der Statue nieder, um eine letzte Bitte um Weisheit an den Gehörnten zu richten, der ihn gleichgültig anzusehen schien, als wolle er sagen: Ich sehe, die Menschen leiden, doch was soll ich tun? Sie bestimmen selbst über ihr kleines Leben in dieser Welt. Mich kümmern sie nicht, bis sie wieder durch den Schleier gehen.
Der Druide berührte mit der Linken seinen Torques, den goldenen Ring um seinen Hals, und senkte den Kopf; mit der Rechten formte er eine Schale und führte sie langsam aufwärts, bis das Handgelenk die Stirn berührte: das Zeichen der Weisheit. Dann erhob er sich, strich sein Gewand glatt und verließ das Heiligtum.
Kinderstimmen drangen an sein Ohr – Dagomaros und die Kleineren vermutlich, die wieder und wieder den Krieg der Haeduer gegen die Sequaner nachspielten, allerdings mit günstigerem Ausgang als in der Wirklichkeit; denn die Sequaner hatten mit Versprechungen von Land und Gold den Suebenkönig Ariovist über den Rhenos gerufen, dessen Krieger die Felder der Haeduer verwüstet und ihre Rinder gestohlen hatten. Vor zwei Jahresläufen Meines Erachtens eine sehr gute Zeitbeschreibung war die Lage der Haeduer immer verzweifelter geworden; viele Krieger waren gefallen und es herrschten Hunger und Krankheit unter den Sippen. In jenem Jahr hatte der Druide das Amt des Vergobret innegehabt und war nach Rom gereist, um den Senat um Hilfe zu bitten. Er war Gast des Marcus Tullius Cicero gewesen, eines der edelsten Männer Roms, und überaus ehrenhaft behandelt worden, doch anstelle schlagkräftiger Legionen hatten ihm die Senatoren vage Versprechungen mit in die Heimat gegeben und nichts war geschehen. Nach diesem Misserfolg hatte er das Amt des Vergobret niedergelegt, auf Druck jener Sippen, die seine enge Verbindung zu Rom immer mit Argwohn betrachtet hatten; das Amt war auf seinen Bruder Dumnorix übergegangen, der diesen Argwohn teilte und aufgrund seines Reichtums und seiner Freigebigkeit überaus beliebt im Volk war. Auch er war jedoch machtlos gewesen: Im letzten Jahr hatte Ariovist die Haeduer bei Magetobriga vernichtend geschlagen, und spätestens seit dieser Niederlage hatte sich der Geist von Armut und Elend fest unter den Sippen eingenistet und wurde von Tag zu Tag mächtiger.
Es war Dumnorix gelungen, Frieden mit Ariovist und den Sequanern zu schließen – einen Frieden, der die Haeduer teuer zu stehen kam. Die Reichen mussten Geiseln stellen und Tribut entrichten und deshalb noch höhere Abgaben von ihren Gefolgsleuten, Schuldnern und Hörigen fordern, um deren Schutz gewährleisten zu können, jedenfalls behaupteten sie das; denn neben dem Schaden durch Geiseln und Tribut hatten sie vor allem die Kontrolle über den Arar verloren, auf der ihr Wohlstand beruhte. Und keinem schadete dies so sehr wie Dumnorix selbst, hatte er doch einen großen Teil der Arar-Zölle über mehrere Winter hinweg gepachtet.
Entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben betrat der Druide das Wohnhaus nicht. Er hatte nach Villús Fortschritten sehen wollen, doch in letzter Zeit war ihm immer häufiger danach, allein zu sein; gerade die Gegenwart Villús, der insgeheim immer sein Lieblingssohn gewesen und nun, wie er es sich erhofft hatte, sein Schüler geworden war, bedrückte ihn auf unerklärliche Art und Weise. Er kehrte dem Eingang den Rücken und ging um das Haus herum zu den Stallungen. Tala, Villús Lieblingspferd, tänzelte nervös und schnaubte, als er näherkam; der Druide tätschelte ihr abwesend die Nüstern und schob sich an ihr vorbei, um Prito zu satteln. Welch seltsame Schwermut mir der heutige Tag gebracht hat, dachte er. Oder ist es nicht vielmehr seltsam, dass ich so selten davon ergriffen werde? Gewiss, er verteilte Korn und selten auch Gold unter den Gemeinen und Hörigen des Stammes, doch das war nichts im Vergleich zu deren Leid. Verstehe ich nicht ganz. Es ist seltsam, dass der Druide so selten von Schwermut ergriffen wird weil er Korn verteilt? Durch das Gewiss klingt die Aussage wie eine Antwort auf die Gedachte Frage. Aber ob jemand jetzt Korn verteilt oder nicht hat doch nichts damit zu tun, ob er schwermütig ist oder nicht. Dumnorix gab zwar umso mehr, war er doch ungleich reicher, doch der Druide wusste, dass sein Bruder einzig und allein seinen Einfluss zu stärken trachtete und dass seine Gaben die Not in Wahrheit eher mehrten denn minderten. Wie das? Will er nachher umso höhere Abgaben oder warum mehrt er die Not? Oft bereute er, Dumnorix den Weg an die Spitze der Macht geebnet zu haben, doch wer konnte den Stamm in diesen Zeiten besser führen als er?
Abermals seufzend schwang er sich auf Pritos Rücken. „Komm, alter Freund“, sagte er und klopfte den Hals des Rappen. „Was immer der Lauf der Zeiten am heutigen Tag bringen mag, wir werden es doch nur erfahren, wenn wir dabei sind.“
Das Gut der Sippe lag kaum eine Stunde zu Pferd von Bibracte entfernt. Der Druide hing seinen Gedanken nach, und so dauerte es eine Weile, bis er sich der drei Reiter bewusst wurde, die nebeneinander auf dem Weg verharrten als warteten sie auf ihn. Ihm blieb wenig Zeit, sie einzuschätzen, doch es handelte sich offensichtlich um Römer, von kleinerer Statur als die Kelten, kurzhaarig und rasiert und in edle Togen gekleidet. Er kniff die Augen zusammen und erkannte zu seiner Überraschung den Mittleren der drei, einen etwa fünfzig Winter zählenden Mann mit roten Wangen und leichtem Bauchansatz: Lucius Valerius Flaccus. Der Druide hatte ihn einige Male in Narbo getroffen, als er mit den römischen Machthabern verhandelt und Kontakte geknüpft hatte; die Valerii Flacci waren eine der einflussreichsten römischen Familien in Gallien und Hispania, und auch Lucius hatte verschiedene mächtige Ämter bekleidet. Er galt als kluger Staatsmann, jedoch kannte der Druide auch Gerüchte um eine dunkle Vergangenheit Flaccus‘ in den Ländern des Sonnenaufgangs. Seine Begleiter waren jünger und dem Druiden nicht bekannt; ihm schien, als sei einer der beiden gallischer Herkunft, denn sein Haupt war von dichtem blonden Haar bedeckt, wenn es auch nach römischer Mode frisiert war.
Er brachte Prito zum Stehen und hob die Hand zum Gruß, wie es in Rom Sitte war. Flaccus beugte sich zu dem Blonden hinüber und sagte etwas in römischer Sprache, die Diviciacos trotz seiner langjährigen Erfahrung mit den Italikern nur bruchstückhaft beherrschte. Der junge Mann grüßte zurück; Diviciacos bemerkte, dass er ein überaus energisches Kinn und stechende, blaue Augen hatte.
„Seid gegrüßt, Diviciacos, Sohn des Segomo“, rief er auf gallisch. „Möge die Freundschaft zwischen Rom und den Haeduern so lange andauern wie die Zeit. Ich, Gaius Valerius Trocillus, spreche für Lucius Valerius Flaccus, den Gesandten des römischen Senats. Wir bringen eine wichtige Botschaft für den Stamm der Haeduer.“
Trocillus? Diviciacos suchte in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung, und wie üblich fand er sie. Trocillus, Sohn des Caburus, vom Stamm der Helvier in der römischen Provinz. Gemeinsam mit seinem Vater vertritt er die Helvier im Magistrat. Er senkte den Kopf. „Esos schütze Euch auf Euren Wegen“, sagte er. „Wenn es sich um eine wichtige Nachricht für unseren Stamm handelt, so sollte sie dem Rat der Sippen vorgetragen werden.“ Ist auch eine sehr schöne Redewendung
Wieder beugte sich Flaccus zu seinem Übersetzer und redete ruhig auf ihn ein. Diviciacos beobachtete die beiden genau und wurde auf einmal von einer unguten Vorahnung beschlichen; er spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten.
„Wir werden zum Rat sprechen, o Diviciacos“, sagte Trocillus. „Doch es gibt eine weitere Botschaft, die nur für Eure Ohren bestimmt ist. Daher kamen wir ohne Gefolge, um Euchallein zu sprechen.“
Der Mann hatte eine lauernde Art, die Diviciacos in keiner Weise gefiel. Sein Mund war auf einmal trocken.
„Ich bin auf dem Weg nach Bibracte, um Gericht zu halten“, sagte er. „Ihr müsst verstehen, dass meine Pflichten keinen Aufschub dulden.“
„So haltet Gericht“, erwiderte Trocillus; offenbar vertraute Flaccus seinem Übersetzer und ließ ihm weitgehend freie Hand. „Wir werden auf Euch warten.“
Diviciacos war froh, die Römer zunächst vertröstet zu haben, doch ihm war, als verfolge ihn der Blick des blonden Übersetzers bis zu den Mauern Bibractes.

Es war kühl und dunkel im Nemeton, dem heiligen Eichenhain auf der Kuppe des Neunquell. Düster blickten die Götter zwischen den knorrigen Bäumen hindurch, als beobachteten sie drohend jede kleine Handlung der Druiden am Opferschacht, stets bereit, ihren Zorn über die Sterblichen zu bringen. Jeder unter den Haeduern wusste eine Geschichte über diesen Ort zu erzählen, eine beunruhigender als die andere. Es hieß, es lebten dort keine Vögel und Tiere, lediglich die Hüter des Haines und die heiligen Schlangen in den Blätterkronen würden von den Unsterblichen geduldet. Das Laub der alten Bäume zittere unaufhörlich, sagten andere, auch wenn kein Wind blies, und man könne das Stöhnen der Erde und die Todesschreie der ungezählten Opfer hören, deren Blut sich über die Stämme der Eichen ergossen hatte. Viele schauderte es beim bloßen Gedanken an diesen Ort, an dem ewiger Schatten herrschte, und keiner von ihnen hätte jemals gewagt, ihn zu betreten. Diviciacos wusste nicht, wie viel Wahrheit in diesen Legenden lag. Wenn er zwischen den alten Bäumen wandelte, konnte er die Gegenwart der Götter spüren, doch er empfand sie nicht als bedrohlich – im Gegenteil, der heilige Hain übte stets eine beruhigende, erfrischende Wirkung auf ihn aus. Er warf einen Blick zu den Hütern; jeder der beiden erfahrenen Priester hielt einen Falken auf dem Unterarm.
Diviciacos schickte ein letztes stilles Gebet zu den Göttern und trat aus dem Hain hervor. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem von hohen Bäumen und einer Palisade gesäumten Platz versammelt, wo die Barden und Druiden Recht sprachen und der Rat der Sippen zusammentrat, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Die beiden Hüter verharrten am Rande des Hains, während der Druide den flachen Felsen erklomm, den die Haeduer den Stein der Worte nannten. Er betrachtete die Wartenden; es waren größtenteils ärmere Gemeinfreie, Handwerker und Bauern, die den Schiedsspruch der Weisen suchten, jene, die gerade noch so viel hatten, dass es nicht zum Aufgeben reichte. Ihre Kleider waren einfach, und wenn auch die einen nach gallischem Brauch in Hosen, die anderen nach römischer Mode in Tunika erschienen waren, so glichen sich ihre Gewänder doch auf merkwürdige Art und Weise, denn die Farben der abgewetzten Stoffe waren längst verblichen und verschmolzen zu einer einförmigen Masse. Unruhig, unter gedämpftem Gemurmel, traten sie von einem Fuß auf den anderen und warfen scheue Blicke in seine Richtung. Als hätten sie sich bereits mit dem Unvermeidlichen abgefunden und kämpften nur noch aus Gewohnheit weiter, kam es ihm in den Sinn. Und dies sind nicht einmal die Ärmsten. Gegen solches Elend sind selbst die Götter machtlos. Er schlug viermal mit dem Stab auf den Boden, um sich Gehör zu verschaffen.
„Esos schütze euch auf euren Wegen“, rief er laut. „Ihr, die gekommen seid, um Recht zu erfahren, hört dies: Ich, Diviciacos, Sohn des Segomo, Erster Druide der Haeduer, Träger des Eichenstabes und Mitglied des Hohen Rates des Nemeton, kenne die Verse der Gerechtigkeit und die Zeichen des Schicksals. Wer gegen das Gesetz des Stammes verstößt, erzürnt die Götter und soll dafür bestraft werden, auf dass ihr Zorn nicht seine Stammesbrüder treffe.“ Prüfend ließ er seinen Blick über die Menge gleiten; die Menschen sahen mit ernsten Mienen zu ihm auf. „So legt nun die Kränze nieder zu Ehren Esos‘ des Allwissenden, der den Menschen das Wort brachte und der seine Hand über die Sippen der Haeduer hält.“
Viele hatten aus Zweigen geflochtene Kränze mitgebracht, welche sie nun einer nach dem anderen zu Füßen der Hüter ablegten, die ruhig am Rande des Hains warteten. Die beiden Priester packten die Falken mit einer schnellen Bewegung im Nacken; Diviciacos war der Vorgang so vertraut wie sein tägliches Bad in den Quellen, denn er hatte dies viele Male selbst getan: Er sah, wie die Vögel sich hilflos zu wehren versuchten, konnte förmlich spüren, wie ihr Gefieder unter panischen Atemzügen bebte und das kleine Herz wild klopfte. Rasch zogen die Hüter goldene, sichelförmige Messer vom Gürtel und ließen die scharfen Klingen über die Kehlen der Falken gleiten, nur so tief, dass das Blut in sanften, gleichmäßigen Schüben herausquoll. Ein Stöhnen ging durch die Menge; viele bewegten die Lippen im Gebet. Die Priester knieten nieder und benetzten achtsam jeden der Kränze mit dem Blut der Falken, während die Geister der Vögel auf ihre Reise durch den Schleier gingen und die Körper in den Händen der Druiden erschlafften.
„Belenos, Allsehender, der du jede Unwahrheit erkennst!“, rief Diviciacos. „Esos, Gütiger, dessen Samen unser Stamm entsprungen ist! Lasst meinen Geist klar sein, auf dass ich Euren Willen zu erkennen und weise zu entscheiden vermag. Ich, Diviciacos, Sohn des Segomo, Sohn des Cerdicis, gelobe bei den Göttern und den Ahnen, jeden zu beurteilen, wie es seinen Taten und seinem Stand gemäß ist.“
Natürlich wusste er bereits, welche Streitfälle zur Sprache kommen würden. Es kostete ihn keine Mühe, sich die Namen aller Beteiligten zu merken; niemals musste er etwas ein zweites Mal hören, um es sich einzuprägen. Er kannte die Namen unzähliger Tiere und Pflanzen ebenso wie die Legenden der Stämme und manch ferner Völker; er wusste vom Lauf der Gestirne und ihrer Bedeutung für das Schicksal der Menschen; er konnte Krankheiten heilen und Wunden verbinden und dafür sorgen, dass eine Kuh fruchtbar wurde. Vor allem aber waren die unzähligen Verse der Zwölf Mysterien tief in sein Gedächtnis eingebrannt, so tief, dass es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und seinem eigenen Geist gab.
Er hieß jene vortreten, die etwas vorzubringen hatten. Das Gesetz gebot, dass die Sippe, deren Ehre den höchsten Preis hatte, ihr Anliegen zuerst schildern durfte, ein Brauch, der bereits häufig zu Streit im Vorfeld eines Gerichts geführt hatte, doch in diesem Fall gab es keinen Zweifel: Der Ranghöchste war Biracos, ein reicher Landbesitzer und Veteran einiger Schlachten, der zur Gefolgschaft des Dumnorix zählte. Seine Sippe gehörte zwar nicht zu den edelsten, doch stand ihm immerhin ein Sitz an der Ratstafel zu, und so gebot der Brauch, dass sein Anliegen Vorrang hatte. Wie es sich für einen Mann seines Standes gehörte, war Biracos mit Gefolge und einigen Verwandten erschienen, alle hochgewachsen und blond; er selbst mochte vierzig Winter zählen und stand in lässiger Haltung in ihrer Mitte. Als Anhänger des Dumnorix war er naturgemäß römerfeindlich gesinnt und trug daher nach gallischer Mode eine hellrot karierte Hose, ein ebensolches, ärmelloses Wams und einen gebleichten Schnurrbart; um seinen Hals lag ein schmaler, goldener Torques.
„Biracos, Sohn des Vindios“, rief Diviciacos laut. „Ihr seid gekommen, um die Verse des Rechts zu hören, die nichts anderes sind als der Wille der unsterblichen Götter. Wer wird für Euch sprechen?“
Die Mundwinkel des Kriegers kräuselten sich unter dem Schnurrbart leicht nach oben und er deutete eine Verbeugung an. „Eluskú, mein ältester Sohn, der im Gefolge des Eporedorix reitet, o Diviciacos“, verkündete er mit raspelnder Stimme.
Es war offensichtlich, dass der Mann die Ehre seiner Sippe herausstellen wollte, um ein günstigeres Urteil zu erzielen. Eporedorix, der Reiterkönig, war der Anführer der vielköpfigen Truppe, die Dumnorix sich hielt und mit eigenem Gold entlohnte und verpflegte, sodass sie sich ganz dem Kampf hingeben konnte. Er entstammte einer der edelsten Sippen, und es bedeutete eine hohe Ehre, in sein persönliches Gefolge aufgenommen zu werden. Eluskú, Sohn des Biracos, musste ein begnadeter Reiter sein.
Ob Ihr ein ebenso guter Redner seid?, dachte Diviciacos stirnrunzelnd. Er musterte den jungen Mann, der neben seinem Vater stand, die hellblonden Haare mit geflochtenen Zöpfen zusammengebunden, und hatte seine Zweifel. Ich würde bei allen Eichen schwören, dass Ihr noch keine zwanzig Winter gesehen habt.
Ist das nicht ein bisschen viel Beschreibung für zwei so unsympathische Männer? Ich finde die haben so viel Aufmerksamkeit in einem Prolog gar nicht verdient. Besonders weil der jüngere von ihnen sich ja auch noch gleich selbst profilieren wird. Ist aber vielleicht auch nur meine Meinung.
„So sei es“, sagte er ruhig. „Bringt also Euer Anliegen vor, Eluskú, Sohn des Biracos.“
Der junge Krieger trat vor und warf den Kopf in den Nacken. „Ich bin Eluskú, Sohn des Biracos!“, rief er. „Bei Magetobriga erschlug ich acht Feinde, darunter drei Germanen. Ich reite in der Schar des Eporedorix, und den will ich sehen, der schneller und besser reitet als ich.“ Voller Eifer sah er in die Runde. „Ich spreche vor dem heiligen Hain der Götter für meine Sippe und meinen Vater Biracos, Sohn des Vindios, dem Unrecht geschehen ist. Unrecht durch jenen dort, der sich Licnos nennt!“ Abrupt wandte er sich um und deutete auf einen untersetzten Mann von etwa dreißig Wintern, der nervös seinen Schnurrbart zwirbelte und rasch den Blick senkte, als sich ihm die Augen des Druiden und der versammelten Menge zuwandten.
„Sprecht weiter. Welche Art von Unrecht?“
„Seht ihn Euch an!“, sagte Eluskú abfällig. „Dieser Mann ist Bauer und Hirte. Er besitzt ein wenig Land und einige Schweine und Rinder. Seit vielen Jahren erhält er Schutz von meiner Väter Sippe, ohne den die seine verloren wäre. Mein Vater war sogar so gütig, ihm den besten Bullen aus seiner eigenen Zucht zu leihen, auf dass seine Herde gedeihe.“
Es verlangte Diviciacos danach, den arroganten jungen Krieger zurechtzuweisen, jedoch verbarg er seine Gefühle; es war für ihn nicht mehr als Gewohnheit, sich nichts anmerken zu lassen. „Wie hoch sind die Abgaben, die seine Sippe der Euren für ihren Schutz zahlt?“
„Geradezu frevlerisch gering, o Diviciacos. Jeden Mond zur Rückkehr der Nacht ein Sechst seines Weizens und seiner Milch, und zum Samon, wie es sich gehört, ein Prachtschwein.“
„Ist er Euch etwas schuldig geblieben?“
Eluskú starrte ihn an, als sei er nicht recht bei Trost. „Bei den Neun Quellen, seht ihn Euch an! Er ist fett! Er lässt sich gehen und schmäht auf diese Weise die Götter! Er bringt Schande über die Sippe meiner Väter, und wie sollte er in diesem Zustand anständig arbeiten? Wir verlangen, dass sein Bauchumfang abgemessen wird, und zwar mit roten Linsen, so wie es der Ehre unserer Sippe entspricht! Für jede Linse soll er ein Kalb geben, um den Schaden zu ersetzen!“
Das waren die Worte, die zu sagen man ihm eingebläut hat, dachte Diviciacos. Welch törichter Fehler, einen solch einfältigen Jungen zum Sprecher der Sippe zu erklären, nur weil er eine ehrenhafte Stellung einnimmt. Trotz aller Selbstbeherrschung, die er sich in jahrelanger, harter Übung angeeignet hatte, fiel es ihm schwer, ruhig zu bleiben. Zwar gab es im Gesetz des Stammes die Möglichkeit, Fettleibigkeit zu bestrafen, aber dies war nichts anderes als ein dreister Versuch, einen hilflosen Mann zu enteignen und zu versklaven. Licnos, der Bauer, war sicherlich außerstande, eine solche Strafe zu begleichen – rote Linsen waren klein. Er würde Teile seines kärglichen Besitzes verpfänden müssen und bald immer tiefer in der Schuld der reichen Sippe stehen, schließlich weder Abgaben noch Schulden mehr aufbringen können und letzten Endes seinen Torques und damit seine Freiheit verlieren. Diviciacos hatte häufig machtlos zugesehen, wie solcherlei geschah. Er atmete tief durch.
Am heutigen Tag würde er die Verse gemäß der Gerechtigkeit des Cernunnos auslegen.
„Ihr seid gut beraten worden, Eluskú, Sohn des Biracos“, sagte er bedächtig. „Nicht viele kennen die Verse des Rechts so genau, dass sie ein solches Vergehen mit einer angemessenen Sühne belegen können.“
Der stämmige Bauer stieß einen spitzen Schrei aus und fiel auf die Knie. „Ich flehe Euch an, o Diviciacos …“
„Schweigt!“, fuhr ihn der Druide an „Es ist nicht gut, zwei Geschichten gleichzeitig zu hören.Die Aussage gefällt mir. Er sah Eluskú in die Augen; um den Mund des jungen Kriegers spielte ein Lächeln.
„Er hat Euch also Käse, Milch und Schwein geliefert?“, fragte Diviciacos.
„Das wohl“, gab Eluskú zögernd zu. Das Lächeln verschwand.
„Dann nehme ich an, Eure Sippe wurde in ihrer Ehre verletzt, indem man Euch seinetwegen beleidigte und verspottete? Es fiel Euch, seit er so fett ist, immer schwerer, eure Töchter zu verheiraten?“
Der Krieger zuckte kurz und setzte zu einer zornigen Entgegnung an, beherrschte sich jedoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er stellt durch seine schiere Gestalt eine Beleidigung unserer Ehre dar.“
„Erlaubt mir eine Frage, junger Reiter“, fuhr Diviciacos fort. „Welchen Bauchumfang, glaubt Ihr, sollte ein Mann haben?“
Eluskú legte die Stirn in Falten. „Was? Ich… nun, er sollte ein Ebenbild der Götter sein, denen er entstammt!“, rief er verärgert.
„So wie Ihr?“
„So wie ich oder jeder andere hier!“
Diviciacos nickte. „Dann wird Euch sicherlich klar sein, dass ich nicht seinen gesamten Bauchumfang messen kann, da Ihr ihm schwerlich vorwerfen wollt, überhaupt einen Bauch zu haben, nicht wahr? Entscheidend ist vielmehr der Unterschied zwischen seinem und einem Leib wie… nun ja, dem Euren, Eluskú.“
„Dem meinen?“
„Ihr begreift beinahe so schnell, wie Ihr reitet“, sagte Diviciacos. „Wer könnte besser mit seinem Körper als Bild der Götter dienen als ein Reiter des Eporedorix?“ Er ließ seine Worte ihre Wirkung im Geist des verblüfften Kriegers tun und wandte sich dem Bauern zu, der immer noch auf den Knien lag. „Nun zu Euch – Licnos, Sohn des Vectitos, nicht wahr? Steht auf.“
Der Mann kam unsicherauf die Beine und starrte ihn aus seinem feisten, blassen Gesicht heraus an, die Augen weit geöffnet und die Lippen fest aufeinander gepresst.
„Wie kam es, dass Ihr eine solche Leibesfülle annahmt? Warum esst Ihr nicht weniger und übt Euren Körper? Wisst Ihr nicht, dass der Geist leidet, wenn der Leib schwach ist?“
„Ich… weiß es, o Diviciacos“, stammelte Licnos. „Doch die Götter entschieden, mir einen Gaumen zu geben, der Käse liebt, und einen Körper, durch den der Käse gleich zu den Hüften wandert.“
Die Umstehenden kicherten, und auch Diviciacos unterdrückte ein Schmunzeln. Er bemerkte, dass sich Unruhe unter Biracos‘ Gefolge verbreitete; einige murrten leise. Eluskús Gesicht nahm eine leicht rötliche Färbung an. „Was erlaubt sich diese Kreatur?“, rief er laut. „Ist es …“
„Schweigt!“ Diviciacos stieß den Stab auf den Boden, um für Ruhe zu sorgen. „Wie ich schon sagte, es ist nicht gut, zwei Geschichten gleichzeitig zu hören.“ Er wartete einen Moment, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Euer Vorschlag, Eluskú, scheint mir jedoch gerecht: Wir messen Licnos‘ Bauch, und den Euren, Sohn des Biracos. Den Unterschied werden wir als Maß für die Strafe heranziehen, den Licnos zu leisten hat. Ist eine der Sippen mit diesem Vorgehen nicht zufrieden, steht es ihr frei, den Rat der Sippen anzurufen und ein Urteil des Vergobret zu fordern.“ Die Männer schwiegen und Diviciacos nickte befriedigt. „Entblößt Euch.“
Der junge Krieger zögerte kurz und warf seinem Vater einen schnellen Blick zu. Dann streckte er die Brust heraus und winkte lässig einen Waffenträger heran, der ihm half, den gehärteten Lederpanzer und den Schwertgurt abzunehmen. Er zeigt seinen Körper gern, dachte Diviciacos grimmig. Es schien ihm, als lege Eluskú mit seiner Kleidung auch die Unsicherheit ab, die ihn kurz befallen hatte. Nachdem seine Schultern entblößt waren, zog er mit einer ruckartigen Bewegung die hochgeschnürte Hose auf die Hüften herunter und sah mit hochgerecktem Kinn in die Menge. Diviciacos stellte befriedigt fest, dass er einen beeindruckenden Brustkorb und beachtliche Muskeln hatte. Auch Licnos, der Bauer, hatte sein Wams abgelegt und nestelte an seinem Hosenbund; sein bleicher, aufgequollener Wanst bereitete ihm sichtlich Unbehagen.
Diviciacos wandte sich einem der Hüter zu. „Es soll Eure Aufgabe sein, den Umfang der Leiber dieser beiden zu messen, Alisanos“, sagte er ruhig. „Messt sorgfältig und genau, das Band gerade über dem Nabel.“
Der Angesprochene, ein erfahrener Druide von mehr als vierzig Wintern, trat zunächst zu dem Hirten und legte dem vor Angst schlotternden Mann ein Lederband um den Wanst. Er machte einen Knoten hinein, um den Umfang zu markieren, und wiederholte die Prozedur bei Eluskú, der mit vor der Brust verschränkten Armen wartete. Diviciacos beobachtete Biracos und seine Sippe; erst jetzt schien ihnen aufzugehen, dass der Druide sie getäuscht hatte: da Eluskú den dicklichen Hirten beinahe um Haupteslänge überragte und von kräftiger Statur war, lagen die beiden Knoten erstaunlich nah beieinander, als der Hüter das Band in die Höhe hielt. Ein Schrei der Empörung ertönte und auch Eluskú gab einen erstaunten Laut von sich. Die Menge tuschelte gespannt.
Diviciacos stieß den Stab auf den Fels bis die Rufe verstummten. „Bleibt noch, den Abstand zwischen den beiden Knoten zu messen“, fuhr er unbeirrt fort. „Wie Ihr, Eluskú, vorhin selbst sagtet, ist Eurer Sippe weder Schaden entstanden noch wurde Eure Ehre verletzt, wohl aber, darin habt Ihr Recht, das Gesetz des Stammes. Die Verse schreiben für einen solchen Fall vor, die Strafe mit gewöhnlichen Bohnen zu bemessen. Sie soll in kleinem Kupfer beglichen und am Brunnen der Kraniche dem Esos dargebracht werden.“ Er tat weitere vier Schläge mit dem Stab, um sein Urteil zu bekräftigen, und stieg langsam von dem Felsen hinunter. „Alisanos, Ihr werdet den Abstand gewissenhaft abmessen, Bohne für Bohne. Ihr, Licnos, Sohn des Vectitos, nehmt das Lederband mit Euch. Zur Trinoux Samonis werden wir Euch erneut vermessen und sehen, ob sich Eure Statur gebessert hat. Und wagt nicht, die Knoten zu versetzen – ich würde es merken, und wenn nicht ich, so die Unsterblichen.“ Abrupt wandte er sich Biracos zu. Die Kiefer des Züchters mahlten vor Wut und sein Schnurrbart zitterte, doch er wagte nicht, dem Urteil des großen Druiden zu widersprechen. Diviciacos senkte die Stimme, sodass nur die Umstehenden ihn verstehen konnten. „Noch etwas, Biracos“, raunte er. „Wenn Ihr noch einmal mit einer solchen Lächerlichkeit meine Zeit verschwendet, werde ich für jeden Zwölft einer Stunde ein Kalb von Euch fordern.“

Er entschied an diesem Nachmittag noch in vielen weiteren Fällen, und Belenos‘ Auge stand tief, als die Menge sich zu zerstreuen begann. Erschöpft wandte sich Diviciacos dem Nemeton zu, um den Göttern im kühlen Dunkel des Hains seinen Dank auszusprechen. Er verabschiedete sich von den Hütern und machte sich auf den Heimweg, vorbei an den von länglichen Mauern eingepferchten Häuschen, in denen die Pferde und Dienerschaft der Edlen untergebracht wurden. Die Arbeit in den Werkstätten der Hammerschmiede, Gießer und Metallarbeiter zu seiner Linken war bereits zum Erliegen gekommen.
Bibracte machte einen friedlichen Eindruck in der abendlichen Sonne, doch Diviciacos fühlte sich, als trage er einen Felsblock von der Größe des Steins der Worte um den Hals und reite gegen einen mächtigen Sturm. Er vermied den Blick auf den vor ihm liegenden steinigen Hügel, den die Haeduer schlicht duron, nannten, Festung, und der auch jetzt noch, beinahe ein Jahr nach Ende des Krieges, mit den Zelten der Flüchtlinge aus den umliegenden Siedlungen und Gehöften übersät war, den kümmerlichen Behausungen jener, deren Atem schon seit vielen Nächten nicht mehr nach Cervisia gerochen hatte. Rasch wusch er Hände und Gesicht an der Quelle der Tränen und lenkte Prito auf direktem Wege zum inneren Tor, doch erst als er auch den äußeren Wall passiert hatte, begann die Anspannung des Gerichts von ihm abzufallen. Er konzentrierte seine Sinne auf die Natur um ihn herum, ließ den Gedanken an all das Elend und die Not der Menschen freien Lauf, bis sie sich langsam zerstreuten, sein Geist sich leerte und mit neuen Bildern, Klängen und Gerüchen füllte, Eindrücken, die nichts bedeuteten, sondern schlicht waren.

Die Römer warteten neben dem Bach, an dem er sie verlassen hatte. Sie erhoben sich, als er sich näherte, und Trocillus trat ihm entgegen.
„Es ist gut, dass Ihr gekommen seid, o Diviciacos. Die Freundschaft zwischen Rom und den Haeduern ist beiderseits ein hohes Gut, das wir pflegen wollen wie unsere eigenen Kinder, nicht wahr?“
Droht er mir?, fragte sich Diviciacos, oder verspottet er mich nur? „So sprecht“, sagte er heiser. „Welche Kunde sendet der Senat den Haeduern, die zu geheim für die Ohren des Vergobret ist?“ Er wusste, dass er schon mit dieser Frage das Gesetz des Stammes verletzte, doch etwas im Verhalten der drei Gesandten veranlasste ihn, sie anzuhören. Nach kurzem Wortwechsel mit Flaccus ergriff Trocillus erneut das Wort.
„Genau gesagt, stammt unsere Botschaft nicht vom Senat. Sie stammt vom künftigen Statthalter der gallischen Provinzen. Ihr werdet von ihm gehört haben; sein Name ist Gaius Iulius Caesar.“
Sie sprachen eine Weile, und als Diviciacos einige Zeit später seinen Heimweg fortsetzte, war sein Herz von Angst und Hoffnung gleichermaßen erfüllt. Die kommenden Nächte und Winter würden für die Haeduer nicht einfacher werden als die vergangenen; doch vielleicht hatten die Götter sich noch nicht gänzlich von ihnen gewandt.


Das Ende macht neugierig auf mehr.
Aber ich finde den Prolog schon auch stellenweise ein bisschen zäh. Das geht bestimmt noch kürzer.
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Zeitenträumer
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Beitrag19.11.2014 16:18

von Zeitenträumer
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Hallo Sue, herzlichen Dank schon mal für deine Anregungen! Du hast sicher Recht, der Text muss noch ordentlich gekürzt werden; leider komm ich grade überhaupt nicht dazu. Ich hoffe, mich am Wochenende dransetzen zu können, dann gehe ich auch nochmal auf die Einzelheiten ein, die du erwähnt hast.
Bis dann,
David
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Sue Rovia
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag20.11.2014 17:11

von Sue Rovia
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Alles klar Wink Ich freue mich  auf einen überarbeiteten und gekürzten Prolog. Bis dann,
Susie
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czil
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Beitrag23.11.2014 01:29

von czil
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Hallo Zeitenträumer.
Dein Text liest sich sehr gut. Ich finde ihn nicht zu lang oder langatmig. Würde mich daher mit dem Kürzen durchaus ein wenig zurückhalten.
Was die beiden, wie Sue sie genannt hat, "unsympathischen" Männer angeht - brauchst du die später noch? Ich denke ja, denn sonst hättest du die Episode so gar nicht so ausführlich beschrieben.
Dabei fiel mir auf, dass du z.B. Eluskú vorher beschreibst, danach aber das gleiche durch die Handlungen der Personen viel besser machst.
Vielleicht gelingt dir das bei seinem Vater/Auftraggeber auch noch?
hier hast du gleich eine Redundanz mit der Rangfolge, das du evtl. so lösen könntest.

doch in diesem Fall gab es keinen Zweifel: Biracos, um seinen Hals trug er als Zeichen seiner Würde ein schmales, goldener Torques, Anliegen hatte Vorrang . Seine Sippe gehörte zwar nicht zu den edelsten, doch stand ihm immerhin ein Sitz an der Ratstafel zu. Wie es sich für einen Mann seines Standes gehörte, war er mit seinem Gefolge und einigen Verwandten erschienen, alle hochgewachsen und blond; er selbst mochte vierzig Winter [dumme Frage: war das nicht schon ein alter Mann in der damaligen Zeit?] zählen, reicher Landbesitzer und Veteran einiger Schlachten, stand in lässiger Haltung in ihrer Mitte. Wie alle aus dem Gefolge des Dumnorix war er [naturgemäß passt nicht so recht finde ich] römerfeindlich gesinnt und trug daher nach gallischer Mode karierte Hosen und ein ärmelloses Wams in einem hellen Rot sowie einen gebleichten Schnurrbart.

Was mich vielleicht ein wenig irritiert, das sind die vielen Namen, die in einem historischen Umfeld auftauchen. Manche kennt man (beim Belenus!), viele sind aber weniger geläufig und deshalb fehlt mir manchmal ein klein wenig Erklärung. (drum hab ich mal vorsichtig den Torques erklärt, wie ich das machen würde. So ist es nämlich egal, was das letztlich tatsächlich ist. Man erkennt, es ist was wertvolles das nur Herrscher tragen…) Lass bitte beim Kürzen die Erklärungen stehen, die zum Verständnis wichtig sind!

Ja, und ich bin gespannt, wie du die beiden Teile, die ich jetzt von der Geschichte kenne, verknüpfen wirst. Noch ist das ja erst ein Prolog, oder?


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Zeitenträumer
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Beitrag24.11.2014 18:25

von Zeitenträumer
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Hallo Czil,

danke auch dir für deinen Kommentar und das Lob. Ich habe die Einzelheiten, die Ihr bemängelt habt, so gut ich konnte verändert. Jetzt brüte ich seit einer Weile über dem Text und will kürzen, habe auch ein bisschen gestrichen, aber irgendwie will es mir nicht so recht gelingen. Ich glaube, ich leide an einer bekannten Autorenkrankheit: ich halte (fast) alles an dem Text für wichtig. Embarassed

Daher werde ich jetzt nochmal eine verbesserte, minimal gekürzte und umgestellte Version posten und bitte Euch um Eure Meinung als Außenstehende: Was findet Ihr überflüssig? Was kann weg? Was ist eher langweilig oder zäh, wie Sue sagte?

Also, los gehts. Ich danke Euch im Voraus.

Aedrini,  13. Jahr, 25. Zyklus

Die Augen des Gehörnten ruhten auf ihm, unergründlich, ewig. Der Druide betrachtete das steinerne Abbild des Gottes, halb Mensch, halb Hirsch, der mit gekreuzten Beinen dasaß, die Widderkopfschlange um den Hals gelegt.
Dich, Cernunnos, dachte er. Insgeheim fürchten sie Dich am meisten. Sie alle. Er lächelte. Ungezählt und vielgestaltig waren die Unsterblichen, doch keiner, so glaubte er, flößte den Menschen so viel Respekt ein wie der Gott mit dem Hirschgeweih: Cernunnos, der Gehörnte, Herrscher über die Anderen Welten.
Der Druide schloss die Augen. „Ich bin der ewige Strom des Flusses“, murmelte er in einer alten Sprache, die nur wenige verstanden. „Ich bin das Allessehende Auge. Ich bin die Waage der Wahrheit. Ich bin die Kraft der Eiche. Sieh durch meine Augen, o Cernunnos, sprich mit meiner Stimme, urteile durch meinen Geist, strafe, wenn es sein muss, durch meine Hand. Und es wird besser sein und nicht schlechter.“
Wie alle Barden und Druiden kannte er die Verse des Rechts, kannte sie besser als die meisten, doch Recht in dieser Welt war etwas anderes als die Gerechtigkeit des Gehörnten, die ewigen Gesetze des Alls und der Zeit. Jeder würde am Ende seines Lebens durch den Schleier in die Anderen Welten gehen, und dort entschied allein Cernunnos über das Dasein und die Wiederkehr eines jeden. Das ist es, was sie so sehr an Dir fürchten. Die Gerechtigkeit.
 Der Druide seufzte. Er hatte seine Pflichten für einen Moment vergessen können, doch die Schatten verrieten ihm, dass es beinahe Mittag war. Wenn Belenos‘ Auge am höchsten stand, würden sich die Sippen der Haeduer auf dem Berg Neunquell versammeln und von ihm erwarten, dass er Recht sprach – ein Recht, das keinem genug war, hatten doch alle zu wenig. Er kniete vor der Statue nieder, um eine letzte Bitte um Weisheit an den Gehörnten zu richten, der ihn gleichgültig anzusehen schien, als wolle er sagen: Ich sehe, die Menschen leiden, aber was soll ich tun? Sie bestimmen selbst über ihr kleines Leben in dieser Welt. Mich kümmern sie nicht, bis sie wieder durch den Schleier gehen.
Der Druide legte die Linke auf seinen Torques, den goldenen Ring um seinen Hals, und senkte den Kopf; mit der Rechten formte er eine Schale und führte sie langsam aufwärts, bis das Handgelenk die Stirn berührte: das Zeichen der Weisheit. Dann erhob er sich, strich sein Gewand glatt und verließ das Heiligtum.
Kinderstimmen drangen an sein Ohr – Dagomaros und die Kleineren, die wieder und wieder den Krieg der Haeduer gegen die Sequaner nachspielten, allerdings mit günstigerem Ausgang als in der Wirklichkeit; denn die Sequaner hatten mit Versprechungen von Land und Gold den Suebenkönig Ariovist zu Hilfe gerufen, dessen Krieger die Felder der Haeduer verwüstet und ihre Rinder gestohlen hatten. Vor zwei Jahresläufen war die Lage der Haeduer immer verzweifelter geworden; viele waren gefallen, und seither herrschten Hunger und Krankheit unter den Sippen. In jenem Jahr hatte der Druide das Amt des Vergobret innegehabt und war nach Rom gereist, um den Senat um Hilfe zu bitten. Er war Gast des Marcus Tullius Cicero gewesen, eines der edelsten Männer Roms, und überaus ehrenhaft behandelt worden, doch anstelle schlagkräftiger Legionen hatten ihm die Senatoren vage Versprechungen in die Heimat mitgegeben und nichts war geschehen. Nach diesem Misserfolg hatte er das Amt des Vergobret niedergelegt, auf Druck jener Sippen, die seine enge Verbindung zu Rom immer mit Argwohn betrachtet hatten; das Amt war auf seinen Bruder Dumnorix übergegangen, der diesen Argwohn teilte und der aufgrund seines Reichtums und seiner Freigebigkeit überaus beliebt im Volk war. Auch er war jedoch machtlos gewesen: Im letzten Jahr hatte Ariovist die Haeduer bei Magetobriga vernichtend geschlagen, und spätestens seit dieser Niederlage hatte sich der Geist von Armut und Elend fest unter den Sippen eingenistet und wurde von Tag zu Tag mächtiger.
Entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben betrat der Druide das Wohnhaus der Sippe nicht. Er hatte nach Villús Fortschritten sehen wollen, doch in letzter Zeit war ihm immer häufiger danach, allein zu sein; gerade die Gegenwart Villús, der insgeheim stets sein Lieblingssohn gewesen und nun, wie er es sich erhofft hatte, sein Schüler geworden war, bedrückte ihn auf unerklärliche Art und Weise. Er kehrte dem Eingang den Rücken und ging um das Haus herum zu den Stallungen. Tala, Villús Lieblingspferd, tänzelte nervös und schnaubte, als er näherkam; der Druide tätschelte ihr abwesend die Nüstern und schob sich an ihr vorbei, um Prito zu satteln. Welch seltsame Schwermut mir der heutige Tag gebracht hat, dachte er. Oder ist es nicht vielmehr seltsam, dass ich nicht häufiger davon ergriffen werde? Das Korn und das wenige Gold, da er unter den Gemeinen des Stammes verteilte, war nichts im Vergleich zum Leid der Menschen. Dumnorix gab zwar umso mehr, war er doch ungleich reicher; der Druide wusste jedoch, dass sein Bruder einzig und allein seinen Einfluss zu stärken trachtete und dass seine Gaben die Not in Wahrheit eher mehrten denn minderten, denn Dumnorix vergaß niemals eine Schuld. Oft bereute er, seinem Bruder den Weg an die Spitze der Macht geebnet zu haben, doch wer konnte den Stamm in diesen Zeiten besser führen als er?
Abermals seufzend schwang er sich auf Pritos Rücken. „Komm, alter Freund“, sagte er und klopfte den Hals des Rappen. „Was immer der Lauf der Zeit am heutigen Tag bringen mag - wir werden es nur erfahren, wenn wir dabei sind.“
Das Gut der Sippe lag kaum eine Stunde zu Pferd von Bibracte entfernt. Der Druide hing seinen Gedanken nach, und so dauerte es eine Weile, bis er sich der drei Reiter bewusst wurde, die nebeneinander auf dem Weg verharrten als warteten sie auf jemanden. Ihm blieb wenig Zeit, sie einzuschätzen, doch es handelte sich offensichtlich um Römer, von kleinerer Statur als die Kelten, kurzhaarig und rasiert und in edle, weiße Togen gekleidet. Er kniff die Augen zusammen und erkannte zu seiner Überraschung den Mittleren der drei, einen etwa fünfzig Winter zählenden Mann mit roten Wangen und leichtem Bauchansatz: Lucius Valerius Flaccus. Der Druide hatte ihn einige Male in Narbo getroffen, als er mit den römischen Machthabern verhandelt und Kontakte geknüpft hatte; die Valerii Flacci waren eine der einflussreichsten römischen Familien in Gallien und Hispania, und auch Lucius hatte verschiedene mächtige Ämter bekleidet. Er galt als kluger Staatsmann, jedoch kannte der Druide auch Gerüchte über eine dunkle Vergangenheit Flaccus‘ in den Ländern des Sonnenaufgangs. Seine Begleiter waren jünger und dem Druiden nicht bekannt; ihm schien, als sei einer der beiden gallischer Herkunft, denn sein Haupt war von dichtem blonden Haar bedeckt, wenn es auch nach römischer Mode frisiert war.
Er brachte Prito zum Stehen und hob die Hand zum Gruß, wie es in Rom Sitte war. Flaccus beugte sich zu dem Blonden hinüber und sagte etwas in römischer Sprache, die der Druide trotz seiner langjährigen Erfahrung mit den Italikern nur bruchstückhaft beherrschte. Der junge Mann grüßte zurück, wobei er den Druiden aus wachen, blauen Augen musterte.
„Seid gegrüßt, Diviciacos, Sohn des Segomo“, rief er auf gallisch. „Möge die Freundschaft zwischen Rom und den Haeduern so lange andauern wie die Zeit. Ich, Gaius Valerius Trocillus, spreche für Lucius Valerius Flaccus, den Gesandten des römischen Senats. Wir bringen eine wichtige Botschaft für den Stamm der Haeduer.“
Trocillus? Diviciacos suchte in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung, und wie üblich fand er sie. Trocillus, Sohn des Caburus, vom Stamm der Helvier in der römischen Provinz. Gemeinsam mit seinem Vater vertritt er die Helvier im Magistrat. Er senkte den Kopf. „Esos schütze Euch auf Euren Wegen“, sagte er. „Wenn es sich um eine wichtige Nachricht für unseren Stamm handelt, so sollte sie dem Rat der Sippen vorgetragen werden.“
Wieder beugte sich Flaccus zu seinem Übersetzer und redete ruhig auf ihn ein. Diviciacos beobachtete die beiden genau und wurde auf einmal von einer unguten Vorahnung beschlichen; er spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten.
„Wir werden zum Rat sprechen, o Diviciacos“, sagte Trocillus. „Doch es gibt eine weitere Botschaft, die nur für Eure Ohren bestimmt ist. Daher kamen wir ohne Gefolge, um Euch allein zu sprechen.“
Der Mann hatte eine lauernde Art, die Diviciacos beunruhigte. Sein Mund war auf einmal trocken.
„Ich bin auf dem Weg nach Bibracte, um Gericht zu halten“, sagte er. „Ihr müsst verstehen, dass meine Pflichten keinen Aufschub dulden.“
„So haltet Gericht“, erwiderte Trocillus; offenbar vertraute Flaccus seinem Übersetzer und ließ ihm weitgehend freie Hand. „Wir werden auf Euch warten.“
Diviciacos war froh, die Römer zunächst vertröstet zu haben, doch ihm war, als verfolge ihn der Blick des blonden Übersetzers bis zu den Mauern Bibractes.

Es war kühl und dunkel im Nemeton, dem heiligen Eichenhain auf der Kuppe des Neunquell. Düster blickten die Götter zwischen den knorrigen Bäumen hindurch, als beobachteten sie jede Handlung der Druiden am Opferschacht, stets bereit, ihren Zorn über die Sterblichen zu bringen. Jedes Kind unter den Haeduern wusste eine Geschichte über diesen Ort zu erzählen, eine beunruhigender als die andere. Es hieß, es lebten dort keine Vögel und Tiere, lediglich die Hüter des Haines und die heiligen Schlangen in den Blätterkronen würden von den Unsterblichen geduldet. Das Laub der alten Bäume zittere unaufhörlich, sagten andere, auch wenn kein Wind wehte, und man könne das Stöhnen der Erde und die Todesschreie der ungezählten Opfer hören, deren Blut sich über die Stämme der Eichen ergossen hatte. Viele schauderte es beim bloßen Gedanken an diesen Ort, an dem ewiger Schatten herrschte, und keiner von ihnen hätte jemals gewagt, ihn zu betreten. Diviciacos wusste nicht, wie viel Wahrheit in diesen Legenden lag. Wenn er zwischen den alten Bäumen wandelte, spürte er die Gegenwart der Götter, doch er empfand sie nicht als bedrohlich – im Gegenteil, der heilige Hain übte stets eine beruhigende, erfrischende Wirkung auf ihn aus. Er warf einen Blick zu den Hütern; jeder der beiden erfahrenen Priester hielt einen Falken auf dem Unterarm.
Diviciacos schickte ein letztes stilles Gebet zu den Göttern und trat aus dem Hain hervor. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem von hohen Kiefern und einer Palisade gesäumten Platz versammelt, auf dem die Barden und Druiden Recht sprachen und der Rat der Sippen zusammentrat, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Die beiden Hüter verharrten am Rande des Hains, während Diviciacos den flachen Felsen erklomm, den die Haeduer den Stein der Worte nannten. Er betrachtete die Wartenden; es waren größtenteils ärmere Gemeinfreie, Handwerker und Bauern, die den Schiedsspruch der Weisen suchten, jene, die gerade noch so viel hatten, dass es nicht zum Aufgeben reichte. Ihre Kleider waren einfach, und wenn auch die einen nach gallischem Brauch in Hosen, die anderen nach römischer Mode in Tunika erschienen waren, so glichen sich ihre Gewänder doch auf merkwürdige Art und Weise; denn die Farben der abgewetzten Stoffe waren längst verblichen und verschmolzen zu einer einförmigen Masse. Unruhig, unter gedämpftem Gemurmel, traten sie von einem Fuß auf den anderen und warfen scheue Blicke in seine Richtung. Als hätten sie sich bereits mit dem Unvermeidlichen abgefunden und kämpften nur noch aus Gewohnheit weiter, kam es ihm in den Sinn. Und dies sind nicht einmal die Ärmsten. Gegen solches Elend sind selbst die Götter machtlos. Er schlug viermal mit dem Stab auf den Boden, um sich Gehör zu verschaffen.
„Esos schütze euch auf euren Wegen“, rief er. „Ihr, die gekommen seid, um Recht zu erfahren, hört dies: Ich, Diviciacos, Sohn des Segomo, Erster Druide der Haeduer, Träger des Eichenstabes und Mitglied des Hohen Rates des Nemeton, kenne die Verse der Gerechtigkeit und die Zeichen des Schicksals. Wer gegen das Gesetz des Stammes verstößt, erzürnt die Götter und soll dafür bestraft werden, auf dass ihr Zorn nicht seine Stammesbrüder treffe.“ Prüfend ließ er seinen Blick über die Menge gleiten; die Menschen sahen mit ernsten Mienen zu ihm auf. „So legt nun die Kränze nieder zu Ehren Esos‘ des Allwissenden, der den Menschen das Wort brachte und der seine Hand über die Sippen der Haeduer hält.“
Viele hatten aus Zweigen geflochtene Kränze mitgebracht, welche sie nun einer nach dem anderen zu Füßen der Hüter ablegten, die ruhig am Rande des Hains warteten. Die beiden Priester packten die Falken mit einer schnellen Bewegung im Nacken; Diviciacos war der Vorgang so vertraut wie sein tägliches Bad in den Quellen, denn er hatte dies viele Male selbst getan: Er sah, wie die Vögel sich hilflos zu wehren versuchten, konnte förmlich spüren, wie ihr Gefieder unter panischen Atemzügen bebte und die kleinen Herzen wild klopften. Rasch zogen die Hüter goldene, sichelförmige Messer vom Gürtel und ließen die Klingen über die Kehlen der Falken gleiten, nur so tief, dass das Blut in sanften, gleichmäßigen Schüben herausquoll. Ein Stöhnen ging durch die Menge; viele bewegten die Lippen im Gebet. Die Priester knieten nieder und benetzten achtsam jeden der Kränze mit dem Blut, während die Geister der Vögel auf ihre Reise durch den Schleier gingen und die Körper in den Händen der Druiden erschlafften.
„Belenos, Allsehender, der du jede Unwahrheit erkennst!“, rief Diviciacos. „Esos, Gütiger, dessen Samen unser Stamm entsprungen ist! Lasst meinen Geist klar sein, auf dass ich Euren Willen zu erkennen und weise zu entscheiden vermag. Ich, Diviciacos, Sohn des Segomo, Sohn des Cerdicis, gelobe bei den Göttern und den Ahnen, jeden zu beurteilen, wie es seinen Taten und seinem Stand gemäß ist.“
 Natürlich wusste er bereits, welche Streitfälle zur Sprache kommen würden. Es kostete ihn keine Mühe, sich die Namen aller Beteiligten zu merken; niemals musste er etwas ein zweites Mal hören, um es sich einzuprägen. Er kannte die Namen unzähliger Tiere und Pflanzen ebenso wie die Legenden der Stämme und manch ferner Völker; er wusste vom Lauf der Gestirne und ihrer Bedeutung für das Schicksal der Menschen; er konnte Krankheiten heilen und Wunden verbinden und dafür sorgen, dass eine Kuh fruchtbar wurde. Vor allem aber waren die unzähligen Verse der Zwölf Mysterien tief in sein Gedächtnis eingebrannt, so tief, dass es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und seinem eigenen Geist gab.
  Er hieß jene vortreten, die etwas vorzubringen hatten. Das Gesetz gebot, dass die Sippe, deren Ehre den höchsten Preis hatte, ihr Anliegen zuerst schildern durfte, ein Brauch, der bereits häufig zu Streit im Vorfeld eines Gerichts geführt hatte. In diesem Fall jedoch gab es keinen Zweifel: Der Ranghöchste war Biracos, ein reicher Landbesitzer und Veteran einiger Schlachten, der zur Gefolgschaft des Dumnorix zählte. Seine Sippe gehörte zwar nicht zu den edelsten, doch stand ihm immerhin ein Sitz an der Ratstafel zu und ein schmaler, goldener Torques lag um seinen Hals.
„Biracos, Sohn des Vindios“, rief Diviciacos laut. „Ihr seid gekommen, um die Verse des Rechts zu hören, die nichts anderes sind als der Wille der unsterblichen Götter. Wer wird für Euch sprechen?“
Wie es sich für einen Mann seines Standes gehörte, war Biracos mit Gefolge und einigen Verwandten erschienen, alle hochgewachsen und blond; er selbst mochte fünfunddreißig Winter zählen und stand in lässiger Haltung in ihrer Mitte. Als Anhänger des Dumnorix war er römerfeindlich gesinnt und trug nach gallischer Mode eine hellrot karierte Hose, ein ärmelloses Wams und einen gebleichten Schnurrbart. Seine Mundwinkel kräuselten sich leicht nach oben und er deutete eine Verbeugung an.
„Eluskú, mein ältester Sohn, der im Gefolge des Eporedorix reitet, o Diviciacos“, verkündete er.
Es war offensichtlich, dass Biracos die Ehre seiner Sippe herausstellen wollte, um ein günstigeres Urteil zu erzielen. Eporedorix, der Reiterkönig, war der Anführer der vielköpfigen Truppe, die Dumnorix sich hielt und mit eigenem Gold entlohnte und verpflegte, sodass sie sich ganz dem Kampf hingeben konnte. Es bedeutete eine hohe Ehre, in sein persönliches Gefolge aufgenommen zu werden. Eluskú, Sohn des Biracos, musste ein begnadeter Reiter sein.
Ob Ihr ein ebenso guter Redner seid?, dachte Diviciacos stirnrunzelnd. Er musterte den jungen Mann, der neben seinem Vater stand, die hellblonden Haare zu Zöpfen geflochten, und hatte seine Zweifel. Ich würde bei allen Eichen schwören, dass Ihr noch keine zwanzig Winter gesehen habt.
„So sei es“, sagte er ruhig. „Bringt also Euer Anliegen vor, Eluskú, Sohn des Biracos.“
Der junge Krieger trat vor und warf den Kopf in den Nacken. „Ich bin Eluskú, Sohn des Biracos!“, rief er. „Bei Magetobriga erschlug ich acht Feinde, darunter drei Germanen. Ich reite in der Schar des Eporedorix, und den will ich sehen, der schneller und besser reitet als ich.“ Voller Eifer sah er in die Runde. „Ich spreche vor dem heiligen Hain der Götter für meine Sippe und meinen Vater Biracos, Sohn des Vindios, dem Unrecht geschehen ist. Unrecht durch jenen dort, der sich Licnos nennt!“ Abrupt wandte er sich um und deutete auf einen untersetzten Mann von etwa dreißig Wintern, der nervös seinen Schnurrbart zwirbelte und rasch den Blick senkte, als sich ihm die Augen des Druiden und der versammelten Menge zuwandten.
„Sprecht weiter. Welche Art von Unrecht?“
„Seht ihn Euch an!“, sagte Eluskú abfällig. „Dieser Mann ist Bauer und Hirte. Er besitzt ein wenig Land und einige Schweine und Rinder. Seit vielen Jahren erhält er Schutz von meiner Väter Sippe, ohne den die seine verloren wäre. Mein Vater war sogar so gütig, ihm den besten Bullen aus seiner eigenen Zucht zu leihen, auf dass seine Herde gedeihe.“
Es verlangte Diviciacos danach, den arroganten jungen Krieger zurechtzuweisen, jedoch verbarg er seine Gefühle; es war für ihn nicht mehr als Gewohnheit, sich nichts anmerken zu lassen. „Wie hoch sind die Abgaben, die seine Sippe der Euren für ihren Schutz zahlt?“
„Geradezu frevlerisch gering, o Diviciacos. Jeden Mond zur Rückkehr der Nacht ein Sechst seines Weizens und seiner Milch, und zum Samon, wie es sich gehört, ein Prachtschwein.“
„Ist er Euch etwas schuldig geblieben?“
Eluskú starrte ihn an, als sei er nicht recht bei Trost. „Bei den Neun Quellen, seht ihn Euch an! Er ist fett! Er lässt sich gehen und schmäht auf diese Weise die Götter! Er bringt Schande über die Sippe meiner Väter, und wie sollte er in diesem Zustand anständig arbeiten? Wir verlangen, dass sein Bauchumfang abgemessen wird, und zwar mit roten Linsen, so wie es der Ehre unserer Sippe entspricht! Für jede Linse soll er ein Kalb geben, um den Schaden zu ersetzen!“
Das waren die Worte, die zu sagen man ihm eingebläut hat, dachte Diviciacos. Welch törichter Fehler, einen solch einfältigen Jungen zum Sprecher der Sippe zu erklären, nur weil er eine ehrenhafte Stellung einnimmt. Trotz aller Selbstbeherrschung, die er sich in jahrelanger, harter Übung angeeignet hatte, fiel es ihm schwer, ruhig zu bleiben. Zwar gab es im Gesetz des Stammes die Möglichkeit, Fettleibigkeit zu bestrafen, aber dies war nichts anderes als ein dreister Versuch, einen hilflosen Mann zu enteignen und zu versklaven. Licnos, der Bauer, war sicherlich außerstande, eine solche Strafe zu begleichen – rote Linsen waren klein. Er würde Teile seines kärglichen Besitzes verpfänden müssen und bald immer tiefer in der Schuld der reichen Sippe stehen, schließlich weder Abgaben noch Schulden mehr aufbringen können und letzten Endes seinen Torques und damit seine Freiheit verlieren. Diviciacos hatte häufig machtlos zugesehen, wie solcherlei geschah. Er atmete tief durch.
Am heutigen Tag würde er die Verse gemäß der Gerechtigkeit des Cernunnos auslegen.
„Ihr seid gut beraten worden, Eluskú, Sohn des Biracos“, sagte er bedächtig. „Nicht viele kennen die Verse des Rechts so genau, dass sie ein solches Vergehen mit einer angemessenen Sühne belegen können.“
Der stämmige Bauer stieß einen spitzen Schrei aus und fiel auf die Knie. „Ich flehe Euch an, o Diviciacos …“
„Schweigt!“, fuhr ihn der Druide an „Es ist nicht gut, zwei Geschichten gleichzeitig zu hören.“ Er sah Eluskú in die Augen; um den Mund des jungen Kriegers spielte ein Lächeln.
„Er hat Euch also Käse, Milch und Schwein geliefert?“, fragte Diviciacos.
„Das wohl“, gab Eluskú zögernd zu. Das Lächeln verschwand.
„Dann nehme ich an, Eure Sippe wurde in ihrer Ehre verletzt, indem man Euch seinetwegen beleidigte und verspottete? Es fiel Euch, seit er so fett ist, immer schwerer, eure Töchter zu verheiraten?“
Der Krieger zuckte kurz und setzte zu einer zornigen Entgegnung an, beherrschte sich jedoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er stellt durch seine schiere Gestalt eine Beleidigung unserer Ehre dar.“    
 „Erlaubt mir eine Frage, junger Reiter“, fuhr Diviciacos fort. „Welchen Bauchumfang, glaubt Ihr, sollte ein Mann haben?“
Eluskú legte die Stirn in Falten. „Was? Ich … nun, er sollte ein Ebenbild der Götter sein, denen er entstammt!“, rief er verärgert.
„So wie Ihr?“
„So wie ich oder jeder andere hier!“
Diviciacos nickte. „Dann wird Euch sicherlich klar sein, dass ich nicht seinen gesamten Bauchumfang messen kann, da Ihr ihm schwerlich vorwerfen wollt, überhaupt einen Bauch zu haben, nicht wahr? Entscheidend ist vielmehr der Unterschied zwischen seinem und einem Leib wie - nun ja, dem Euren, Eluskú.“
„Dem meinen?“
„Ihr begreift beinahe so schnell, wie Ihr reitet“, sagte Diviciacos. „Wer könnte besser mit seinem Körper als Bild der Götter dienen als ein Reiter des Eporedorix?“ Er ließ seine Worte ihre Wirkung im Geist des verblüfften Kriegers tun und wandte sich dem Bauern zu, der immer noch auf den Knien lag. „Nun zu Euch – Licnos, Sohn des Vectitos, nicht wahr? Steht auf.“
Der Mann rappelte sich hastig auf und starrte ihn aus seinem feisten, blassen Gesicht heraus an, die Augen weit geöffnet und die Lippen fest aufeinander gepresst.
„Wie kam es, dass Ihr eine solche Leibesfülle annahmt? Warum esst Ihr nicht weniger und übt Euren Körper? Wisst Ihr nicht, dass der Geist leidet, wenn der Leib schwach ist?“
„Ich… weiß es, o Diviciacos“, stammelte Licnos. „Doch die Götter entschieden, mir einen Gaumen zu geben, der Käse liebt, und einen Körper, durch den der Käse gleich zu den Hüften wandert.“
Die Umstehenden kicherten, und auch Diviciacos unterdrückte ein Schmunzeln. Er bemerkte, dass sich Unruhe unter Biracos‘ Gefolge verbreitete; einige murrten leise. Eluskús Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. „Was erlaubt sich diese Kreatur?“, rief er laut. „Ist es…“
„Schweigt!“ Diviciacos stieß den Stab auf den Boden, um für Ruhe zu sorgen. „Wie ich schon sagte, es ist nicht gut, zwei Geschichten gleichzeitig zu hören.“ Er wartete einen Moment, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Euer Vorschlag, Eluskú, scheint mir jedoch gerecht: Wir messen Licnos‘ Bauch, und den Euren, Sohn des Biracos. Den Unterschied werden wir als Maß für die Strafe heranziehen, die Licnos zu leisten hat. Ist eine der Sippen mit diesem Vorgehen nicht zufrieden, steht es ihr frei, den Rat der Sippen anzurufen und ein Urteil des Vergobret zu fordern.“ Die Männer schwiegen und Diviciacos nickte befriedigt. „Entblößt Euch.“
Der junge Krieger zögerte kurz und warf seinem Vater einen schnellen Blick zu. Dann streckte er die Brust heraus und winkte  einen Waffenträger heran, der ihm half, den gehärteten Lederpanzer und den Schwertgurt abzunehmen. Er zeigt seinen Körper gern, dachte Diviciacos grimmig. Es schien ihm, als lege Eluskú mit seiner Kleidung auch die Unsicherheit ab, die ihn kurz befallen hatte. Nachdem seine Schultern entblößt waren, zog er mit einer ruckartigen Bewegung die hochgeschnürte Hose auf die Hüften herunter, reckte das Kinn und sah in die Menge. Diviciacos stellte befriedigt fest, dass er einen beeindruckenden Brustkorb und beachtliche Muskeln hatte. Auch Licnos, der Bauer, hatte sein Wams abgelegt und nestelte an seinem Hosenbund; sein bleicher, aufgequollener Wanst bereitete ihm sichtlich Unbehagen.
Diviciacos wandte sich einem der Hüter zu. „Es soll Eure Aufgabe sein, den Umfang der Leiber dieser beiden zu messen, Alisanos“, sagte er ruhig. „Messt sorgfältig und genau, das Band gerade über dem Nabel.“
Der Angesprochene, ein weißbärtiger Druide von mehr als vierzig Wintern, trat zunächst zu dem Hirten und legte dem vor Angst schlotternden Mann ein Lederband um den Bauch. Er machte einen Knoten hinein, um den Umfang zu markieren, und wiederholte die Prozedur bei Eluskú, der mit vor der Brust verschränkten Armen wartete. Diviciacos beobachtete Biracos und seine Sippe; erst jetzt schien ihnen aufzugehen, dass der Druide sie getäuscht hatte: Da Eluskú den dicklichen Hirten beinahe um Haupteslänge überragte und von kräftiger Statur war, lagen die beiden Knoten erstaunlich nah beieinander, als der Hüter das Band in die Höhe hielt. Ein Schrei der Empörung ertönte, und auch Eluskú gab einen erstaunten Laut von sich. Die Menge tuschelte gespannt.
Diviciacos stieß den Stab auf den Fels bis die Rufe verstummten. „Bleibt noch, den Abstand zwischen den beiden Knoten zu messen“, fuhr er unbeirrt fort. „Wie Ihr, Eluskú, vorhin selbst sagtet, ist Eurer Sippe weder Schaden entstanden noch wurde Eure Ehre verletzt, wohl aber, darin habt Ihr Recht, das Gesetz des Stammes. Die Verse schreiben für einen solchen Fall vor, die Strafe mit gewöhnlichen Bohnen zu bemessen. Sie soll in kleinem Kupfer beglichen und am Brunnen der Kraniche dem Esos dargebracht werden.“ Er tat weitere vier Schläge mit dem Stab, um sein Urteil zu bekräftigen, und stieg langsam von dem Felsen hinunter. „Alisanos, Ihr werdet den Abstand gewissenhaft abmessen, Bohne für Bohne. Ihr, Licnos, Sohn des Vectitos, nehmt das Lederband mit Euch. Zur Trinoux Samonis werden wir Euch erneut vermessen und sehen, ob sich Eure Statur gebessert hat. Und wagt nicht, die Knoten zu versetzen – ich würde es merken, und wenn nicht ich, so die Unsterblichen.“ Abrupt wandte er sich Biracos zu. Die Kiefer des Züchters mahlten vor Wut und sein Schnurrbart zitterte, doch er wagte nicht, dem Urteil des großen Druiden zu widersprechen. Diviciacos senkte die Stimme, sodass nur die Umstehenden ihn verstehen konnten. „Noch etwas, Biracos“, raunte er. „Wenn Ihr noch einmal mit einer solchen Lächerlichkeit meine Zeit verschwendet, werde ich für jeden Zwölft einer Stunde ein Kalb von Euch fordern.“

Er entschied an diesem Nachmittag noch in vielen weiteren Fällen, und Belenos‘ Auge stand tief, als die Menge sich zu zerstreuen begann. Erschöpft wandte sich Diviciacos dem Nemeton zu, um den Göttern im kühlen Dunkel des Hains seinen Dank auszusprechen. Er verabschiedete sich von den Hütern und machte sich auf den Heimweg, vorbei an den von länglichen Mauern eingepferchten Holzhäusern, in denen die Pferde und Dienerschaft der Edlen untergebracht wurden. Der Lärm aus den Werkstätten der Hammerschmiede, Gießer und Metallarbeiter zu seiner Linken war bereits verklungen, und Bibracte machte einen friedlichen Eindruck in der abendlichen Sonne. Diviciacos aber fühlte sich, als trage er einen Felsblock von der Größe des Steins der Worte um den Hals und reite gegen einen mächtigen Sturm. Er vermied den Blick auf den vor ihm liegenden steinigen Hügel, den die Haeduer schlicht duron, nannten, Festung, und der fast ein Jahr nach Ende des Krieges noch immer mit den Zelten der Flüchtlinge übersät war, den kümmerlichen Behausungen jener, deren Atem schon seit vielen Nächten nicht mehr nach Cervisia gerochen hatte. Rasch wusch er Hände und Gesicht an der Quelle der Tränen und lenkte Prito auf direktem Wege zum inneren Tor, doch erst als er auch den äußeren Wall passiert hatte, begann die Anspannung des Gerichts von ihm abzufallen. Er konzentrierte seine Sinne auf die Natur um ihn herum, ließ den Gedanken an all das Elend und die Not der Menschen freien Lauf, bis sie sich langsam zerstreuten, sein Geist sich leerte und mit neuen Bildern, Klängen und Gerüchen füllte, Eindrücken, die nichts bedeuteten, sondern schlicht waren.

Die Römer warteten neben dem Bach, an dem er sie verlassen hatte. Sie erhoben sich, als er sich näherte, und Trocillus trat ihm entgegen.
„Es ist gut, dass Ihr gekommen seid, o Diviciacos. Die Freundschaft zwischen Rom und den Haeduern ist beiderseits ein hohes Gut, das wir pflegen wollen wie unsere eigenen Kinder, nicht wahr?“
Droht er mir?, fragte sich Diviciacos, oder verspottet er mich nur? „So sprecht, Trocillus, Sohn des Caburus“, sagte er. „Welche Kunde sendet der Senat den Haeduern, die zu geheim für die Ohren des Vergobret ist?“ Er wusste, dass er schon mit dieser Frage das Gesetz des Stammes verletzte, doch etwas im Verhalten der drei Gesandten veranlasste ihn, sie anzuhören. Nach kurzem Wortwechsel mit Flaccus ergriff Trocillus erneut das Wort.
„Genau gesagt, stammt unsere Botschaft nicht vom Senat. Sie stammt vom künftigen Statthalter der gallischen Provinzen. Ihr werdet von ihm gehört haben; sein Name ist Gaius Iulius Caesar.“
Sie sprachen eine Weile, und als Diviciacos einige Zeit später seinen Heimweg fortsetzte, war sein Herz von Angst und Hoffnung gleichermaßen erfüllt. Die kommenden Nächte und Winter würden für die Haeduer nicht einfacher werden als die vergangenen; doch vielleicht hatten die Götter sich noch nicht gänzlich von ihnen gewandt.

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Zeitenträumer
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Beitrag24.11.2014 18:44
Zeitenträumer / Kapitel 1 Antike
von Zeitenträumer
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So, hier poste ich jetzt mal einen Abschnitt des ersten Kapitels, mit dem ich eher weniger zufrieden bin. Ich befürchte Unverständlichkeit und Infodump gleichzeitig. Was sagt ihr? Ich danke Euch im Voraus für Eure Kritik.

Riuros, 15. Jahr, 25. Zyklus

Villú hielt inne und horchte in die Nacht. Die Sippe schien zu schlafen, lediglich im Haus seines Onkels Dumnorix flackerte noch Licht. Die kalten Nächte des Winters waren vorüber, doch Villú zog seinen Umhang fest um die Schultern und duckte sich an den Stamm der alten Steineiche, die in der Mitte des mondbeschienenen Hofes wuchs. Die Eiche war der geweihte Baum der Sippe, ebenso von Efeu wie von Legenden umrankt, und stets fanden sich einige der allheilenden Misteln zwischen ihren knorrigen Ästen. Villú fühlte die raue Borke unter seinen Fingern, als er sich auf die unteren Äste hinauf zog. Er liebte die Sippeneiche. Jeden Ast, jeden gemütlichen Platz hatte er erkundet und den Baum sogar schon mit geschlossenen Augen bestiegen, und so wusste er genau, von welcher Astgabelung er in das Haus seines Onkels hinein sehen konnte, in dem dieser sich jetzt, da das Gelage vorüber war, mit dem Gast aus Helvetien besprach. Hoffentlich haben sie keinen Druiden hinzu gebeten, dachte Villú mit klopfendem Herzen. Wenige Handgriffe mehr, und er wäre für alle gewöhnlichen Beobachter unsichtbar; ein Druide jedoch? Man wusste nie, wozu sie imstande waren. Wenn er ein Mann war, würde auch er ein mächtiger Druide werden.
Er klemmte sich in die Astgabel und spähte durch das Laubwerk. Dumnorix saß auf einem Bärenfell am niedrigen Tisch, auf dem Reste der Prachtschweine vom Festmahl lagen, und trank Wein aus einer goldenen Schale. Ihm gegenüber sah Villú den hünenhaften Mann, der ihm mit seiner groben Art bei dem Hochzeitsgelage so unangenehm gewesen war: Orgetorix, Sohn des Samicos. Er war, wie Villú gehört hatte, der reichste unter den Helvetiern, so wie es Dumnorix unter den Haeduern war, und hatte wie dieser tausende von Schuldnern und Hörigen. Sein scharlachroter Umhang war golddurchwirkt – allein der Farbstoff musste sündhaft teuer gewesen sein –, und die Mitgift für seine Tochter Enia hatte aus zwölf Wagenladungen bestanden! Villú hätte zu gern gewusst, was sich in den vielen beschlagenen Holzkisten befand, die Dumnorix` Männer ins Haus geschleppt hatten. Zwischen den Zweigen hindurch betrachtete er Orgetorix‘ schweißglänzendes Gesicht und spürte seine alles verachtende Selbstsicherheit.
Orgetorix hatte seinen Helm abgelegt, ein eisernes, mit vier Hörnern geschmücktes Monstrum, das dem Kopf eines Stieres nachempfundenen war, doch auch ohne den Helm wirkte er mit seinen gebleichten, strähnig nach hinten gelegten Haaren, dem kurzen Vollbart und den zuckenden hellblauen Augen überaus bedrohlich auf Villú. Er hörte den rauen Bass des Helvetiers, der die Stimme zwar gesenkt hatte, aber dennoch gut zu verstehen war.
„…könnt Ihr getrost vergessen. Divico ist ein alter Mann. Es würde mich nicht wundern, wenn er bei meiner Rückkehr gestorben wäre“, sagte Orgetorix abfällig und biss in ein Stück Haxe. „Mein Volk, die Helvetier, braucht Land, niemand kann das bestreiten. Unter dem Vorwand der Auswanderung ziehen wir den Arar hinauf, bis wir Eure Gebiete erreichen; dann vereinen wir unsere Krieger, schwenken zum Sonnenaufgang und zeigen den Germanen, was es heißt, Caturix‘ Zorn zu erregen.“
„Gut“, antwortete Dumnorix. Er sprach wie üblich wohlartikuliert und flüssig, in überaus verbindlichem Tonfall.  „Vergessen wir Divico, euren Vergobret, und nehmen wir an, Haeduer und Helvetier vereinigten sich. Werden wir stark genug sein, Ariovist zu besiegen? Der Germanenkönig hat den Sequanern bereits ein Drittel ihrer Ländereien abgepresst.“
Waren es nicht die Sequaner selbst, die Schneckenfresser, die Ariovist zu Hilfe riefen, um uns Haeduer zu stürzen?, dachte Villú verwirrt. Ist es nicht ihre Schuld, dass unser Stamm seine frühere Macht verloren hat? Hat Ariovist sich nun gegen die Sequaner gewandt?
„Sequaner!“ Orgetorix spuckte ein Stück Knorpel aus. „Selbst schuld, wenn sie sich den Germanen ins Land holen und ihm dann nicht gewachsen sind. Wir dagegen haben diese Wilden zahllose Male über den Rhenos zurückgeschlagen. Zudem folgen uns viele Krieger anderer Stämme, Boier, Tulinger, Rauracer. Mit Eurer Unterstützung…“
„Dennoch mussten jene Stämme in der Vergangenheit vor den Germanen weichen“, unterbrach ihn Dumnorix. „Und auch die Sequaner sind erstarrt in Angst vor Ariovist. Kämpfen sie auf germanischer Seite, ist unsere Sache verloren, und Germanen und Römer werden Gallien unter sich aufteilen.“
„Selbst die Sequaner wollen sich nicht weiter demütigen lassen“, sagte Orgetorix ungeduldig. „Wollt Ihr diesem germanischen Schlächter weiterhin Tribut zahlen? Geiseln stellen? Wo ist der Stolz und die Ehre der Haeduer?“
„Die Krieger sind stolz wie eh und je“, entgegnete Dumnorix. „Doch die Ehre unseres Stammes haben wir längst an Rom verkauft, lange bevor Ariovist und die Sequaner uns besiegten.“ Villú hörte Verbitterung in der Stimme seines Onkels.
Orgetorix schlug mit der Faust auf den Tisch. „Dann wird es Zeit, sie zurückzugewinnen!“, rief er nun lauter. „Wo war Rom, als die Sequaner den Wilden herbeiriefen, Eure Felder verwüsteten und Eure Frauen und Kinder raubten?“
Was geht hier vor? Villú verstand kaum etwas von dem Gehörten; offenbar war eine Verschwörung im Gange, an der sich Dumnorix, Orgetorix und sogar einige Sequaner beteiligten. Was aber führen sie im Schilde?
Dumnorix schien einen Moment nachzudenken. „Was Ihr vorhabt, Orgetorix, Sohn des Samicos, verstößt gegen die Gesetze fast aller Stämme, auch des Euren. Es darf nicht fehlgehen. Denn was hindert meinen Bruder Diviciacos, sofort wieder nach Rom zu laufen und um Hilfe zu betteln, wenn er davon erfährt?“
 „Damit hat er beim letzten Mal auch nichts erreicht, außer dass er seine Stellung an Euch verlor. Zudem seid Ihr am heutigen Tage den Vierbund mit meiner Tochter eingegangen, schon vergessen? Sie wartet sicher schon sehnsüchtig auf Euch!“
Villú spürte, dass die Erregung des Helvetiers wuchs. Die geweihte Verbindung seines Onkels mit Orgetorix‘ Tochter Enia war der eigentliche Anlass des Besuchs der Helvetier gewesen. Oder seid Ihr in Wahrheit wegen dieses nächtlichen Treffens gekommen, Orgetorix?
„Diviciacos ist alles zuzutrauen“, sagte Dumnorix. „Er ist wie ein Bach, der jedem Hindernis ausweicht und sich neue Wege sucht, wenn ihm die alten verschlossen sind.“
Er stand auf und trat ans Fenster, sodass sich seine Silhouette dunkel gegen das flackernde Licht der Talglampen abhob. Villú duckte sich und hielt die Luft an, obwohl er wusste, dass sein Onkel ihn nicht sehen konnte. Dumnorix‘ Gesicht lag im Dunkeln, nur in seinem geölten Haar und auf dem prächtigen goldenen Torques um seinen Hals glänzte der Schein des Mondes. Aus seinen Bewegungen sprach eine ungeheure Selbstsicherheit, und Villú überkam die bekannte Mischung aus Bewunderung und Furcht, die er seinem Onkel gegenüber empfand.
„Seid Ihr euch der Treue der Sequaner sicher, Orgetorix?“, fragte Dumnorix mit leiser Stimme in den stillen Innenhof hinein, mehr an sich selbst als an seinen Gast gerichtet. Dann drehte er sich wieder um und Villú atmete auf. „Und wie steht es mit der Treue Eures eigenen Volkes? Was werden die tapferen Helvetier sagen, wenn sie erfahren, dass einer der ihren sich gegen den Brauch zum König erheben will?“
„Die Sequaner lasst meine Sorge sein!“, sagte Orgetorix herrisch und schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Und die Helvetier selbst? Nur wenige sind eingeweiht, und selbst Divico will den Germanen bestraft sehen. Die Restlichen meinen, wir strebten lediglich nach neuen Gebieten. Ich habe sie überzeugt, ihr Land zu verlassen und mit mir durch ganz Gallien zu ziehen. Schon bald werden sie freiwillig alle ihre Städte, Dörfer und Gehöfte in Brand stecken, um mir zu folgen! Viele der Mächtigen sind mir hörig, und das Volk ist der Herrschaft der Sippen seit langem überdrüssig. Sie sind arm und schreien förmlich nach einem König, der sie aus ihrem Elend befreit. Und wer sollte ihr König sein, wenn nicht ich?“ Orgetorix leerte seine Schale in einem Zug. „Sagt,  ist das der Wein, den Ihr von dem elenden Griechen erworben habt?“
„In der Tat“, bestätigte Dumnorix. „Und lasst Euch gesagt sein, der verfluchte Kerl verlangt ganz spezielle Preise.“ Er ließ sich eine Weile Zeit, bis er fortfuhr, und Villú merkte, dass er nur einen kleinen Teil seiner Gedanken preisgab. „Seid darauf bedacht, Euren Plan vor den Römern geheim zu halten“, sagte Dumnorix dann. „Von dem neuen Statthalter hört man, er suche nur nach einem Grund, die gallischen Stämme zu überfallen.“
„Pah!“, rief Orgetorix aus. „Bereits unter Brennos haben gallische Krieger das Capitol umstellt, und wir Helvetier haben die Römer noch vor fünfzig Wintern besiegt und unter das Joch geschickt. Erinnert einen Römer an Aginnum, und er zittert und fleht um Gnade.“ Der Wein und der Gedanke an die siegreiche Schlacht von Aginnum schienen ihn zu beflügeln. Villú musste zugeben, dass er sehr überzeugend wirkte, auch wenn jene Schlacht und erst recht die Eroberung Roms durch den Senonenhäuptling Brennos schon seit vielen Wintern Vergangenheit waren.
Orgetorix zog einen Dolch vom Gürtel, schnitt die letzten Fleischfetzen von dem Knochen in seiner Hand und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. „Der Einzige, der mir Sorge bereitet, ist Euer Bruder. Diviciacos.
Die Art, wie er den Namen zwischen den Zähnen hinausspie, verriet seine Angst und seinen Hass auf den berühmten Druiden. Villú war ein bisschen stolz. Dieser Mann, vor dem selbst Dumnorix Respekt zu haben schien, fürchtete seinen Vater mehr als die Germanen, mehr als den Zorn seines eigenen Stammes, ja sogar mehr als die Macht Roms. Dennoch erfüllte ihn dieses geheime Gespräch mit Angst. Was bei Esos habt ihr vor?
Dumnorix ließ sich wieder am Tisch nieder und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Trinkschale. Ein Moment der Stille folgte, bis er abrupt zu sprechen begann.
„Nun gut, Orgetorix. So sei es. Vertreiben wir den verfluchten Germanen. Sobald Ihr bereit seid, verkünden wir unser Bündnis: Ihr in den rückwärtigen Gebieten, die Sequaner vorn, zum Sonnenaufgang, und ich hier, im Zentrum Galliens. Ich bin einverstanden mit eurer Ansicht, dass die anderen Stämme sich einem solchen Bund unterwerfen werden.“ Dumnorix machte eine Pause, um einen weiteren Schluck zu trinken, und sah Orgetorix ins Gesicht; seine Stimme hatte einen feierlichen Klang „Mögen die Könige zurückkehren.“  
Er lügt, dachte Villú. Oder mindestens hält er viel von dem zurück, was er denkt und plant. Er beobachtete Orgetorix und konnte sich ausmalen, was dieser mit denjenigen tun würde, die sich ihm nicht ergäben oder ihn gar hintergingen. Dumnorix hob erneut an.
„Vergesst jedoch nicht, dass unser Stamm sich den Römern verpflichtet hat. Auch wenn Caesar, der neue Statthalter, derzeit noch in Italien weilt, so wird er bei einem derartigen Vertragsbruch schnellstens mit seinen Legionen in unsere Länder ziehen. Bis zu seiner Ankunft müssen wir Gallien in der Hand haben. Wenn die Stämme nicht vereint kämpfen, werden die Römer uns leicht besiegen. Und dann werden sie Euch und mich als Aufrührer töten und unsere Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen. Wenn Euer Plan scheitert, wird er das Ende der gallischen Völker bedeuten.“
Orgetorix antwortete mit der sicheren Stimme eines Menschen, der nicht gewohnt ist, dass seine Pläne fehlgehen. „Wir werden Seite an Seite stehen, Dumnorix, und Germanen wie Römern zeigen, dass die Gallier freie Menschen sind. Doch zunächst kümmert Euch um Euer Volk und vor allem um Euren Bruder. Wenn Ihr Rom als so große Gefahr seht, ist es umso wichtiger, dass er nichts erfährt und gefügig ist.“
„Für Diviciacos habe ich bereits einen Einfall“, sagte Dumnorix langsam. Villú hörte aus seinem Tonfall, dass sein Onkel jenes überlegene Lächeln aufgesetzt hatte, das bei ihm stets eine Gänsehaut auslöste. „Zur weiteren Bekräftigung der Freundschaft unserer Stämme und unserer Sippen werdet Ihr, Orgetorix, Euren Sohn Allecnos den Haeduern als Geisel stellen. Im Gegenzug nehmt Ihr Villú, Sohn des Diviciacos, mit Euch nach Aventia.“
Wäre die Astgabel nicht absolut sicher gewesen, Villú wäre vor Schreck vom Baum gefallen, als er seinen Namen hörte. Nicht nur wollten die beiden sich offenbar zu Königen erheben und alle Stämme in Knechtschaft zwingen; nein, Dumnorix hatte vor, ihn in Gefangenschaft zu den Helvetiern zu schicken, einem Stamm, der Gerüchten zufolge sogar mit den schrecklichen Germanen von jenseits des Rhenos verwandt war!
Sein Vater musste sofort davon erfahren. So leise wie möglich machte er sich an den Abstieg.
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Emmy
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Beitrag24.11.2014 21:07

von Emmy
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Hallo Zeitenträumer,

den Prolog zu deinem Roman habe ich nicht gelesen bzw. nur den Anfang. Das als Erläuterung zu meinem folgenden Kommentar:

Ich finde den Text sprachlich gut zu lesen, und er macht mich neugierig zu verstehen, was da passiert und worum es geht.

Damit komme ich zu deiner Frage nach dem Infodump: ja, für mich schon. Da werden viele Völker und Personen aufgezählt, und ich bin versucht, erst einmal eine Weile im Internet zu recherchieren, was historische Fakten und was Erfindungen sind. Auch bei den Personen. Das tue ich meistens bei Romanen oder Texten, die eine Nähe zu echten historischen Ereignissen andeuten. Nur in dem vorliegenden Fall sind das einfach so viele Dinge, dass ich es nicht tun würde. Und dann würde mich nach einer Weile beim weiteren Lesen das Interesse verlassen.

Verständlich in sich finde ich es schon, auch wenn man mich dafür etwas konzentrieren und vielleicht vorige Absätze noch einmal lesen muss.

Was mich aber auch irritiert ist, dass es für mich zu viele Asterix-Assoziationen gibt: Gallier auf -ix, Druide und Misteln, Wildschweinessen, "böse" Römer. Ich habe es beim Lesen immer wieder zurückgedrängt, doch die inneren Bilder werden bei mir dadurch automatisch zu Cartoons. Und das ist sicher nicht deine Absicht. smile

LG,
Emmy
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Zeitenträumer
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Beitrag25.11.2014 13:36

von Zeitenträumer
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Hallo Emmy,
danke Dir für die Rückmeldung. Ich habe bereits eine reduzierte Version geschrieben, warte aber mal ab, ob noch mehr kommt, das ich dann direkt umsetzen könnte.
Noch kurz zu den Asterix-Assoziationen: Allgemein ist Asterix natürlich auch vernünftig recherchiert, sodass man bei einem historischen Roman in dieser Zeit nicht komplett drum herum kommt. Im Einzelnen:

Zitat:
Gallier auf -ix

Genauer, auf "rix". Denn das ist der keltische Wortteil für König. Dumnorix zum Beispiel bedeutet etwa "König der Welt(en)". Alle anderen ix-Endungen in Asterix sind frei erfunden.
Die beiden hier auftretenden Personen sind im Übrigen historisch.

Zitat:
Druide und Misteln

Druiden sind unverzichtbar, die Misteln habe ich in der neuen Version ersetzt.

Zitat:
Wildschweinessen

Keine Wildschweine, die waren schon domestiziert. Habe leider keine Idee, wie ich diese Asooziation vermeiden kann.

Zitat:
"böse" Römer

So war es nun einmal, Rom hat die Gallier besiegt und es ist nicht zuviel gesagt, wenn man von Völkermord spricht. Aber keine Angst, in dem Roman treten auch genug unsympathische Gallier und einige sympathische Römer auf.

Danke nochmal für die Kritik!

Beste Grüße,

David
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Sue Rovia
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag25.11.2014 19:29

von Sue Rovia
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Na endlich Smile Das wollte ich lesen Laughing

Zitat:
Die kalten Nächte des Winters waren vorüber, doch Villú zog seinen Umhang fest um die Schultern und duckte sich an den Stamm der alten Steineiche, die in der Mitte des mondbeschienenen Hofes wuchs.


Generell finde ich den Abschnitt sehr gut, auch die Beschreibung der Sippeneiche (einen kurzen Moment lang wähnte ich mich sogar auf der anderen Seite des Rhenos, nämlich bei den alten Germanen). Nur mit diesem Satz tue ich mir ein bisschen schwer. Im ersten Moment fand ich das "doch" ein bisschen fehlplatziert. Im zweiten ist mir dann schon klar, ok er zieht den Umhang fester. Aber ganz so flüssig liest es sich für mich trotzdem nicht.

Zitat:
Hoffentlich haben sie keinen Druiden hinzu gebeten, dachte Villú mit klopfendem Herzen. Wenige Handgriffe mehr, und er wäre für alle gewöhnlichen Beobachter unsichtbar; ein Druide jedoch? Man wusste nie, wozu sie imstande waren. Wenn er ein Mann war, würde auch er ein mächtiger Druide werden.


Auch das gefällt mir an und für sich. In den letzten zwei Sätzen stören mich ein bisschen die Wortstammwiederholungen, also war/waren und würde/werden. Der Zukunftsblick den Villu da wagt, ist meines Erachtens sehr gelungen.

Ich mag den Abschnitt ehrlichgesagt mehr  als den Teil des Prologes, der in der Antike spielt. Man braucht nicht lange um in den Text hineinzufinden. Und es passiert viel.
Wer den Prolog aufmerksam gelesen hat, den erwartet glaube ich auch kein Infodump. Villu, Dumnorix und Diviciacos kennen wir ja schon. Und wir wissen bereits wie Dumnorix zu den Römern steht, und können die Charaktere einordnen. Dumnorix Verschwörung ist jetzt zumindest mal für mich keine Überraschung.
 Allerdings gehöre ich zu den Lesern, die aus Bequemlichkeit gerne mal eine Prolog weglassen und gleich im ersten Kapitel anfangen, besonders wenn der Prolog mir zu lange scheint und keine Schlüsselszene darstellt. Das ist -gebe ich zu- schwach, zumal ich ja selbst meinen Büchern einen Prolog vorausschicke.
Aber wenn der Prolog fehlt, überfordern die Informationen sicher.

Ich hoffe, es gibt dann bald den zweiten Teil des ersten Kapitels zu lesen... am liebsten hätte ich gerade das komplette Buch in den Händen Pfiffig Blinzeln

Bis zur Fortsetzung, hoffentlich Wink

Susie
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Zeitenträumer
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Beitrag26.11.2014 17:58

von Zeitenträumer
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Hallo Susie,

Vielen, vielen Dank für das Lob, und auch für die Kritik. Ich denke, was die Infos betrifft, werde ich versuchen, einen Mittelweg zu finden. Aber es freut mich sehr, dass du das Kapitel dank Prolog auch in dieser Version erträglich und verständlich findest.

Zitat:
Zitat:
Die kalten Nächte des Winters waren vorüber, doch Villú zog seinen Umhang fest um die Schultern und duckte sich an den Stamm der alten Steineiche, die in der Mitte des mondbeschienenen Hofes wuchs.

Generell finde ich den Abschnitt sehr gut, auch die Beschreibung der Sippeneiche (einen kurzen Moment lang wähnte ich mich sogar auf der anderen Seite des Rhenos, nämlich bei den alten Germanen). Nur mit diesem Satz tue ich mir ein bisschen schwer. Im ersten Moment fand ich das "doch" ein bisschen fehlplatziert. Im zweiten ist mir dann schon klar, ok er zieht den Umhang fester. Aber ganz so flüssig liest es sich für mich trotzdem nicht.

Ja, dieser Satz gefällt mir auch nicht. Ich habe nur noch keine bessere Variante gefunden. Werde ich aber sicher noch verändern.

Zitat:
Zitat:
Hoffentlich haben sie keinen Druiden hinzu gebeten, dachte Villú mit klopfendem Herzen. Wenige Handgriffe mehr, und er wäre für alle gewöhnlichen Beobachter unsichtbar; ein Druide jedoch? Man wusste nie, wozu sie imstande waren. Wenn er ein Mann war, würde auch er ein mächtiger Druide werden.

Auch das gefällt mir an und für sich. In den letzten zwei Sätzen stören mich ein bisschen die Wortstammwiederholungen, also war/waren und würde/werden. Der Zukunftsblick den Villu da wagt, ist meines Erachtens sehr gelungen.

Danke, war mir nicht aufgefallen. Werde ich ändern.

Zitat:
Ich hoffe, es gibt dann bald den zweiten Teil des ersten Kapitels zu lesen... am liebsten hätte ich gerade das komplette Buch in den Händen

 Embarassed Oh man, ich danke dir wirklich. Ich hoffe, dass es mittelfristig dazu kommen wird. Einen Teil werde ich wohl noch einstellen, denn alles zusammen soll wohl meine Textprobe für die Agenturen / Verlage werden.

Liebe Grüße,

David
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Zeitenträumer
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Beitrag26.11.2014 18:50

von Zeitenträumer
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So, ich habe alle Namen rausgeschmissen, die erstmal verzichtbar sind, und einige weitere Korrekturen vorgenommen. Besser? Vielleicht. Ich danke euch für eure Meinungen.

Riuros, 15. Jahr, 25. Zyklus

Villú hielt inne und horchte in die Nacht. Die Sippe schien zu schlafen, lediglich im Haus seines Onkels Dumnorix flackerte noch Licht. Obwohl die kalten Nächte des Winters vorüber waren, zog Villú seinen Umhang fest um die Schultern und duckte sich an den Stamm der alten Steineiche, die in der Mitte des mondbeschienenen Hofes wuchs. Die Eiche war der geweihte Baum der Sippe, ebenso von Efeu wie von Legenden umrankt, und stets fanden sich einige Nester der Allheiler-Pflanze zwischen ihren knorrigen Ästen. Villú fühlte die raue Borke unter seinen Fingern, als er sich auf die unteren Äste hinauf zog. Er liebte die Sippeneiche. Jeden Ast, jeden gemütlichen Platz hatte er erkundet und den Baum sogar schon mit geschlossenen Augen bestiegen, und so wusste er genau, von welcher Astgabelung er in das Haus seines Onkels hinein sehen konnte, in dem dieser sich jetzt, da das Gelage vorüber war, mit dem Gast aus Helvetien besprach. Hoffentlich haben sie keinen Druiden hinzu gebeten, dachte Villú mit klopfendem Herzen. Wenige Handgriffe mehr, und er wäre für alle gewöhnlichen Beobachter unsichtbar; ein Druide jedoch? Die Weisen sahen Dinge, die anderen verborgen blieben. Wenn er ein Mann war, würde auch er ein mächtiger Druide werden.
Er klemmte sich in die Astgabel und spähte durch das Laubwerk. Dumnorix saß auf einem Bärenfell an einem niedrigen Tisch, auf dem Reste der Prachtschweine vom Festmahl lagen, und trank Wein aus einer goldenen Schale. Ihm gegenüber sah Villú den hünenhaften Mann, der ihm mit seiner groben Art bei dem Hochzeitsgelage so unangenehm gewesen war: Orgetorix, Sohn des Samicos. Er war, wie Villú gehört hatte, der reichste unter den Helvetiern, so wie es Dumnorix unter den Haeduern war, und hatte wie dieser tausende von Schuldnern und Hörigen. Sein scharlachroter Umhang war golddurchwirkt – allein der Farbstoff musste sündhaft teuer gewesen sein –, und die Mitgift für seine Tochter hatte aus zwölf Wagenladungen bestanden! Villú hätte zu gern gewusst, was sich in den vielen beschlagenen Holzkisten befand, die Dumnorix` Männer ins Haus geschleppt hatten. Zwischen den Zweigen hindurch betrachtete er Orgetorix‘ schweißglänzendes Gesicht und spürte seine alles verachtende Selbstsicherheit. Orgetorix hatte seinen Helm abgelegt, ein eisernes, mit vier Hörnern geschmücktes Monstrum, das dem Kopf eines Stieres nachempfundenen war, doch auch ohne den Helm wirkte er mit seinen gebleichten, strähnig nach hinten gelegten Haaren, dem kurzen Vollbart und den zuckenden hellblauen Augen überaus bedrohlich auf Villú. Er hörte den rauen Bass des Helvetiers, der die Stimme zwar gesenkt hatte, aber dennoch gut zu verstehen war.
„…könnt Ihr getrost vergessen. Unser Vergobret ist ein alter Mann. Es würde mich nicht wundern, wenn er bei meiner Rückkehr gestorben wäre“, sagte er abfällig und biss in ein Stück Haxe. „Mein Volk, die Helvetier, braucht Land, niemand kann das bestreiten. Unter dem Vorwand der Auswanderung ziehen wir den Arar hinauf, bis wir Eure Gebiete erreichen; niemand wird etwas ahnen. Dann vereinen wir unsere Krieger, schwenken zum Sonnenaufgang und zeigen den Germanen, was es heißt, keltischen Zorn zu erregen.“
Dumnorix sprach wie üblich wohlartikuliert und flüssig, in überaus verbindlichem Tonfall. „Gut“, sagte er. „Nehmen wir an, Haeduer und Helvetier vereinigten sich. Doch werden wir stark genug sein, Ariovist zu besiegen? Er hat viele tausend Krieger über den Rhenos gebracht, und es werden von Tag zu Tag mehr. Angeblich hat er den Sequanern bereits ein Drittel ihres Landes abgepresst.“
Orgetorix spuckte ein Stück Knorpel aus. „Sequaner sind keine Helvetier!“, bellte er. „Wir haben diese Wilden viele Male über den Rhenos zurückgeschlagen. Uns folgen zahllose Krieger anderer Stämme, Boier, Tulinger, Rauracer. Mit Eurer Unterstützung…“
„Dennoch mussten jene Stämme in der Vergangenheit vor den Germanen weichen“, unterbrach ihn Dumnorix. „Sie alle sind erstarrt in Angst vor Ariovist. Euer Plan ist groß, Orgetorix, vielleicht zu groß. Wenn wir scheitern, werden Germanen und Römer Gallien unter sich aufteilen.“
Orgetorix fuchtelte ungeduldig mit den Händen. „Wollt Ihr diesem germanischen Schlächter weiterhin Tribut zahlen? Geiseln stellen? Wo ist der Stolz und die Ehre der Haeduer?“
 „Die Krieger sind stolz wie eh und je“, entgegnete Dumnorix. „Doch die Ehre unseres Stammes haben wir längst an Rom verkauft, lange bevor Ariovist uns besiegte.“ Villú hörte die Verbitterung in der Stimme seines Onkels.
Orgetorix schlug mit der Faust auf den Tisch. „Dann wird es Zeit, sie zurückzugewinnen!“, rief er nun lauter. „Wo war Rom, als der Wilde Eure Felder verwüstete und Eure Frauen und Kinder raubte?“
Dumnorix schien einen Moment nachzudenken. „Was Ihr vorhabt, Orgetorix, Sohn des Samicos, verstößt gegen die Gesetze fast aller Stämme, auch des Euren. Es darf nicht fehlgehen. Was hindert meinen Bruder Diviciacos, sofort wieder nach Rom zu laufen und um Hilfe zu betteln, wenn er davon erfährt?“
 „Damit hat er beim letzten Mal auch nichts erreicht, außer dass er seine Stellung an Euch verlor. Zudem seid Ihr am heutigen Tage den Vierbund mit meiner Tochter eingegangen, schon vergessen? Sie wartet sicher schon sehnsüchtig auf Euch!“
Villú spürte, dass die Erregung des Helvetiers wuchs. Was bei allen Göttern geht hier vor? Die geweihte Verbindung seines Onkels mit Orgetorix‘ Tochter Enia war der eigentliche Anlass des Besuchs der Helvetier gewesen. Oder seid Ihr in Wahrheit wegen dieses nächtlichen Treffens gekommen, Orgetorix? Er verstand kaum etwas von dem Gehörten, aber offenbar war eine Verschwörung im Gange.
„Diviciacos ist alles zuzutrauen“, sagte Dumnorix ruhig. „Er ist wie ein Bach, der jedem Hindernis ausweicht und sich neue Wege sucht, wenn ihm die alten verschlossen sind.“
Er stand auf und trat ans Fenster, sodass sich seine Silhouette dunkel gegen das flackernde Licht der Talglampen abhob. Villú duckte sich und hielt die Luft an, obwohl er wusste, dass sein Onkel ihn nicht sehen konnte. Dumnorix‘ Gesicht lag im Dunkeln, nur in seinem geölten Haar und auf dem prächtigen goldenen Torques um seinen Hals glänzte der Schein des Mondes. Aus seinen Bewegungen sprach eine ungeheure Selbstsicherheit, und Villú überkam die bekannte Mischung aus Bewunderung und Furcht, die er seinem Onkel gegenüber empfand.
„Seid Ihr euch der Treue Eures Volkes sicher, Orgetorix?“, fragte Dumnorix mit leiser Stimme in den stillen Innenhof hinein, mehr an sich selbst als an seinen Gast gerichtet. Dann drehte er sich wieder um und Villú atmete auf. „Was werden die tapferen Helvetier sagen, wenn sie erfahren, dass einer der ihren sich gegen den Brauch zum König erheben will?“
„Das lasst meine Sorge sein!“, sagte Orgetorix herrisch und schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Ich habe sie überzeugt, ihr Land zu verlassen und mit mir durch ganz Gallien zu ziehen. Schon bald werden sie freiwillig ihre Städte, Dörfer und Gehöfte in Brand stecken, um mir zu folgen! Viele der Mächtigen sind mir hörig, und das Volk ist der Herrschaft der Sippen seit langem überdrüssig. Sie sind arm und schreien förmlich nach einem König, der sie aus ihrem Elend befreit. Und wer sollte ihr König sein, wenn nicht ich?“ Er leerte seine Schale in einem Zug und hielt sie in die Höhe. „Sagt,  ist das der Wein, den Ihr von dem elenden Griechen erworben habt?“
„In der Tat“, bestätigte Dumnorix. „Und lasst Euch gesagt sein, der verfluchte Kerl verlangt ganz spezielle Preise.“ Er ließ sich eine Weile Zeit, bis er fortfuhr, und Villú merkte, dass er nur einen kleinen Teil seiner Gedanken preisgab. „Seid darauf bedacht, Euren Plan vor den Römern geheim zu halten“, sagte sein Onkel dann. „Von dem neuen Statthalter hört man, er suche nur nach einem Grund, die Stämme zu überfallen.“
„Pah!“, rief Orgetorix aus. „Bereits unter Brennos haben keltische Krieger das Capitol umstellt, und wir Helvetier haben die Römer noch vor fünfzig Wintern besiegt und unter das Joch geschickt. Erinnert einen Römer an Aginnum, und er zittert und fleht um Gnade.“ Der Wein und der Gedanke an die siegreiche Schlacht von Aginnum schienen ihn zu beflügeln. Villú musste zugeben, dass er sehr überzeugend wirkte, auch wenn jene Schlacht und erst recht die Eroberung Roms durch den Senonenhäuptling Brennos schon seit vielen Wintern Vergangenheit waren.
Orgetorix zog einen Dolch vom Gürtel, schnitt die letzten Fleischfetzen von dem Knochen in seiner Hand und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. „Der Einzige, der mir Sorge bereitet, ist Euer Bruder. Diviciacos.“
Die Art, wie er den Namen zwischen den Zähnen hinausspie, verriet seine Angst und seinen Hass auf den berühmten Druiden. Villú war ein bisschen stolz. Dieser Mann, vor dem selbst Dumnorix Respekt zu haben schien, fürchtete seinen Vater mehr als die Germanen, mehr als den Zorn seines eigenen Stammes, ja sogar mehr als die Macht Roms! Dennoch erfüllte ihn dieses geheime Gespräch mit Angst. Was bei Esos habt ihr vor?
Dumnorix ließ sich wieder am Tisch nieder und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Trinkschale. Ein Moment der Stille folgte, bis er abrupt zu sprechen begann.
„Nun gut, Orgetorix. So sei es. Vertreiben wir den verfluchten Germanen. Sobald Ihr bereit seid, verkünden wir unser Bündnis. Ich bin einverstanden mit eurer Ansicht, dass die anderen Stämme sich einem solchen Bund unterwerfen werden, wenn die Götter unserem Plan ihre Gunst schenken.“ Er trank einen weiteren Schluck und sah seinem Gast ins Gesicht; seine Stimme hatte einen feierlichen Klang. „Mögen die Könige zurückkehren.“  
Er lügt, dachte Villú aufgeregt. Oder mindestens hält er viel von dem zurück, was er denkt und plant. Er beobachtete Orgetorix und konnte sich ausmalen, was dieser mit denjenigen tun würde, die sich ihm nicht ergäben oder ihn gar hintergingen. Dumnorix hob erneut an.
„Vergesst jedoch nicht, dass unser Stamm sich den Römern verpflichtet hat. Auch wenn Caesar, der neue Statthalter, derzeit noch in Italien weilt, so wird er bei einem derartigen Vertragsbruch schnellstens mit seinen Legionen in unsere Länder ziehen. Bis zu seiner Ankunft müssen wir Gallien in der Hand haben. Wenn die Stämme nicht vereint kämpfen, werden die Römer uns leicht besiegen. Und dann werden sie Euch und mich als Aufrührer töten und unsere Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen. Wenn Euer Plan scheitert, wird er das Ende der keltischen Völker bedeuten.“
Orgetorix antwortete mit der sicheren Stimme eines Menschen, der nicht gewohnt ist, dass seine Pläne fehlgehen. „Wir werden Seite an Seite stehen, Dumnorix, und Germanen wie Römern zeigen, dass die Kelten freie Menschen sind! Doch zunächst kümmert Euch um Euer Volk und vor allem um Euren Bruder. Wenn Ihr Rom als so große Gefahr seht, ist es umso wichtiger, dass er nichts erfährt und gefügig ist.“
„Für Diviciacos habe ich bereits einen Einfall“, sagte Dumnorix langsam. Villú hörte aus seinem Tonfall, dass sein Onkel jenes überlegene Lächeln aufgesetzt hatte, das bei ihm stets eine Gänsehaut auslöste. „Zur weiteren Bekräftigung der Freundschaft unserer Stämme und unserer Sippen werdet Ihr, Orgetorix, Euren Sohn Allecnos den Haeduern als Geisel stellen. Im Gegenzug nehmt Ihr Villú, Sohn des Diviciacos, mit Euch nach Aventia.“
Wäre die Astgabel nicht absolut sicher gewesen, Villú wäre vor Schreck vom Baum gefallen, als er seinen Namen hörte. Nicht nur wollten die beiden sich offenbar zu Königen erheben und alle Stämme in Knechtschaft zwingen; nein, Dumnorix hatte vor, ihn in Gefangenschaft zu den Helvetiern zu schicken, einem Stamm, der Gerüchten zufolge sogar mit den Wilden jenseits des Rhenos verwandt war!
Sein Vater musste sofort davon erfahren. So leise wie möglich machte er sich an den Abstieg.

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Sue Rovia
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag27.11.2014 02:02

von Sue Rovia
Antworten mit Zitat

Die korrigierte Version ist meines Erachtens flüssiger und leichter zu lesen.

Zitat:
Ich hoffe, dass es mittelfristig dazu kommen wird. Einen Teil werde ich wohl noch einstellen, denn alles zusammen soll wohl meine Textprobe für die Agenturen / Verlage werden.


Ich hoffe auch dass es dazu kommen wird. Nach den Textproben würde ich in jedem Fall das Buch dazu kaufen.

Viel Erfolg!
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Teribur
Gänsefüßchen
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Beiträge: 40



T
Beitrag27.11.2014 15:41

von Teribur
Antworten mit Zitat

Hi David,
dein Text hat mir sehr gefallen. Spannend, Konflikte werden schön eingearbeitet, mir hat´s gefallen!
Zitat:
„Mein Volk, die Helvetier, braucht Land

das war für mich der einzige Stolper(kiesel)stein. Es ist alles grammatikalisch korrekt und man könnte es (meines Erachtens) so veröffentlichen, aber trotzdem habe ich da geharkt. Dieser Wechsel von Singular (Volk) zu Plural (die Helvetier) und dann [brauch]. Wie gesagt, grammatikalisch mag es richtig sein, aber ohne den Stolperstein, hätte ich schlichtweg nichts zu meckern gefunden smile
LG
Teribur
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Zeitenträumer
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Beiträge: 123



Z
Beitrag28.11.2014 10:55

von Zeitenträumer
Antworten mit Zitat

Ich danke euch beiden sehr, das macht Mut.
Teribur, ich verstehe deinen Punkt. Ich werde ausprobieren, "die Helvetier" hier einfach wegzulassen.
Beste Grüße,
David
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bibiro
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Beiträge: 716



B
Beitrag28.11.2014 19:45

von bibiro
Antworten mit Zitat

Hallo,

Ich habe ein prinzipielles Problem:

Du hast das mit der Eiche ja schön ausführlich (zu ausführlich fast - die Misteln würde ich auch in der Verklausulierung weglassen) beschrieben, aber mir erschließt sich nicht, wie Villù hören und sehen soll, was im Haus seines Onkels vor sich geht.
Also zumindest schreibst du eingangs "lediglich im Haus seines Onkels Dumnorix flackerte noch Licht".

Wie muss ich mir das vorstellen? Ich war schon mehrfach in Freilichtmuseen mit Nachbauten von Häusern der Steinzeit, der Eisenzeit, der Wikinger - und auch der Kelten. In Hochdorf bei Stuttgart, wo der Keltenfürst ausgegraben wurde, steht so eines, das habe ich recht gut vor Augen.

Wo bitte, schaut Villù da rein? Da gab es keine Fenster! Es gab eine Tür, und dann Rauchabzüge unter dem Giebel - fertig. Kann Villù durch die Wände sehen?

Gut, du könntest sagen, er schaut durch den Rauchfang - aber je größer das Haus, umso höher. Je höher der Rang, umso größer das Haus.
Und um durch den Rauchfang etwas auf dem Boden des Hauses zu sehen, müsste man sich entweder sehr nah am Rauchfang oder sehr weit oben befinden, um den Blickwinkel zu bekommen.

So nah wird man aber keinen Baum an ein Haus gebaut haben, denn die Häuser wurden damals mit Roggenstroh eingedeckt, und hast du schon mal gesehen, was die Äste eines Baumes mit bspw. einem Reetdach anstellen? Die scheuern es förmlich weg binnen weniger Jahre! Haben wir mit eigenen Augen in dem Ferienpark in Fryslân mitbekommen, wo wir seit Jahren immer Urlaub machen.

Wenn der Baum aber weit weg genug steht, um das Dach nicht zu gefährden - dann erscheint mir die Entfernung zu groß, als dass Villù da ein in normaler Zimmerlautstärke geführtes Gespräch mitbekommen könnte. Von den "zuckenden hellblauen Augen" ganz zu schweigen.

Es tut mir echt leid, aber ich bekomme es den ganzen Text über nicht aus dem Kopf, mich bei allem und jedem zu fragen "wie, beim Teutates, soll Villù das mitkriegen?" - und so kommt dein Text überhaupt nicht ans "Fliegen", sprich, es entstehen keine Bilder in meinem Kopf, abgesehen von der vermaledeiten Baum-Haus-Konstellation, an der dann alles "einfriert".

Echt schade, ich kann die Begeisterung der anderen leider, leider nicht teilen.

Bibi
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