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Diese Werke sind ihren Autoren besonders wichtig Social Call


 
 
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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 62
Beiträge: 942
Wohnort: Hangover
Der silberne Roboter


Beitrag13.09.2014 14:14
Social Call
von Christof Lais Sperl
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Flaschenpost

Einer war darunter, der gern lange in die Sonne starrte und Farbscheibenketten, Reihen bunter Plättchen und verschlungener Jetonschnüre sah, die durchs Gesichtsfeld zogen. Drückte er, den Hinterkopf tief im Nacken, auf die Lider der geschlossenen Augen, entstanden grüngelbgoldene Muster in sich verschlungener Spiralgitter, die sich Pfauenrädern gleich langsam öffneten und schlossen. Im Klassenraum, in dessen stickiger Luft das erzwungene Stillsitzen zunächst die Seele erhitzte und später auf den Körper zuverlässig lähmend wirkte, wurden ihm die bewegten Bilder zu rauschhaftem, träumerischem Zeitvertreib, denn auch der traurige Fensterblick auf das kleine rosafarbene Nebengebäude gab auch nicht viel mehr her als die paar rechteckigen Bildausschnitte mit den schlauen Krähen darin, die ihn mit ihren krummen Rücken von Baum herunter beobachteten.

Der Junge brauchte Ablenkung, denn er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch, das allerunansehnlichste unter den Kindern - so dachten sich in ihm trübselige Gedanken, die solcherart gingen, dass die Welt nurmehr dazu konstruiert wäre, ihn zu betrügen, und dass das All mit allem Drum und Dran von einer nicht näher bestimmten Gottheit als Bühne des vollendeten Schmierentheaters erbaut worden wäre, einer großen unverschämten Obstruktion, eigens dafür geschaffen, ihn hinters Licht zu führen. Das ihn wie die Krähen im Baum verstohlen beobachtende und dazu auch noch anmaßend lächelnde Universum wußte, wie grotesk unvollendet der sich täglich mehrfach im Spiegel betrachtende Simplizissimus doch war, wie abgrundtief einfältig er aus- und dreinschaute - und er wie blöde durch sein Leben trottete. Also spielten alle perfekt und mit einem vom Rausch schlechter Absichten gesättigten Vergnügen ihre vorbestimmten Rollen weiter. Ein Schnäppchen hatte er ihnen allerdings bereits geschlagen, denn die Darsteller schienen zu glauben, er wäre noch nicht dahinter gekommen und verstanden noch nicht, dass er alles längst durchschaut hatte. Ihren Blick in seine Gedankenwelt hielt er nur bei bestimmten und oft wiederkehrenden Zuständen tiefer Müdigkeit für möglich. Manchmal aber dachte er, sie hätten bloß Mitleid, wollten ihn schonen und ihm die entsetzliche Diagnose, die doch so schnell und beiläufig mitzuteilen gewesen wäre, nicht zumuten. Sie mussten sich anstrengen den Schein zu wahren, denn der Junge fragte nach, doch das Milieu reagierte wohlüberlegt auf die gesetzten Reize. Nein, beeilten sie sich zu sagen, es ist alles in Ordnung, du siehst doch ganz nett aus, du bist doch nur einer unter vielen. Doch für den, der bittere Pillen sucht, bedeutet ganz nett auch ziemlich weit oben auf der Vogelscheuchenskala. War die relativierende Bezeichnung ein heimlicher Hinweis auf diesen riesigen und umfassenden Betrug? Die schnellen schlauen Reaktionen auf  die herausfordernde Befragung waren für das ewige Opfer ein Beweis mehr für den betrügerischen Zustand der Welt, in der er dazu verdammt war, die undankbare, aber zentrale Rolle des Abscheulichsten zu spielen. Er, der mit der wasserkopfartigen hohen Stirn, den mit Nivea darübergepappten widerspenstigen Haaren, diesen ständig anzuklebenden weibischen Locken wie es beim alten Twain heißt, der mit den läppisch nach unten weisenden Schlechtelaune-Mundwinkeln und der schon früh verordneten Apollo-Brille darüber, die die Schweineaugen noch kleiner machte, als sie ohnehin schon waren - und dem im Spiegelbild regelmäßig mit hoher Aufmerksamkeit kontemplierten und als traurig befundenen leptosomen Körperbau. Derjenige also war er, welcher mit seinem Eigen am liebsten gar nichts zu tun haben mochte, der sich selbst ohrfeigte, während er in den Spiegel sah, aber dennoch dem Genuß wohligen Nervenkitzels nicht widerstehen konnte, das Abbild täglich in Gänsehaut aus rundem gerahmtem Abbild zu betrachten, genau so wie er das den Hals einschnürende Schaudern liebte, welches ihm über den Rücken lief, während er die Geleise vor einem herannahenden Zug mehrfach knapp noch überquerte. Also drückte er weiter grüngelbgoldene Muster, starrte in die Sonne, vervollkommnete seine nabelschauende, dünkelhafte Gedankenwelt allumfassender Melancholie und wartete auf all das Freudlose, was im Leben sonst noch kommen sollte.

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Einar Inperson
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1675
Wohnort: Auf dem Narrenschiff


Beitrag13.09.2014 15:10
Re: Flaschenpost. Aus: Social Call
von Einar Inperson
Antworten mit Zitat

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:
Flaschenpost

Einer war darunter, der gern lange in die Sonne starrte und Farbscheibenketten, Reihen bunter Plättchen und verschlungener Jetonschnüre sah, die durchs Gesichtsfeld zogen. Drückte er, den Hinterkopf tief im Nacken, auf die Lider der geschlossenen Augen, entstanden grüngelbgoldene Muster in sich verschlungener Spiralgitter, die sich Pfauenrädern gleich langsam öffneten und schlossen. Im Klassenraum, in dessen stickiger Luft das erzwungene Stillsitzen zunächst die Seele erhitzte und später auf den Körper zuverlässig lähmend wirkte, wurden ihm die bewegten Bilder zu rauschhaftem, träumerischem Zeitvertreib, denn auch der traurige Fensterblick auf das kleine rosafarbene Nebengebäude gab auch nicht viel mehr her als die paar rechteckigen Bildausschnitte mit den schlauen Krähen darin, die ihn mit ihren krummen Rücken von Baum herunter beobachteten.

Der Junge brauchte Ablenkung, denn er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch, das allerunansehnlichste unter den Kindern - so dachten sich in ihm trübselige Gedanken, die solcherart gingen, dass die Welt nurmehr dazu konstruiert wäre, ihn zu betrügen, und dass das All mit allem Drum und Dran von einer nicht näher bestimmten Gottheit als Bühne des vollendeten Schmierentheaters erbaut worden wäre, einer großen unverschämten Obstruktion, eigens dafür geschaffen, ihn hinters Licht zu führen. Das ihn wie die Krähen im Baum verstohlen beobachtende und dazu auch noch anmaßend lächelnde Universum wußte, wie grotesk unvollendet der sich täglich mehrfach im Spiegel betrachtende Simplizissimus doch war, wie abgrundtief einfältig er aus- und dreinschaute - und er wie blöde durch sein Leben trottete. Also spielten alle perfekt und mit einem vom Rausch schlechter Absichten gesättigten Vergnügen ihre vorbestimmten Rollen weiter. Ein Schnäppchen hatte er ihnen allerdings bereits geschlagen, denn die Darsteller schienen zu glauben, er wäre noch nicht dahinter gekommen und verstanden noch nicht, dass er alles längst durchschaut hatte. Ihren Blick in seine Gedankenwelt hielt er nur bei bestimmten und oft wiederkehrenden Zuständen tiefer Müdigkeit für möglich. Manchmal aber dachte er, sie hätten bloß Mitleid, wollten ihn schonen und ihm die entsetzliche Diagnose, die doch so schnell und beiläufig mitzuteilen gewesen wäre, nicht zumuten. Sie mussten sich anstrengen den Schein zu wahren, denn der Junge fragte nach, doch das Milieu reagierte wohlüberlegt auf die gesetzten Reize. Nein, beeilten sie sich zu sagen, es ist alles in Ordnung, du siehst doch ganz nett aus, du bist doch nur einer unter vielen. Doch für den, der bittere Pillen sucht, bedeutet ganz nett auch ziemlich weit oben auf der Vogelscheuchenskala. War die relativierende Bezeichnung ein heimlicher Hinweis auf diesen riesigen und umfassenden Betrug? Die schnellen schlauen Reaktionen auf  die herausfordernde Befragung waren für das ewige Opfer ein Beweis mehr für den betrügerischen Zustand der Welt, in der er dazu verdammt war, die undankbare, aber zentrale Rolle des Abscheulichsten zu spielen. Er, der mit der wasserkopfartigen hohen Stirn, den mit Nivea darübergepappten widerspenstigen Haaren, diesen ständig anzuklebenden weibischen Locken wie es beim alten Twain heißt, der mit den läppisch nach unten weisenden Schlechtelaune-Mundwinkeln und der schon früh verordneten Apollo-Brille darüber, die die Schweineaugen noch kleiner machte, als sie ohnehin schon waren - und dem im Spiegelbild regelmäßig mit hoher Aufmerksamkeit kontemplierten und als traurig befundenen leptosomen Körperbau. Derjenige also war er, welcher mit seinem Eigen am liebsten gar nichts zu tun haben mochte, der sich selbst ohrfeigte, während er in den Spiegel sah, aber dennoch dem Genuß wohligen Nervenkitzels nicht widerstehen konnte, das Abbild täglich in Gänsehaut aus rundem gerahmtem Abbild zu betrachten, genau so wie er das den Hals einschnürende Schaudern liebte, welches ihm über den Rücken lief, während er die Geleise vor einem herannahenden Zug mehrfach knapp noch überquerte. Also drückte er weiter grüngelbgoldene Muster, starrte in die Sonne, vervollkommnete seine nabelschauende, dünkelhafte Gedankenwelt allumfassender Melancholie und wartete auf all das Freudlose, was im Leben sonst noch kommen sollte.


Hallo Christof,

was deine Vorstellung auf dem Roten Teppich schon versprach, erfüllst du hier mit diesem Text. Was soll man dazu noch groß sagen, als großartig in meinem Lesen.

Allein die fett markierte Stelle mag mir nicht ganz zu der sonstigen Qualität passen. Aber vielleicht ist das auch nur Geschmackssache.


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rieka
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Beiträge: 816



Beitrag13.09.2014 23:14

von rieka
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Hallo Christof,

Bei deiner Geschichte läuft es mir kalt den Rücken hinunter. So viel Selbstentwertung, Isolation und Einsamkeit.  

Eins ist mir nicht klar. Spricht der Protagonist neben sich stehend über sich selbst, oder gibt es einen Erzähler, der über den Protagonisten spricht. Ich erlebe es so, als würdest du beide Formen hin und her springen lassen.
Ein Beispiel:
WER ist der Meinung, dass der Junge nur wenig begabt ist. Der Junge selbst, oder ein Erzähler. Die Gedankengänge des Jungen deuten nicht darauf hin. Ein Außenstehender könnte sein Verhalten jedoch so interpretieren. Der Außenstehende könnte aber wiederum die Gedanken des Jungen nicht wissen.
Ein anderes Beispiel:
WER ist der Meinung, dass der Junge Abwechslung braucht.
Wer also erzählt den Text? Erzählt der Junge sich selbst oder ein Erzähler über den Jungen? Oder springst du hin und her?
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Jenni
Geschlecht:weiblichBücherwurm


Beiträge: 3310

Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag14.09.2014 00:47

von Jenni
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Sehr fasziniert gelesen. smile

Deine Bilder finde ich sehr stark und deine Sätze, die selbst Reihen bunter Plättchen und verschlungener Jetonschnüre sind. Die haben mich hineingezogen in die Enge der Welt dieses Jungen, der schließlich nicht immer nur auf das rosafarbene Nebengebäude gucken konnte, und sich deshalb in einen etwas verbitterten Weltekel hineindenkt. Seine Gedanken sind schon ziemlich ... ich sage mal erwachsen. Das ist vielleicht ein Grund, aber auch deine Sprache, weshalb mir der Text etwas altmodisch wirkt. Ich weiß aber natürlich auch gar nicht, in welcher Zeit er spielt und welchem Zusammenhang er steht. „Aus Social Call“, soll heißen, es ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text? Biographisches hast du angegeben, ist es die Kindheitsgeschichte eines später erwachsenen Protagonisten? Aber nun, du hast auch Kindergeschichte angegeben – eine Kindergeschichte ist das hier wirklich nicht.

Deine Sprache ist massiv Adjektiv-lastig, und diese Adjektive sind nicht alle gleich stark. Ich tue mich aber schwer, Stellen zu finden, wo ich sie wirklich streichen könnte, ohne dass der wundervolle Rhythmus darunter leiden würde – du weißt ganz offenbar, was du tust. Ja, die schlauen Krähen im ersten Absatz, die müssten vielleicht nicht schlau sein. (wenn ich jetzt unbedingt etwas finden möchte.)

Zitat:
Der Junge brauchte Ablenkung, denn er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch, das allerunansehnlichste unter den Kindern (...)

Diese Aussage ist so schon hart, aber ich habe den Verdacht, sie könnte noch stärker wirken ohne die Superlative, weil sich ihre Schlagkraft gerade aus der Beiläufigkeit speist: Er war nur wenig begabt, und, schlimmer noch, das unansehnlichste unter den Kindern.

Die trübseligen Gedanken, die sich „in ihm dachten“ – die finde ich übrigens toll!

Ja, ganz interessant. Ich werde mir dich merken, bin gespannt was da noch kommt.

VG Jenni
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Soraja
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Beiträge: 227

DSFx


Beitrag14.09.2014 11:28

von Soraja
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Hallo Christof Lais Sperl,

Es wurden ja schon viele gute Gedanken zu Deinem Text hier geäußert, so dass ich jetzt einfach schreibe, wie es mir mit Deinem Text geht.

Mir sind die Sätze zu gestelzt und es fällt mir beim Lesen sehr schwer, mich auf den Inhalt zu konzentrieren, weil ich immer versucht bin, die Sätze umzustellen oder zu vereinfachen.

....Aber dann, einige große Schriftsteller (wie Thomas Mann) haben ja auch einen ähnlichen Stil zu schreiben.

Lieben Gruß Soraja


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MartinD
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Beitrag14.09.2014 12:23

von MartinD
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Hey Christof Lais Sperl,

ein seltsamer Text, der sehr mühsam zu lesen ist und bei mir keine Wirkung hinterließ, außer dem erleichtert Aufatmen, durch zu sein.

Von Kleinigkeiten, wie ein Schnappchen statt ein Schnippchen zu schlagen, Wortwiederholung (2x auch weiter vorne) u.Ä. rede ich jetzt nicht.
Es wäre es für den Leser ein Entgegenkommen, den Text zu strukturieren. Absätze. Keine solchen Bandwurmsätze. Und letztlich kommt es mir so vor, als hättest du bewusst störrische Formulierungen genutzt, nur um Brillanz zu zeigen. Dadurch werden Gefühle, die aufkommen wollen, bei mir gleich wieder niedergestriegelt.

Es kommt halt drauf an, was man mit Text bezwecken möchte. Für mich bleibt es ein Versuch, raffiniert zu schreiben, den ich aber als misslungen erachte.

Aber zum Glück sehen das andere ja anders smile


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Akiragirl
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Beitrag14.09.2014 12:42
Re: Flaschenpost. Aus: Social Call
von Akiragirl
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Hallo Christof,

ich schließe mich im Soraja und MartinD an. Auch ich fand es eher anstrengend als anregend, diesen Text zu lesen. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass du dich beim Schreiben angestrengt hast, um möglichst originelle Wendungen, Vergleiche und Sprachbilder zu finden. Soetwas ist gut, es gibt einem Text Tiefe und Charme. Dein Text aber scheint mir unter all dem stilistischen "Wust" zu ersticken. Es ist schlicht und ergreifend zuviel. So wirkt der Text auf mich sehr artifiziell und vermittelt keine Gefühle.

Sätze wie dieser hier:
Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:
Im Klassenraum, in dessen stickiger Luft das erzwungene Stillsitzen zunächst die Seele erhitzte und später auf den Körper zuverlässig lähmend wirkte, wurden ihm die bewegten Bilder zu rauschhaftem, träumerischem Zeitvertreib, denn auch der traurige Fensterblick auf das kleine rosafarbene Nebengebäude gab auch nicht viel mehr her als die paar rechteckigen Bildausschnitte mit den schlauen Krähen darin, die ihn mit ihren krummen Rücken von(m) Baum herunter beobachteten.

sind symptomatisch. Erstens ist er extrem lang und verschachtelt, sodass ich am Ende des Satzes schon nicht mehr weiß, was ich da gerade gelesen habe. Also muss ich den Satz ein zweites Mal lese. Dabei fallen mir dann viele künstliche Metaphern auf: Was bedeutet es, wenn "die Seele erhitzt" wird? Ich habe dazu keinerlei Assoziation, es ist wie eine leere Worthülse, die letztlich nichts aussagt. Du hast zweimal kurz hintereinander "auch" drin, das nicht gut klingt. Du schreibst, er träumt lieber als aus dem Fenster zu sehen, weil es da eben nicht viel zu sehen gibt. Spätestens hier würde ich den Satz abbrechen "gab auch nicht viel her" - fertig. Denn danach schränkst du die Aussage, die du gerade gemacht hast, wieder ein. Es gibt nicht viel her - aber es gibt Krähen und Bäume, gerade vorher hatte ich ein ganz anderes Bild im Kopf, nämlich das vom rosafarbenen Nebengebäude. Jetzt plötzlich sehe ich die Krähen, die auf den Jungen herabblicken. Da ist keine Konsistenz in der Bilderwelt des Lesers, und das macht es so schwer, sich auf den Text zu konzentrieren.

Natürlich ist das Geschmackssache. Wie man sieht gab es ja auch einige Kommentatoren, denen gerade dieser Stil vielleicht gefallen hat.

Liebe Grüße
Anne


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crim
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Beitrag14.09.2014 13:06

von crim
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Hi Christof,
ich muss mich leider den letzten Eindrücken anschließen. Weniger wäre für mein Empfinden hier mehr gewesen. Die Textwirkung entfaltet sich nicht so, wie sie es könnte, weil manche Sätze so wirken, als wären sie extra darauf angelegt, so etwas wie sprachliche Raffinesse zu zeigen. Dafür sind die Sätze allerdings nicht gut genug aufgebaut. Auch ein langer Satz sollte sich meiner Meinung nach einfach erschließen. Ein langer Satz sollte mir unvermeidlich vorkommen. (Er musste so geschrieben werden, anders ginge etwas verloren.) Hier ist es leider umgekehrt. Aber! Ich glaube, wenn du versuchst, die sprachliche Trickkiste aus dem Vordergrund des Textes zu rücken, dann wird was daraus. Du bist sicher versiert im Umgang mit Sprache. Versuch nicht, das mit Gewalt zu beweisen! Dann wird es ein guter Text.
LG Crim
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Einar Inperson
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Beitrag14.09.2014 13:17

von Einar Inperson
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Sehr interessant, die Rückmeldungen zu lesen, vor allem, da ich ihnen nicht folgen kann.

Weder finde ich die Sätze zu lang. Lediglich zwei Sätze sind über das 'normale' Maß hinaus konzipiert und gerade das finde ich besonders gelungen, da sie sich jeweils mit einem Thema beschäftigen.

Noch erscheinen sie mir gerade deshalb lediglich der Virtuositätsdarstellung geschuldet.

Mir war auch das Wiederlesen ein Vergnügen.


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Rainer Zufall
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Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag14.09.2014 13:32

von Rainer Zufall
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Ich muss dem MartinD Recht geben.
Aber ich sollte vorweg schicken, dass man, wenn man das macht, was du in deinem Text hier probierst, gut schreiben können muss, nur verlierst du das Maß.

Ganz prinzipiell ist die Art, wie du schreibst, schwierig. Man muss sprachlich gewandt sein, was du bist, man muss aber auch aufpassen, denn auf einmal stehen statt des Inhalts die Satzkonstruktionen im Vordergrund, die Stilkünste, die Formulierungsschönheit, die Außerordentlichkeit.
Da fällt dann nicht nur jeder Patzer total ins Gewicht, sondern man schrappt zu leicht an der Gefahr entlang, selbstverliebte Dichtkunst zu produzieren oder zumindest in den Verdacht zu geraten.
Ich könnte nicht so schreiben wie du, das muss ich mal ganz deutlich sagen, das ist schon alles gut, was du da hinzauberst und welchen Sog du erzeugst. Ein toller Titel, wunderbare Bilder. Alles sehr geschliffen. Jedenfalls oft. Aber aus meiner Sicht wärs gut, wenn du ab und an mal einen Zacken rausnimmst, auf eine gewisse Grundverständlichkeit achtest, nicht nur durch die Absätze, sondern bestimmte Entscheidungen überprüfst (warum unbedingt der auktoriale Erzähler? Warum die vielen Inhaltswiederholungen) und Formulierungen nicht einfach drinlässt, weil sie gut klingen, und auch inhaltlich auf eine gewisse logische Stringenz achtest.

Inhaltlich sehe ich eine auktorial gefasste Schilderung eines jungen Mannes, der in den Augen aller (und seiner eigenen) nicht nur hässlich und Außenseiter ist, sondern auch dumm. Und der sich in dieser Isolation selbstbespiegelt. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich geh mal durch den Text durch, das macht es hoffentlich anschaulicher, was ich meine:


Zitat:
Einer war darunter, der gern lange in die Sonne starrte und Farbscheibenketten, Reihen bunter Plättchen und verschlungener Jetonschnüre sah, die durchs Gesichtsfeld zogen. Drückte er, den Hinterkopf tief im Nacken, auf die Lider der geschlossenen Augen, entstanden grüngelbgoldene Muster in sich verschlungener Spiralgitter, die sich Pfauenrädern gleich langsam öffneten und schlossen.

Das sind zwei Sätze, die exakt dasselbe ausdrücken. Warum legst du Wert auf diese Redundanz? Meine Idee ist, dass du mit deinem Stil mehr Begeisterte "kriegen" könntest, wenn du trotzdem, also trotz deines Überbordens, auf das nach vorne Gehen des Textes achtest. Dich immer fragst, ob du das jetzt wirklich brauchst. Ob die Geschichte das braucht.

Zitat:
Im Klassenraum, in dessen stickiger Luft das erzwungene Stillsitzen zunächst die Seele erhitzte und später auf den Körper zuverlässig lähmend wirkte, wurden ihm die bewegten Bilder zu rauschhaftem, träumerischem Zeitvertreib, denn auch der traurige Fensterblick auf das kleine rosafarbene Nebengebäude gab auch nicht viel mehr her als die paar rechteckigen Bildausschnitte mit den schlauen Krähen darin, die ihn mit ihren krummen Rücken von Baum herunter beobachteten.

Jetzt sitzt er im Klassenraum, ihm ist langweilig und er kramt die Bilder zum Zeitvertreib hervor.
Das doppelte auch stört hier total.
In diesem Absatz würd ich auch auf Redundanz achten. Ich hab mal alles markiert, was amS nicht da sein müsste. Immer meine Meinung, klar.
Zum Teil sind die Adj. überflüssig, weil sie keine neue Info auf die Sache geben, zum Teilbehaupten sie Dinge, wie "schlaue" Krähen, die in einem anderen Zus. passen würden, hier aber ab vom Wege führen. Man fragt sich halt gleich, wieso sind jetzt die Krähen schlau? Und schon bist du weg vom Buben.
Inhaltliche Ungenauigkeit: Was sieht er denn nun? Ein rosafarbenes Nebengebäude oder einen Baum mit Krähen? Klar, man kann beides sehen. Aber so, wie du das formulierst, in der Genauigkeit, da fällt das dann auf.
Was ich dir noch sagen will: Du beginnst hier den Satz mit dem Ort, an dem nun seine Bilder "laufen" lernen. Der Schwerpunkt waren aber noch die Bilder und der Junge. Und jetzt nennst dunicht nur den Ort, das Klassenzimmer, sondern schiebst eine ziemlich ausführliche Betrachtung des Stillsitzens im Klassenzimmer ein. Damit verlierst du den Fokus von den Bildern und dem Jungen, und schon hast du auch Leser "abgelenkt" von deinem eigentlichen Ziel. Ich finde, das ist eine furchtbar wichtige Sache, eben dieses Maßnehmen an der eigenen "Blickrichtung". Man kann icht einfach mitte hinein Dinge schreiben, die einem "einfallen", sondern man sollte schauen, on man diese Dinge braucht, und wenn ja, dass man sie so setzt, dass man den Leser nicht in die Irre führt.

Zitat:
Der Junge brauchte Ablenkung, denn er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch, das allerunansehnlichste unter den Kindern - so dachten sich in ihm trübselige Gedanken, die solcherart gingen, dass die Welt nurmehr dazu konstruiert wäre, ihn zu betrügen, und dass das All mit allem Drum und Dran von einer nicht näher bestimmten Gottheit als Bühne des vollendeten Schmierentheaters erbaut worden wäre, einer großen unverschämten Obstruktion, eigens dafür geschaffen, ihn hinters Licht zu führen. Das ihn wie die Krähen im Baum verstohlen beobachtende und dazu auch noch anmaßend lächelnde Universum wußte, wie grotesk unvollendet der sich täglich mehrfach im Spiegel betrachtende Simplizissimus doch war, wie abgrundtief einfältig er aus- und dreinschaute - und er wie blöde durch sein Leben trottete.

Überflüssige Adj. markier ich jetzt nicht mehr. Jenny war es glaube ich, die die Superlative hier anmahnte.
Der Beginn des Absatzes ist ansonsten cool. Dem Leser werden seine "Mängel" mitgeteilt und seine Erklärung dazu: Die Welt ist nur dazu da, ihn reinzulegen.
Diese letzte Erkenntnis aber bebilderst du gleich dreimal: Welt zum Betrügen konstruiert / Schmierentheater / unverschämte Obstruktion. Warum dreimal? An Inhalt bringt es kein einziges Quäntchen Mehrwert, aber an Leserwirrung, der muss sich nämlich durch dein kompliziert verbautes Schmierentheater durchwühlen.
Danach dann, ohne jeden Absatzwechsel, wechselst du auch die Lesesicht. Weg von seiner Selbsterklärung, warum es ihm schlecht geht, weg von dem Jungen, schwuppst du auf ein neues Subjekt: Jetzt beobachtet das Universum. Wieder so eine Fokussache, mit der du den Leser unnötig verwirrst.
Was soll das sein, das Universum? Wer ist es? Gott? Die Menschen? Die Welt? Sorry, das ist zu ungenau, und dann die Charakterisierung des Universum: es beobachtet wie eine Krähe und lächelt dazu anmaßend. Besonders letzteres fand ich einfach überzogen Richtung Pathos.

Zitat:
Also spielten alle perfekt und mit einem vom Rausch schlechter Absichten gesättigten Vergnügen ihre vorbestimmten Rollen weiter.

Gerade waren wir beim Universum. Und schon wieder wechselst du: Alle spielen. Und wer ist jetzt alle? Wenn das Universum nur ein Synonym für seine soziale Umwelt sein sollte, warum schreibst du das dann nicht gleich?
Was soll das sein, ein Rausch schlechter Absichten? Warum gesättigtes Vergnügen? Wer bestimmt ihre Rollen vor? Das ist alles zu überladen, winkt mit dauernd neuen Assoziationen und Einfällen. Die Geschichte und ihren Verlauf, den Jungen und sein Leid, das verlierst du allerdings aus dem Auge dabei.

Zitat:
Ein Schnäppchen hatte er ihnen allerdings bereits geschlagen, denn die Darsteller schienen zu glauben, er wäre noch nicht dahinter gekommen und verstanden noch nicht, dass er alles längst durchschaut hatte.

Das muss Schnippchen heißen und nicht Schnäppchen. Ein Schnäppchen macht man beim Einkaufen. Du meinst, jemand ist so schlau, dass er dem anderen ein Schnippchen schlägt, ihn reinlegt.
So jetzt ist die Welt / das Universum / Bühne  / Darsteller. Dann können "alle" von vorher und das Universum nicht identisch sein. Die Leute sind ja nur Darsteller auf der Bühne der Schmierenkomödie Universum. Hmmm. Du bemühst wirklich den gesamten möglichen Kontext an Redewendungen und Bildern, verlierst aber dabei die Exaktheit. Später kommt dann noch das Milieu dazu. Gut, so ein bisschen was Soziologisches dazu. Ich will dich nicht ärgern mit meiner Ironie, das ist nicht meine Absicht. Aber ich will dir sagen, dass es nicht gut ist, den Sack der Ausdrucksmöglichkeiten einfach mal so auf den Tisch zu schütten, nur weil man das kann, taugt nichts, wenn es auf Kosten der Klarheit geht. Da wäre weniger wirklich mehr.

Auch bei der Frage, wer wen durchschaut, ob er das Universum oder das Universum ihn oder doch beides, bleibst du leider unklar.

Soviel mal. Ist schon recht aufwendig, wenn man Satz für Satz so genau durchgeht. Aber ich wollte dir meine Gedanken halt auch nachvollziehbar machen.
Viele Grüße
die Rainerin / (Rainer Zufall)
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crim
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Beitrag14.09.2014 13:35
Re: Flaschenpost. Aus: Social Call
von crim
Antworten mit Zitat

Hi Einar. Dann versuche ich dir anhand noch eines Satzes zu verdeutlichen, was für mich den Eindruck aufkommen lässt:

Zitat:
Der Junge brauchte Ablenkung, denn er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch, das allerunansehnlichste unter den Kindern - so dachten sich in ihm trübselige Gedanken, die solcherart gingen, dass die Welt nurmehr dazu konstruiert wäre, ihn zu betrügen, und dass das All mit allem Drum und Dran von einer nicht näher bestimmten Gottheit als Bühne des vollendeten Schmierentheaters erbaut worden wäre, einer großen unverschämten Obstruktion, eigens dafür geschaffen, ihn hinters Licht zu führen.


Ich habe ein paar Stellen fett markiert. 1. Stelle: Meiner Meinung nach mehr Wirkung, wenn Punkt statt denn-Anbindung. Wir haben im vorherigen, von Akiragirl bereits herausgegriffenen Satz eine sehr ähnliche denn-Anbindung. Der Junge brauchte Ablenkung. Er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer noch ... 2. und 4. fette Stelle: Dopplung der ,und-Anbindung. 3. fette Stelle: Bindestrich-Anbindung eines Satzes, der ruhig einfach beginnen dürfte. Er hat inhaltlich nicht viel mit dem Vorangehenden zu tun.



Zitat:
Das ihn wie die Krähen im Baum verstohlen beobachtende und dazu auch noch anmaßend lächelnde Universum wußte, wie grotesk unvollendet der sich täglich mehrfach im Spiegel betrachtende Simplizissimus doch war, wie abgrundtief einfältig er aus- und dreinschaute - und er wie blöde durch sein Leben trottete.

1. fette Stelle: wirkt ungelenk auf mich, lässt sich nicht in einem Leseakt erfassen. 2. fette Stelle: Fehlstellung, müsste wahrscheinlich heißen = wie blöde er ...

Das nur kurz exemplarisch für meine Probleme mit dem Text.
LG Crim
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Christof Lais Sperl
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Beitrag20.09.2014 15:44
Fernsprecher
von Christof Lais Sperl
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Fernsprecher

Es ist ein Friedwald am Rande der Stadt. Eine Aschenwolke liegt in seiner Erde. Darin wächst ein Baum. Ascheteilchen sind schon in seinen Wurzelkanälen aufgestiegen; allmählich zerschmilzt die unterirdische Wolke und bildet, nur für sich allein betrachtet, das innere Abbild  der großen Pflanze, in die sie eingezogen ist.

An der Mauer am Baum steht eine gläserne Kabine, wie ein aufrecht gestellter, gelb gerahmter Schneewittchensarg. Darin kramt ein Mann umständlich eine Packung filterloser Zigaretten aus der Manteltasche, während er mit der anderen Hand nach ein paar Geldstücken für den klobigen Fernsprecher sucht. Umständlich soll er’s tun! Dies ist eine einfache Geschichte. Denn ohne Talent kann nichts wirklich Gutes geschrieben werden und in Groschenromanen wird alles nun einmal wortreich getan. Das bringt Zeilenhonorar und nebenbei das klapprige Satzgerippe in den richtigen Takt. Die Geschichte wird länger und wirkt, als wäre sie in Zeitlupe getaucht.

Im desinterssiert wandernden Blick sieht er nebenbei, wie jemand mit kräftigem Schwung eine Autotür zuwirft. Ein grauer Mittfünfziger lässt, noch während sich das satte Schließgeräusch ausbreitet, den wichtigtuerischen Blick bilanzierend über die hügelig gewellte Masse der im Nieselregen dampfenden Blechdächer schweifen. Er tut dies um festzustellen, ob zufällige Passanten seine Mondvisage mit der schweren, schwarzen Karosse in Verbindung gebracht haben. Den durch das satte Zuschlagen ausgelösten, fordernd forschenden aber dennoch von ihm  fast beiläufig kurz gehaltenen Blickkontakt mit der augenscheinlich glotzenden Umwelt wertet der Graue als respektvolle Anerkennung desjenigen, der es nicht nur in der Hierarchie der Kreditwürdigen geschafft hat. Es sogar geschafft hat zu denen zu zählen, die gehört und gesehen werden, obwohl sie oft nicht viel zu sagen haben.

Der Mann in der Fernsprechzelle hat in all seiner Gleichgültigkeit für belanglosige Prahlerei den Blick ganz schnell gesenkt. Eine Geste, die der blitzschnell beobachtende Wichtigmann als verschämtes Eingeständnis der Unterlegenheit des Gegenübers mißinterpretiert, ein triumphierendes Fehlurteil, das seinem guten Befinden dem vermeintlichen Schwanzeinzieher und dem Selbst gegenüber sehr zuträglich ist. Wohin man auch blickt, es ist doch immer falsch! resümiert der Mann im Mantel, der langsam und gründlich sein Geld  in den Münzschlitz wirft, das auf seinem Weg nach unten einen Katarakt metallisch klingender Reaktionen auslöst. Er hört dem klingelnden Rasseln bis zum Ende zu, zündet sich eine der Zigaretten an, und ein langgezogener Klang bedächtig  pirschender, schwerer, nasser Kieswegschritte zischelt hinauf zu einem tiefen, ersten Lungenzug. Der Mann wählt eine Nummer, hört erst den Wählton, dann den langsamen, runden Klang des Freitones aus dem schweren und schwarzen, noch kalten Bakelithörer an sein Ohr dringen. Der Hörer ist durch ein metallspiralenummanteltes Kabel in der Art eines Duschschlauches mit dem an der Wand montierten Apparat verbunden. Nikotin flutet an, wird zu Beschleunigung, Kick, kräftigem Puls, zu Kraft, und manchmal zittrig kalten Fingern. Die Beste ist immer noch die erste am Morgen, sagt der Betäuber im Kopf, und alle darauf Folgenden sind nur blasse Schatten dieser Frühstückskippe. Die Sucht nagt und ackert zeitig schon mitten durch den Körper: Vom Solarplexus zieht sie ganz langsam die Brusthöhle empor und ist gleich nach dem Aufstehen schon zu spüren. Doch dann legt der mit Glücksgefühlen getränkte blaue Morgennebel sich satt und angenehm weich mit dem erlösenden, dumpfen Schmerz auf Bronchien und Luftröhre, durchdringt kraftvoll Herz und Muskeln, der Betäuber zieht sich zufrieden ins Kuckucksuhrengehäuse der Seele zurück und kann einstweilen an den Aktor übergeben. Das Frühstück muss kurz sein, um das vom heißen Kaffee begleitete Abbrennen des ersten Glimmstengels und den darauf folgenden Tatendrang nicht hinauszuzögern. Zu Erkältungszeiten wird der Tabakgeschmack in einer übertrieben fülligen Rundheit unangenehm klebrig, bekommt einen beißenden Oberton und greift wie eine hölzerne Hand in Mund und Rachen - doch wäre das bißchen Maulkorbgefühl noch lange kein Grund, der wunderbaren Sucht zu entsagen.



Der Mann räuspert seine Stimme frei und eiskalter Wind bahnt sich seinen Weg durch die undicht klappernde Glastür, gegen die der stärker gewordene Regen klatscht. Und noch bevor der sich am anderem Ende befindliche, aus dem Schlaf aufgeschreckte alte Mann versuchen kann, aus der monotonen Stimme des nächtlichen Quälgeistes Rückschlüsse auf ihren Besitzer zu ziehen und sich der noch gültigen Regel entsprechend mit seinem Namen zu melden, hebt die Fernsprecherstimme an, unterbrechungslos und unabwendbar, ganz ohne Platz für Einwürfe in einem milden, doch bestimmten Befehlston zu sprechen. Die Stimme klingt  nach der eintönig und luftlos wimmernden sonntäglichen Betlitanei süddeutscher Radioprogramme (Frucht deines Leibes und so weiter), und, da sie so tief und dunkel ist, auch ein wenig nach dem nur vom typischen Xylophongeklingel unterbrochenen Sprechpartrhythmus aus Zappas Meisterstück I’m the slime. Ihre Rede ist gut vorbereitet,  hört sich aber nicht so an, als würde bloß vorgelesen. Der Angerufene kann sich trotz seiner Müdigkeit den Wörtern nicht entziehen, muss zuhören, denn der Anrufer hat ohrenscheinlich all das, was er selbst noch nie besaß: Ruhe, Kraft und einen überzeugend kräftigen Ton, dem man auch in sicherer Entfernung kaum ausweichen kann. Er hat einen Klang mit der Wirkung eines Magnetfeldes, Macht, ihn in der Art eines Therapeuten zu verhören um mit aggressivem Stimulus möglichst viel an Response aus der dunklen Seele des Alten herauszuholen.


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Beitrag20.09.2014 16:03

von Lorraine
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Hallo Christof Lais Sperl

Kurzes Feedback nach erster Zweifachlektüre: Ja, mich hat es - ein Satz um den andren - durchgezogen. Sehr dichtes Brillieren. Danke fürs Teilen.

Lorraine
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Klemens_Fitte
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Beitrag20.09.2014 16:12

von Klemens_Fitte
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Hallo Christof Lais Sperl,

mir gefällt das, genau wie dein erster Einstand, vom 'Wurf' her sehr gut. Nur habe ich erneut das Gefühl: Es könnte, wenn an kleinen Stellschrauben gedreht würde, noch viel, viel besser sein.
Klar, ob du etwas veränderst, und falls ja, was und wie – die Entscheidung musst du selbst treffen; und deine Schreibe zeigt genügend Eigenständigkeit und handwerkliches Können, dass ich dir das auch zutraue. Anregungen könntest du aber hier jedenfalls bekommen.

Ich warte einfach mal ab, ob du an Textarbeit interessiert bist. Lohnen würde sie sich, denke ich.

Gruß,
Klemens


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Beitrag20.09.2014 18:08

von Einar Inperson
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Hallo Christof,

ich habe mich schon bei deinem ersten Beitrag geoutet. Dies hier unterstreicht meine Erwartungen an deine Texte. Ich folge deinen Sätzen mit steigender Leselust.

Spannend ist für mich der Ansatz von Klemens. Besser geht immer. Keine Frage. Wer würde behaupten können, dass er nicht bei manchen Sätzen unsicher wäre. Aber hier erscheint mir das als Diskussion auf hohem Niveau.

Deshalb auch ein Danke für diesen Text.

Zum Schluss noch ein kurzer Kritikpunkt. Schade finde ich, dass du noch keine Freude daran hast, öffentlich am Text in Austausch mit uns zu treten.


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Lorraine
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Beitrag20.09.2014 18:27

von Lorraine
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CLS hat Folgendes geschrieben:
... und ein langgezogener Klang bedächtig  pirschender, schwerer, nasser Kieswegschritte zischelt hinauf zu einem tiefen, ersten Lungenzug.


Das hier ist übrigens nicht nur - wie zu Filmbeginn angekündigt - "wie in Zeitlupe getaucht", sondern auch ein Close-up mit der Wiedergabe einer extrem sensiblen Tonabnahme ... effekth...aschend?
Bin ich zu leicht zu begeistern?

Auf jeden Fall funktioniert da ziemlich viel sehr gut. Die Frage ist, ob es noch besser ginge, ich verfolge das dann ...
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Klemens_Fitte
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Beitrag20.09.2014 18:32

von Klemens_Fitte
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Einar Inperson hat Folgendes geschrieben:
Spannend ist für mich der Ansatz von Klemens. Besser geht immer. Keine Frage. Wer würde behaupten können, dass er nicht bei manchen Sätzen unsicher wäre. Aber hier erscheint mir das als Diskussion auf hohem Niveau.


Richtig, es wäre – hoffe ich – eine Diskussion auf hohem Niveau; eben eines, das dem des Textes angemessen ist. Mir geht’s da auch gar nicht um ein Herummeckern um des Meckerns willen, keine Sorge – nicht jeder Feinschliff ist ein Glattschleifen.

Ich melde mich nochmal, wenn ich diesbezüglich ein paar Ansatzpunkte habe.


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tronde
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Beitrag20.09.2014 22:20
Re: Fernsprecher
von tronde
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Hallo!
Ja, ich merke, Du kannst mit Sprache umgehen, die Beschreibung der Nikotinwirkung zum Beispiel hat mir gut gefallen, viele Stilmittel, genaue Beobachtungen und Vermittlung/Visualisierung derer.

Aber wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, den ganzen Text zu lesen, wäre ich beim ersten Absatz ausgestiegen. Das lyrisch anmutende Bild der Aschewolke im Wald habe ich nicht verstanden.

Aber mir sind die Sätz zu lange, was natürlich an der Zeitlupenfunktion liegt, mit der Du Dich selbstironisch kommentierst. Für mich overkill.
Z.B. stehen zwischen "Hörer ist" und "verbunden" 16 Wörter, in denen ich mich frage, was dem Hörer passieren wird. Und dann passiert nichts. Nach mehr als 12 Wörten Sperrung fragt sich der Leserdurchschnitt sowieso, wer oder was da verbunden ist oder wird.
Gut, das ist eine Frage des Zielpublikums, des Zwecks des Textes und unter Umständen der literarischen Ambitionen.
Ich weiß nicht, wen ich jetzt inhaltlich zitiere: Jeder Schriftsteller sollte jeden Gegenstand, Menschen etc. genauestens beschreiben/rüberbringen können- das gelingt Dir sehr gut -, es aber in seinen Texten dann nicht machen (müssen).
[Ironie]Ich vermisse der Komplettheit halber auch eine Beschreibung des Feuerzeugs, mit der der Telefonzellenbakelithörermetallkabelbeobachter seine Zigarette entzündet. Wo hat er das denn hergezaubert?[/Ironie]

Fazit: Gutes Sprachgefühl, schöne Bilder, zuviel von Spielerei und vielleicht Beeindruckenwollen.
Ja, Du kannst schreiben. Ich bin gespannt auf einen Text, bei dem ich nicht das Gefühl habe, er sei geschrieben, um mir zu zeigen, wie gut da eineR die Sprache beherrscht, sondern bei dem ich dem Kopfkino seinen Lauf lassen kann.

Grüße
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Christof Lais Sperl
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Beitrag21.09.2014 09:42
Liebe Leute
von Christof Lais Sperl
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Meine Sätze sind zu lang - stimmt oft.
Die Aschewolke: Die wird im nächsten Verlauf erklärt.
Wem alles zu gestelzt klingt: Ich beschreibe eine Befreiung. Auch der Text wird zunehmend freier. Und deftiger, aggressiver, böser, humorvoller.
Danke für eure tolle Kritik - die kann ich gut gebrauchen!
Christof L. Sperl


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Beitrag22.09.2014 15:25
Social Call
von Christof Lais Sperl
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Liebe Mitmenschen,

die bisher eingestellten Texte gehören zur größeren Arbeit "Social Call". Was ein solches denglisches Ding ist, wird klar, wenn der Held (dieser ewige Loser) aus seiner verrauchten Bude herauskriecht um sein Leben endlich mal selbst in die Hand zu nehmen. Es ist eine Bezeichnung, die zwei BWL-Studenten im BMW auf der linken Autobahnspur nicht besser hätten erfinden können, aber leider stammt sie (wie auch die "kommerzielle Geste") aus dem allgemein üblichen Business-Sprech, der unsere Sprache so arg verklebt hat. Der Held ist arbeitsmäßig gezwungen, solchen Office-Sprech eine Zeit lang anzuwenden. Ich erkläre noch nicht genau, was der Ausdruck bedeutet.  Zugleich aber paßt die Bezeichnung so schön zur gewählten Technik, psychische Vorgänge darzustellen. Er erlebt seine inneren Schweinehunde und Drangsalierer (wie auch die Guten unter den seelischen Geister) wie Anrufer im Kopf, die ihn in ihre Richtungen drängen wollen.
Eure Kritik fließt, so weit ich es verantworten und leisten kann, ständig in den Text ein. Ich habe die neueren Versionen aber noch nicht eingestellt, weil ich erst einmal die Reaktionen auf die Fortsetzungsteile erfahren möchte. In jedem Falle aber sind eure Kritiken mehr als wertvoll! Der Textumfang bedingt, dass so manches erst nach ein paar weiteren Kapiteln richtig klar wird. Vielen Dank smile


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Beitrag22.09.2014 15:26
Social Call
von Christof Lais Sperl
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Liebe Mitmenschen,

die bisher eingestellten Texte gehören zur größeren Arbeit "Social Call". Was ein solches denglisches Ding ist, wird klar, wenn der Held (dieser ewige Loser) aus seiner verrauchten Bude herauskriecht um sein Leben endlich mal selbst in die Hand zu nehmen. Es ist eine Bezeichnung, die zwei BWL-Studenten im BMW auf der linken Autobahnspur nicht besser hätten erfinden können, aber leider stammt sie (wie auch die "kommerzielle Geste") aus dem allgemein üblichen Business-Sprech, der unsere Sprache so arg verklebt hat. Der Held ist arbeitsmäßig gezwungen, solchen Office-Sprech eine Zeit lang anzuwenden. Ich erkläre noch nicht genau, was der Ausdruck bedeutet.  Zugleich aber paßt die Bezeichnung so schön zur gewählten Technik, psychische Vorgänge darzustellen. Er erlebt seine inneren Schweinehunde und Drangsalierer (wie auch die Guten unter den seelischen Geister) wie Anrufer im Kopf, die ihn in ihre Richtungen drängen wollen.
Eure Kritik fließt, so weit ich es verantworten und leisten kann, ständig in den Text ein. Ich habe die neueren Versionen aber noch nicht eingestellt, weil ich erst einmal die Reaktionen auf die Fortsetzungsteile erfahren möchte. In jedem Falle aber sind eure Kritiken mehr als wertvoll! Der Textumfang bedingt, dass so manches erst nach ein paar weiteren Kapiteln richtig klar wird. Vielen Dank smile


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Beitrag27.09.2014 11:38
Flaschenpost und Fernsprecher. Verbesserte Version. Aus "Social Call"
von Christof Lais Sperl
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Flaschenpost
Einer war darunter, der gern lange in die Sonne starrte und Farbscheibenketten, Reihen bunter Plättchen und verschlungener Jetonschnüre sah, die durchs Gesichtsfeld zogen. Drückte er, den Hinterkopf tief im Nacken, auf die Lider der geschlossenen Augen, entstanden grüngelbgoldene Muster in sich verschlungener Spiralgitter, die sich Pfauenrädern gleich langsam öffneten und schlossen. Im Klassenraum, in dessen stickiger Luft das erzwungene Stillsitzen zunächst das Gemüt erhitzte und später auf den Körper zuverlässig lähmend wirkte, wurden ihm die bewegten Bilder zu rauschhaftem, träumerischem Zeitvertreib, denn der Fensterblick auf das traurige, kleine rosafarbene Nebengebäude gab auch nicht viel mehr her als die paar rechteckigen Bildausschnitte mit den schlauen Krähen darin, die ihn mit ihren krummen Rücken vom Baum herunter beobachteten.

Der Junge brauchte Ablenkung. Er war nur wenig begabt, und, viel schlimmer
noch, das unansehnlichste unter den Kindern. So dachten sich in ihm trübselige Gedanken die solcherart gingen, dass die Welt nurmehr dazu konstruiert wäre, ihn zu betrügen, und dass das All mit allem Drum und Dran von einer nicht näher bestimmten Gottheit als Bühne des vollendeten Schmierentheaters erbaut worden wäre, einer großen unverschämten Obstruktion, eigens dafür geschaffen, ihn hinters Licht zu führen. Das ihn wie die Krähen im Baum verstohlen beobachtende und dazu auch noch anmaßend lächelnde Universum wußte, wie grotesk unvollendet der sich täglich mehrfach im Spiegel betrachtende Simplizissimus doch war, wie abgrundtief einfältig er aus- und dreinschaute - und wie er blöde durch sein Leben trottete. Also spielten alle perfekt und mit einem vom Rausch schlechter Absichten gesättigten Vergnügen ihre vorbestimmten Rollen weiter. Ein Schnippchen hatte er ihnen allerdings bereits geschlagen, denn die Darsteller schienen zu glauben, er wäre noch nicht dahinter gekommen und verstanden noch nicht, dass er alles längst durchschaut hatte. Ihren Blick in seine Gedankenwelt hielt er nur bei bestimmten und oft wiederkehrenden Zuständen tiefer Müdigkeit für möglich. Manchmal aber dachte er, sie hätten bloß Mitleid, wollten ihn schonen und ihm die entsetzliche Diagnose, die doch so schnell und beiläufig mitzuteilen gewesen wäre, nicht zumuten. Sie mussten sich anstrengen den Schein zu wahren, denn der Junge fragte nach, doch das Milieu reagierte wohlüberlegt auf die gesetzten Reize. Nein, beeilten sie sich zu sagen, es ist alles in Ordnung, du siehst doch ganz nett aus, du bist doch nur einer unter vielen. Doch für den, der bittere Pillen sucht, bedeutet ganz nett auch ziemlich weit oben auf der Vogelscheuchenskala. War die relativierende Bezeichnung ein heimlicher Hinweis auf diesen riesigen und umfassenden Betrug? Die schnellen schlauen Reaktionen auf  die herausfordernde Befragung waren für das ewige Opfer ein Beweis mehr für den betrügerischen Zustand der Welt, in der er dazu verdammt war, die undankbare, aber zentrale Rolle des Abscheulichsten zu spielen. Er, der mit der wasserkopfartigen hohen Stirn, den mit Nivea darübergepappten widerspenstigen Haaren, diesen ständig anzuklebenden weibischen Locken wie es beim alten Twain heißt, der mit den läppisch nach unten weisenden Schlechtelaune-Mundwinkeln und der schon früh verordneten Apollo-Brille darüber, die die Schweineaugen noch kleiner machte, als sie ohnehin schon waren - und dem im Spiegelbild regelmäßig mit hoher Aufmerksamkeit kontemplierten und als traurig befundenen leptosomen Körperbau. Derjenige also war er, welcher mit seinem Eigen am liebsten gar nichts zu tun haben mochte, der sich selbst ohrfeigte, während er in den Spiegel sah, aber dennoch dem Genuß wohligen Nervenkitzels nicht widerstehen konnte, das Abbild täglich in Gänsehaut aus rundem gerahmtem Abbild zu betrachten, genau so wie er das den Hals einschnürende Schaudern liebte, welches ihm über den Rücken lief, während er die Geleise vor einem herannahenden Zug mehrfach knapp noch überquerte. Also drückte er weiter grüngelbgoldene Muster, starrte in die Sonne, vervollkommnete seine nabelschauende, dünkelhafte Gedankenwelt allumfassender Melancholie und wartete auf all das Freudlose, was im Leben sonst noch kommen sollte.






Fernsprecher
Es ist ein Friedwald am Rande der Stadt.
Eine Aschenwolke liegt in seiner Erde. Darin wächst ein Baum. Ascheteilchen sind schon in seinen Wurzelkanälen aufgestiegen; allmählich zerschmilzt die unterirdische Wolke und bildet, nur für sich allein betrachtet, das innere Abbild  der großen Pflanze, in die sie eingezogen ist.

An der Mauer am Baum steht eine gläserne Kabine, wie ein aufrecht gestellter, gelb gerahmter Schneewittchensarg. Darin kramt ein Mann umständlich eine Packung filterloser Zigaretten aus der Manteltasche, während er mit der anderen Hand nach ein paar Geldstücken für den klobigen Fernsprecher sucht. Umständlich soll er’s tun! Dies ist eine einfache Geschichte. Denn ohne Talent kann nichts wirklich Gutes geschrieben werden und in Groschenromanen wird alles nun einmal wortreich getan. Das bringt Zeilenhonorar und nebenbei das klapprige Satzgerippe in den richtigen Takt. Die Geschichte wird länger und wirkt, als wäre sie in Zeitlupe getaucht.

Im desinterssiert wandernden Blick sieht er nebenbei, wie jemand mit kräftigem Schwung eine Autotür zuwirft. Ein grauer Mittfünfziger lässt, noch während sich das satte Schließgeräusch ausbreitet, den wichtigtuerischen Blick bilanzierend über die hügelig gewellte Masse der im Nieselregen dampfenden Blechdächer schweifen. Er tut dies um festzustellen, ob zufällige Passanten seine Mondvisage mit der schweren, schwarzen Karosse in Verbindung gebracht haben. Den durch das satte Zuschlagen ausgelösten, fordernd forschenden aber dennoch von ihm  fast beiläufig kurz gehaltenen Blickkontakt mit der augenscheinlich glotzenden Umwelt wertet der Graue als respektvolle Anerkennung desjenigen, der es nicht nur in der Hierarchie der Kreditwürdigen geschafft hat. Es sogar geschafft hat zu denen zu zählen, die gehört und gesehen werden, obwohl sie oft nicht viel zu sagen haben.

Der Mann in der Fernsprechzelle hat in all seiner Gleichgültigkeit für belanglosige Prahlerei den Blick ganz schnell gesenkt. Eine Geste, die der blitzschnell beobachtende Wichtigmann als verschämtes Eingeständnis der Unterlegenheit des Gegenübers mißinterpretiert, ein triumphierendes Fehlurteil, das seinem guten Befinden dem vermeintlichen Schwanzeinzieher und dem Selbst gegenüber sehr zuträglich ist. Wohin man auch blickt, es ist doch immer falsch! resümiert der Mann im Mantel, der langsam und gründlich sein Geld  in den Münzschlitz wirft, das auf seinem Weg nach unten einen Katarakt metallisch klingender Reaktionen auslöst. Er hört dem klingelnden Rasseln bis zum Ende zu, zündet sich eine der Zigaretten an, und ein langgezogener Klang bedächtig  pirschender, schwerer, nasser Kieswegschritte zischelt hinauf zu einem tiefen, ersten Lungenzug. Der Mann wählt eine Nummer, hört erst den Wählton, dann den langsamen, runden Klang des Freitones aus dem schweren und schwarzen, noch kalten Bakelithörer an sein Ohr dringen. Der Hörer ist durch ein metallspiralenummanteltes Kabel in der Art eines Duschschlauches mit dem an der Wand montierten Apparat verbunden. Der Zug klinkt ein. Nikotin flutet an, wird zu Beschleunigung, Kick, kräftigem Puls, zu Kraft, und manchmal zittrig kalten Fingern. Die Beste ist immer noch die erste am Morgen, sagt der Betäuber im Kopf, und alle darauf Folgenden sind nur blasse Schatten dieser Frühstückskippe. Die Sucht nagt und ackert zeitig schon mitten durch den Körper: Vom Solarplexus zieht sie ganz langsam die Brusthöhle empor und ist gleich nach dem Aufstehen schon zu spüren. Doch dann legt der mit Glücksgefühlen getränkte blaue Morgennebel sich satt und angenehm weich mit dem erlösenden, dumpfen Schmerz auf Bronchien und Luftröhre, durchdringt kraftvoll Herz und Muskeln, der Betäuber zieht sich zufrieden ins Kuckucksuhrengehäuse der Seele zurück und kann einstweilen an den Aktor übergeben. Das Frühstück muss kurz sein, um das vom heißen Kaffee begleitete Abbrennen des ersten Glimmstengels und den darauf folgenden Tatendrang nicht hinauszuzögern. Zu Erkältungszeiten wird der Tabakgeschmack in einer übertrieben fülligen Rundheit unangenehm klebrig, bekommt einen beißenden Oberton und greift wie eine hölzerne Hand in Mund und Rachen - doch wäre das bißchen Maulkorbgefühl noch lange kein Grund, der wunderbaren Sucht zu entsagen.



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