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Klemens_Fitte
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Beitrag08.04.2014 11:58

von Klemens_Fitte
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Hallo ihr beiden,

euer Eindruck, dieser Teil füge sich gut in das Bisherige ein, freut mich sehr. Ich denke, er hat sicher noch etwas mehr Feinschliff nötig als die vorhergehenden, aber ich finde es wirklich erstaunlich, wie schnell ich inzwischen aus meinem Ausgangsmaterial ein halbwegs tragfähiges Gerüst zimmern kann - und das, obwohl das Ausgangsmaterial ja immer lückenhafter wird. Ich mache die konstruktive Kritik hier im Forum dafür verantwortlich.

Zu euren Anmerkungen:

EWJoe hat Folgendes geschrieben:
Servus Klemens,

100% Fitte. Klasse. Hat die gewohnte Struktur und Rhythmus und fügt sich daher sehr gut ins Ganze.
Eine Punkt vielleicht:
Zitat: "Zum Ende hin, sagt sie, habe es der Mutter eine perverse Freude bereitet..." Das Wort pervers kommt mir nicht perfekt vor - es trifft zwar, aber eben nicht 100%. Vielleicht perfide? Naja ist wahrscheinlich nur Geschmackssache.


Soraja hat Folgendes geschrieben:
Hallo Klemens und EWJoe,
mir geht es mit dem Wort pervers genau wie dir, allerdings eher aus dem Grund, dass ich finde es passt irgendwie nicht zu ihrem Wortschatz. Für mich wäre  "niederträchtig" passender.


Ich hatte jetzt grade die Idee, auf das fertige Buch einen Sticker mit "100% Prozent Fitte" zu kleben; oder erhebst du da ein Copyright?

Zum 'pervers' - ja, damit bin ich auch noch nicht ganz glücklich. Und ich wollte schon antworten: "Ja, 'perfide', das ist es!" - da merke ich, dass ich das Wort ja wenige Absätze zuvor schon verwendet habe. Aber vielleicht bietet sich hier ja auch eine Wiederholung an.
'Niederträchtig' finde ich auch gut, leider hat es eine Silbe zu viel, um sich in den Sprachfluss einzufügen. Der Hinweis war aber trotzdem Gold wert, denn jetzt ist mir klar, dass ich das Wort 'Niedertracht' definitiv noch im Text unterbringen muss, das bietet sich wirklich an.
Und es stimmt, so ganz passt 'pervers' nicht in den Wortschatz der Protagonistin. Ich hatte ja in Kapitel Drei ein wenig versucht, ihre teils ordinäre Denk- und Ausdrucksweise zu etablieren, aber vielleicht müsste da wirklich ein anderer Ausdruck als 'pervers' hin. Ich denke nochmal drüber nach - oder vielleicht gibt es hier noch den ein oder anderen Vorschlag.

Wie immer: Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Gruß,
Klemens
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EWJoe
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Beitrag08.04.2014 15:01

von EWJoe
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Servus Klemens,

Zitat: "Ich hatte jetzt grade die Idee, auf das fertige Buch einen Sticker mit "100% Prozent Fitte" zu kleben; oder erhebst du da ein Copyright?"

100% Fitte ist nur wo 100% Fitte drauf und drinnen steht, also erhebe ich sicher keinen Einspruch gegen Dein Vorhaben. Im Gegenteil es würde mich freuen.

LG
EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag12.04.2014 15:29

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Hallo meine Lieben,

da sich momentan alle noch im Wettbewerbsbereich aufhalten, verstecke ich hier mal diesen m.E. wenig gelungenen Abschnitt, in der Hoffnung, dass noch eine zündende Idee zur Verbesserung kommt.

__

Hättest du ahnen können, dass es darauf hinauslaufen würde?

Sie wisse nicht, hatte sie mir damals am Telefon gesagt, wie sie mit diesem urplötzlichen Wunsch der Mutter umgehen solle, der sich mittlerweile zu einer Art Besessenheit gesteigert habe. Habe sich die Krankheit der Mutter bislang darin geäußert, dass sie kaum noch zu einem vollständigen Satz fähig gewesen sei, rede die Mutter urplötzlich ohne Unterlass, tagein, tagaus von der Heiligblut-Wallfahrt. Selbst dem Besuch gegenüber erwähne sie diese fixe Idee neuerdings wie eine Besessene – das ganze Dorf erwarte also von ihr, der Tochter, dass sie diesem mütterlichen Wunsch Folge leisten werde, wie sie sich damals am Telefon ausgedrückt hatte.

Nach deinem Umzug in die Stadt hattet ihr beinah täglich telefoniert.

Hätte ich ihr damals nicht versprochen, sie und die Mutter zu begleiten, sagt sie, hätte sie sich außerstande gesehen, diese gemeinsame Wallfahrt anzutreten – es wäre folglich nie zu diesem Ausbruch der Mutter gekommen, der ihr, der Tochter, zum Ende hin auch noch die Geschichte mit dem Vater aufgebürdet habe. Vor allem aber, sagt sie, hätte sich damals nicht die Kluft des Schweigens zwischen uns beiden aufgetan – die doch allein darin begründet liege, dass sie bis zum heutigen Morgen außerstande gewesen sei, mir gegenüber ein umfassendes Geständnis der, wie sie es ausdrückt, restlichen Geschehnisse dieses Tages abzulegen.

Womit hattest du noch gerechnet?

Später werde ich versuchen, mir den Tag der Wallfahrt in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen – die ungewöhnliche, beinah sommerliche Hitze, die fieberroten Gesichter der Dörfler, die sich mit uns das Gruppenticket geteilt hatten. Die, wie ich mir später sagen werde, beunruhigend grüne Färbung des Flusses, den der Zug nach wenigen Kilometern überquert hatte. Das Kreischen der Bremsen, als wir plötzlich auf freier Strecke zum Stehen gekommen waren. Noch heute, sagt sie, denke sie an die Durchsage und das Wort 'Personenschaden' zurück, an den Ausruf unserer Sitznachbarin, der das kurze Schweigen im Abteil gebrochen hatte – diese himmelschreiend absurde Frage, wie man sich denn an einem Sonntag umbringen könne.

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UtherPendragon
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U


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U
Beitrag12.04.2014 18:37

von UtherPendragon
Antworten mit Zitat

Salut, Herr Fitte!

Zitat:
da sich momentan alle noch im Wettbewerbsbereich aufhalten, verstecke ich hier mal diesen m.E. wenig gelungenen Abschnitt, in der Hoffnung, dass noch eine zündende Idee zur Verbesserung kommt.


Ich kann dir nicht ganz folgen, warum du diesen Abschnitt als nicht gelungen bezeichnest. Er fällt ins vorige Muster (falls man das so sagen kann), liefert aber auch Spannung und neue Aspekte der Geschichte.

Zitat:
Hättest du ahnen können, dass es darauf hinauslaufen würde?

Obwohl ich diese Geschichte ja noch gar nicht durchblicken kann, würde ich diese Frage still mit "Nein" beantworten. Der Erzähler hat sicher nicht ahnen können, dass die vorhergegangenen Ereignisse ebenso ablaufen würden, von daher finde ich, dass die Formulierung unglücklich ist. Oder liege ich falsch?

Zitat:
Selbst dem Besuch gegenüber erwähne sie diese fixe Idee neuerdings wie eine Besessene
WW, außerdem nicht vonnöten
Zitat:

Noch heute, sagt sie, denke sie an die Durchsage und das Wort 'Personenschaden' zurück, an den Ausruf unserer Sitznachbarin, der das kurze Schweigen im Abteil gebrochen hatte – diese himmelschreiend absurde Frage, wie man sich denn an einem Sonntag umbringen könne.
Bis zum Spiegelstrich entwickelt dieser zentrale, inhaltlich bedeutsame Satz zu wenige Emotionen, finde ich. Außerdem haben wir vom "Zurückdenken" nun schon öfters in den vorangegangenen Texten gelesen. Der Teil hinter dem Spiegelstrich bereitet mit dagegen literarische und zynische "Freude"!

Ansonsten fiele mir keine wirklich "zündende" Idee ein...
Zitat:
Hätte ich ihr damals nicht versprochen, sie und die Mutter zu begleiten, sagt sie, hätte sie sich außerstande gesehen, diese gemeinsame Wallfahrt anzutreten – es wäre folglich nie zu diesem Ausbruch der Mutter gekommen, der ihr, der Tochter, zum Ende hin auch noch die Geschichte mit dem Vater aufgebürdet habe. Vor allem aber, sagt sie, hätte sich damals nicht die Kluft des Schweigens zwischen uns beiden aufgetan – die doch allein darin begründet liege, dass sie bis zum heutigen Morgen außerstande gewesen sei, mir gegenüber ein umfassendes Geständnis der, wie sie es ausdrückt, restlichen Geschehnisse dieses Tages abzulegen.
Soll sich hier ein indirekter Vorwurf verstecken? Es wäre in dem Fall möglich, diesen etwas direkter auszudrücken, um Spannung zu erzeugen. Kannst ja mal drüber nachsinnen.

Liebe Grüße!

Uther Pendragon


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Klemens_Fitte
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Beitrag12.04.2014 20:40

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Guten Abend, Herr Pendragon,

UtherPendragon hat Folgendes geschrieben:
Ich kann dir nicht ganz folgen, warum du diesen Abschnitt als nicht gelungen bezeichnest. Er fällt ins vorige Muster


Vielleicht ist das ja der Grund, warum er mir nicht gefällt smile extra Scherz beiseite, ich glaube jetzt zu wissen, woran's liegt (manchmal fällt mir sowas erst auf, wenn ich die Texte hier eingestellt habe), nämlich am letzten Absatz:

Zitat:
Später werde ich versuchen, mir den Tag der Wallfahrt in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen – die ungewöhnliche, beinah sommerliche Hitze, die fieberroten Gesichter der Dörfler, die sich mit uns das Gruppenticket geteilt hatten. Die, wie ich mir später sagen werde, beunruhigend grüne Färbung des Flusses, den der Zug nach wenigen Kilometern überquert hatte. Das Kreischen der Bremsen, als wir plötzlich auf freier Strecke zum Stehen gekommen waren. Noch heute, sagt sie, denke sie an die Durchsage und das Wort 'Personenschaden' zurück, an den Ausruf unserer Sitznachbarin, der das kurze Schweigen im Abteil gebrochen hatte – diese himmelschreiend absurde Frage, wie man sich denn an einem Sonntag umbringen könne.


Der blau markierte Teil müsste ausgebaut werden. Ich hatte mich nur deshalb darum gedrückt, weil ich mir nicht sicher war - und das stelle ich jetzt mal als offene Frage in den Raum - aus wessen Perspektive ich diese Zugfahrt schildern soll.
Aus dem späteren Versuch des Erinnerns, um das Geschehen detailliert nacherzählen zu können? Aus einer sofortigen, eher bruchstückhaften Erinnerung des Erzählers? Oder soll ich die Protagonistin diese Szene schildern lassen?
Und auch der grün markierte Teil hätte einen eigenen Absatz verdient, da hast du Recht. Wobei - wenn ich da mal vorgreifen darf - der 'Personenschaden' selbst noch nicht das Entscheidende ist, sondern das, was darauf folgt.

Zitat:
Zitat:
Hättest du ahnen können, dass es darauf hinauslaufen würde?

Obwohl ich diese Geschichte ja noch gar nicht durchblicken kann, würde ich diese Frage still mit "Nein" beantworten. Der Erzähler hat sicher nicht ahnen können, dass die vorhergegangenen Ereignisse ebenso ablaufen würden, von daher finde ich, dass die Formulierung unglücklich ist. Oder liege ich falsch?


Der Satz bezieht sich auf den vorangegangen Absatz, in dem sie erstmals auf den Tag der Wallfahrt zu sprechen kommt; heißt also: Hätte der Erzähler ahnen können, dass es in diesem lange angekündigten Geständnis letztendlich um diesen Tag geht?
Das müsste ich wohl noch klarer formulieren.

Zitat:
Zitat:
Selbst dem Besuch gegenüber erwähne sie diese fixe Idee neuerdings wie eine Besessene
WW, außerdem nicht vonnöten


Stimmt, mit dem Satz bin ich auch ganz und gar nicht glücklich.

Zitat:
Soll sich hier ein indirekter Vorwurf verstecken? Es wäre in dem Fall möglich, diesen etwas direkter auszudrücken, um Spannung zu erzeugen. Kannst ja mal drüber nachsinnen.


Ich denke, es ist eher ein unbewusster Vorwurf, noch mehr aber ein Hadern mit dem Schicksal, nach dem Motto: Man hat keine Chance, der Tragödie zu entgehen.

Ich danke dir für deine Anmerkungen. Ich denke, ich werde den Teil erstmal so stehen lassen, damit wir hier endlich mal mit dem Plot vorankommen. Die nächste Überarbeitungsrunde überlebt er aber nicht in dieser Form, das verspreche ich.

Gruß,
Klemens


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Klemens_Fitte
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Beitrag16.04.2014 18:47

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Ich entnehme den Klickzahlen einfach mal, dass der Text noch ein paar Leser hat und lasse die obige Frage
Zitat:
Der blau markierte Teil müsste ausgebaut werden. Ich hatte mich nur deshalb darum gedrückt, weil ich mir nicht sicher war - und das stelle ich jetzt mal als offene Frage in den Raum - aus wessen Perspektive ich diese Zugfahrt schildern soll.

noch ein wenig im Raum stehen. Ich habe zwar schon eine Idee, werde mich aber erst vor Beginn des fünften Kapitels an die Überarbeitung machen. Jetzt folgt erstmal der Rest von Kapitel Vier - ich bin auf die Reaktionen gespannt.

__

Die unscheinbare Traueranzeige hattest du später deinen Unterlagen hinzugefügt.

Es habe dann, sagt sie, nur wenige Minuten gedauert, bis im Abteil Unruhe aufgekommen sei, man begonnen habe, sich lautstark über die Umstände zu beschweren, die dieser Zwischenfall bereite, über die Rücksichtslosigkeit, die dieser Mensch mit seiner egoistischen Tat bewiesen habe. Wenn schon sich das Leben nehmen, sei im Abteil einstimmig verkündet worden, dann solle man doch wenigstens den Anstand besitzen, sich aufzuhängen oder zu vergiften, anstatt mit seinem Freitod auch noch Unbeteiligten das Leben oder zumindest den Tag zu ruinieren. Dieselben falschen Schlangen, die noch Jahre zuvor am offenen Grab des Vaters ihr Beileid geheuchelt und von einem tragischen Unglück gesprochen hätten, hätten sich nun über den Freitod dieses Unbekannten ausgelassen – ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie sehr dieses Gerede ihr und der Mutter habe zusetzen müssen. Und seien es nicht, fährt sie fort, dieselben falschen Schlangen gewesen, die damals die Bestattung des Vaters auf dem Dorffriedhof hatten unterbinden wollen – für so einen, habe es damals geheißen, sei kein Platz auf dem Gottesacker.

Nach einigen Minuten hattest du das Abteil verlassen und dich auf die Suche nach dem Schaffner gemacht.

Zum Schluss, sagt sie, habe man sich in einer ungeheuren Schamlosigkeit an die Zugfenster gedrängt und die Rettungskräfte begafft, die zu Fuß auf den Bahndamm geklettert seien, habe wieder und wieder den Kopf geschüttelt über den Aufstand, den man wegen eines solchen Idioten mache. Später, erinnere ich mich, hatte man in der Zeitung nachlesen können, die Räumung der Unfallstelle habe sich aufgrund des schwer zugänglichen Streckenabschnitts erheblich verzögert – der Zugverkehr auf der eingleisigen Strecke habe erst am nächsten Tag wieder aufgenommen werden können. Als ich mit der Nachricht des Schaffners, man werde die Türen entriegeln und uns zu Fuß zur Straße führen, ins Abteil zurückgekommen war, war man gerade dabei gewesen, die Mutter auf einen der Polstersitze zu legen.

Für dich hatte man nur den Satz übrig gehabt, sie habe einen Schwächeanfall erlitten.

Es habe, sagt sie nach einer kurzen Pause, jeden im Abteil überrascht, als die Mutter plötzlich aufgesprungen und zur Tür gestürzt sei, wo sie wie von Sinnen am Türhebel gerüttelt habe. Sie müsse hier raus, habe die Mutter in ihrer Verwirrung wieder und wieder geschrien, sie müsse auf Wallfahrt, müsse zum Wallfahrtsort, müsse endlich um Vergebung flehen, wie die Mutter sich ausgedrückt habe. Vergeblich habe sie versucht, die Mutter zu beruhigen, sagt sie, ihren Blick weiterhin aus dem Stubenfenster gerichtet – stattdessen sei die Mutter daraufhin erst recht außer sich geraten, habe sie vor den Augen des ganzen Abteils von sich gestoßen und geschrien, sie, die Tochter, sei doch der Grund, weshalb sie auf Wallfahrt müsse, sei doch der Grund allen Übels. Sie, die Tochter, sei doch diejenige gewesen, mit der das Unglück, wie die Mutter sich ausgedrückt habe, über die Familie gekommen sei. Schon am Tag ihrer Geburt, als der Vater wutentbrannt aus der Stube gestürmt sei und sie die stumme Anklage im Blick der Amme habe ertragen müssen, habe sie die böse Vorahnung überkommen, dass die Tochter der Sargnagel ihrer Familie werden würde. Sie, die Tochter, habe den Vater ins Grab gebracht – es sei diese unerhörte Liebe der Tochter zum Vater gewesen, die ihn vor der Zeit ins Grab gebracht habe. Der Vater, habe die Mutter geschrien, sei kein schlechter Mensch gewesen, er sei aber ein schwacher Mensch gewesen, der am Kampf mit seiner Schwäche zugrunde gegangen sei. Nächtelang habe sich der Vater in den Werkzeugschuppen eingeschlossen, habe sich mit seiner Schwäche eingeschlossen, während sie, die Mutter, mit kalten Füßen im Ehebett gelegen habe und vor Sorge um den Vater und Eifersucht gegenüber der Tochter beinah narrisch geworden sei. Wieder und wieder, habe die Mutter geschrien, habe sie nach diesen Nächten die frisch vernarbten Schnitte an den Armen des Vater ansehen müssen, habe hilflos dem Kampf mit seiner Schwäche beiwohnen müssen – und mit jeder Stunde, die sich der Vater im Werkzeugschuppen dieser Qual ausgesetzt habe, habe sie die Tochter mehr verachtet. Und jetzt, habe die Mutter geschrien, bleibe ihr nur noch, um Vergebung für das sündige Leben der Tochter zu flehen und wieder und wieder für das Seelenheil des Vaters zu beten – der, wie die Mutter noch einmal leise, mit kraftloser Stimme wiederholt habe, kein schlechter Mensch gewesen sei.

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Soraja
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Beitrag16.04.2014 19:49

von Soraja
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Hallo Klemens,

du schaffst es auch in diesem Teil mich an den Rand dessen zu bringen, was ich an Ungerechtigkeiten aushalten kann. Allerdings stehe ich nun vor der Frage: Wurde sie nun missbraucht oder war das nur die ungeheuerliche Lüge der Mutter? Aber eigentlich ist das schon fast egal. In mir tobt ein riesen Zorn gegen diese Dorfbewohner und Fahrgäste.

Die Art wie du die Spannung hältst ist wirklich ein Kunststück!

LG Soraja


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EWJoe
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Beitrag16.04.2014 22:48

von EWJoe
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Servus Klemens,
Zitat:
"Ich entnehme den Klickzahlen einfach mal, dass der Text noch ein paar Leser hat und lasse die obige Frage ...Der blau markierte Teil müsste ausgebaut werden. Ich hatte mich nur deshalb darum gedrückt, weil ich mir nicht sicher war - und das stelle ich jetzt mal als offene Frage in den Raum - aus wessen Perspektive ich diese Zugfahrt schildern soll..."

Grundsätzlich hast Du immer Top-Klickzahlen und das mit Recht. Deine Aussage den angesprochenen Teil zu splitten kann ich nachvollziehen. Der Perspektivwechsel der Betrachtung würde dies befürworten. Trotzdem bist Du Deinem Werk gegenüber sehr streng. Der Rhythmus passt, auch inhaltlich sehe ich kein Problem, außer dem von Dir selbst angesprochenen inneren Perspektivwechsel. Einen Gedankensplitter in einer Form zu gestalten halte ich auch für richtig.

Zum neuen Teil:

Das (fast?) Finale ist natürlich ein gut gelungener Part, ohne Zweifel. Nur der Rhythmus passt mir im letzten Block nicht ganz. Hier würde ich auch noch mal aufteilen, aber das ist nur aus dem Rhythmus begründet und nicht aus dem Inhalt. Die innere Perspektive ist homogen, passt also. Mir ist der Block einfach zu lang, aber am Ende ist das wahrscheinlich auch möglich. Vielleicht war das auch Absicht, schließlich muss der Rhythmus am Ende sich verändern.

Vielleicht folgt noch ein Part, der versucht die innere Ruhe wieder herzustellen. Im letzten Teil ist noch zu viel Aufruhr da, wie Soraja es ausgedrückt hat.

In Summe: Es fittet Herr Fitte, toll.

LG
EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag17.04.2014 11:00

von Klemens_Fitte
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Liebe Soraja,

ich bin ja in diesem Text eher an den Extremen, am Haareraufen, am dick Aufgetragenen interessiert als an den leisen Zwischentönen. Insofern bin ich natürlich auf Leser wie dich angewiesen, die bereit sind, sich emotional auf diese Art von Erzählung einzulassen; freut mich, dass der Text bei dir die erhoffte Wirkung erzielt.
Soraja hat Folgendes geschrieben:
du schaffst es auch in diesem Teil mich an den Rand dessen zu bringen, was ich an Ungerechtigkeiten aushalten kann. Allerdings stehe ich nun vor der Frage: Wurde sie nun missbraucht oder war das nur die ungeheuerliche Lüge der Mutter? Aber eigentlich ist das schon fast egal.

Es folgt ja jetzt der 'Epilog' zum vierten Kapitel, in dem diese Frage noch einmal aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet wird. Ob ich sie eindeutig auflöse? Ich denke, es ist so, wie du schreibst: Am Ende gibt es vielleicht nicht einmal die eine klare Wahrheit, weil diese Frage vor dem Hintergrund dessen, dass sich eh jeder schon seine Meinung gebildet hat bzw. die Ereignisse ohnehin ihren Lauf genommen haben, unwichtig wird.

Lieber EWJoe,
EWJoe hat Folgendes geschrieben:
Trotzdem bist Du Deinem Werk gegenüber sehr streng. Der Rhythmus passt, auch inhaltlich sehe ich kein Problem, außer dem von Dir selbst angesprochenen inneren Perspektivwechsel.

Naja, ich habe derzeit eher das Gefühl, dass ich nicht streng genug bin und Ausschnitte hier einstelle, bevor ich mit ihnen zufrieden bin. Aber vielleicht ist das ja auch eine gute Übung, auf einen Punkt hin zu schreiben, statt ewig darüber zu grübeln. Meine Unzufriedenheit mit der zitierten Passage resultiert einfach daraus, dass ich an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen müsste, etwas mehr ins 'Erzählen' zu kommen.
Zitat:
Nur der Rhythmus passt mir im letzten Block nicht ganz. Hier würde ich auch noch mal aufteilen, aber das ist nur aus dem Rhythmus begründet und nicht aus dem Inhalt.

Interessant, dass du das erwähnst. In einer ersten Version hatte ich hier tatsächlich noch eine Zäsur, die ich aber beim Überarbeiten gestrichen habe, aus einem einfachen Grund: dem Respekt der Protagonistin gegenüber. Ich fände es einfach unpassend, ihr Geständnis an diesem Punkt zu unterbrechen, und könnte mir sogar vorstellen, dass dieser Block beim Überarbeiten nochmal länger wird. Schließlich stellt er den dramatischen Höhepunkt der Erzählung dar - in Kapitel Fünf bleibt mir nur noch, auszuatmen und den Scherbenhaufen zu betrachten.

Wie immer, danke fürs Lesen und Kommentieren,
Klemens


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UtherPendragon
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U
Beitrag22.04.2014 22:27

von UtherPendragon
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens

Zitat:
und das stelle ich jetzt mal als offene Frage in den Raum - aus wessen Perspektive ich diese Zugfahrt schildern soll.

Ich entscheide mich dafür, auf dich selbst zu warten, schließlich würde ein anderer Vorschlag, über den ich ohnehin länger nachgrübeln müsste, ja nur noch wenig mit der Vorlage gemein haben. Lass die Frage ruhig noch eine Weile dort, wo sie ist.

Das Vorfinale trifft wirklich, und trifft auch wirklich Ton. Es ist schön, oder sollte ich sagen, ästhetisch, wie alle Wahrheiten oder Halbwahrheiten sich in so wenigen Worten zusammenfügen. Daran ist sicher dein passiver Schreibstil "schuld".

Die inhaltliche Überführung dieser Gutmenschen und des allgemeinen Frömmeltums erreicht hier eine neue Spitze, ist endlich mal noch direkter, nachwievor ohne direkt zu werden.

Zum letzten Abschnitt möchte ich noch eine Kleinigkeit los werden. Du äußerstest, dass du gern mehr erzählen möchtest - drum stelle ich mir die senile Mutter vor, die vor allen Fahrgästen völlig in Fahrt geraten dazu diesen Vortrag vor ihrer Tochter hält.

Was mir fehlt, ist die Reaktion der vergangenen Tochter, da die Reaktionen der Tochter aus dem Diesseits vorhanden sind. Also eine Kleinigkeit, falls du das auch so siehst smile Nur ein Nebensatz, ein Gefühl - noch ein Bild vor Augen.

Zitat:
Es habe, sagt sie nach einer kurzen Pause, jeden im Abteil überrascht, als die Mutter plötzlich aufgesprungen und zur Tür gestürzt sei
Das ist, wie ich finde, zu erwarten.

EWJoe schrieb:
Zitat:
Das (fast?) Finale ist natürlich ein gut gelungener Part, ohne Zweifel. Nur der Rhythmus passt mir im letzten Block nicht ganz. Hier würde ich auch noch mal aufteilen, aber das ist nur aus dem Rhythmus begründet und nicht aus dem Inhalt. Die innere Perspektive ist homogen, passt also. Mir ist der Block einfach zu lang, aber am Ende ist das wahrscheinlich auch möglich. Vielleicht war das auch Absicht, schließlich muss der Rhythmus am Ende sich verändern.

Ich habe inhaltlich ebenfalls nichts sonst am letzten Abschnitt auszusetzen. Falls du ihn aber dennoch überarbeiten solltest, ist meine Anmerkung, dass mir die Rede der Mutter etwas zu lang und ausführlich herüberkommt - vielleicht ist EWJoe mit seinem Rhytmus ebenfalls darauf gestoßen. Ich habe jedenfalls die ganze Zeit minimale Probleme, mir die gesamte letzte Szene vorzustellen, als wäre ich, der priviligierte Leser, live dabei. Diese eine Szene erscheint mir noch ausbaufähig im Bezug aufs Menschliche. (Die wütenden Halb-Monologe einer vermutlich hypochondrischen Semi-senilen Khatolikin sind sicher keine leichte Aufgabe, was ihre Authenzität angeht)
Ist es nicht vielleicht auch möglich, dass Madame Protagonistin sich einige Zusammenhänge im Nachhinein selbst zusammenreimt?

Es tut mir wirklich leid, dass ich mich immer noch so unpräzise ausdrücke, deine Standards machen es einem aber auch nicht gerade leicht.

Nichtsdestotrotz
Gern gelesen/Warte gespannt
UtherP


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Klemens_Fitte
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Beitrag23.04.2014 08:20

von Klemens_Fitte
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Guten Morgen, liebe S... lieber Uther,

das sind wirklich gute Denkanstöße, die du mir da lieferst. Ich sitze ja derzeit am letzten 'Einschub' bzw. dem letzten Kapitel und spare mir die nächste größere Überarbeitung erstmal auf, weil ich es für wichtiger halte, zunächst die Geschichte zu Ende zu erzählen - ich werde mir aber definitiv vor der Schlussredaktion noch einmal den kompletten Faden und alle Anmerkungen hier durchlesen (im Moment plane ich, mich dann für ein paar Tage in einer Ferienwohnung/einem Pensionszimmer mit dem Text einzuschließen).

UtherPendragon hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
und das stelle ich jetzt mal als offene Frage in den Raum - aus wessen Perspektive ich diese Zugfahrt schildern soll.

Ich entscheide mich dafür, auf dich selbst zu warten, schließlich würde ein anderer Vorschlag, über den ich ohnehin länger nachgrübeln müsste, ja nur noch wenig mit der Vorlage gemein haben. Lass die Frage ruhig noch eine Weile dort, wo sie ist.


In der neuen Fassung ist dieser Teil schon ein wenig abgeändert. Morgen poste ich zusammen mit der Fortsetzung nochmal ein PDF der bisherigen Kapitel.

Zitat:
Zum letzten Abschnitt möchte ich noch eine Kleinigkeit los werden. Du äußerstest, dass du gern mehr erzählen möchtest - drum stelle ich mir die senile Mutter vor, die vor allen Fahrgästen völlig in Fahrt geraten dazu diesen Vortrag vor ihrer Tochter hält.

Was mir fehlt, ist die Reaktion der vergangenen Tochter, da die Reaktionen der Tochter aus dem Diesseits vorhanden sind. Also eine Kleinigkeit, falls du das auch so siehst smile Nur ein Nebensatz, ein Gefühl - noch ein Bild vor Augen.


Ich bin auch noch am Überlegen, ob ich diesen verbalen Ausbruch der Mutter auf der Wiedergabeebene belasse oder die Tochter noch ihre Reaktionen, den eher szenischen Ablauf schildern lasse.
Ein Problem dabei hast du ja benannt:
Zitat:
Ist es nicht vielleicht auch möglich, dass Madame Protagonistin sich einige Zusammenhänge im Nachhinein selbst zusammenreimt?

Das ist sicher möglich. Man neigt ja auch in seinem Erinnern zur Selektion, zur Zuspitzung. Und da der Erzähler - wie so oft - nicht dabei war, ist er auf den Teil der Wahrheit angewiesen, an dem die Protagonistin ihm gegenüber gerade interessiert ist.
Ein weiteres Problem ist, dass ich noch etwas unsicher bin, ob die Wucht dieses Ausbruchs nicht sogar abgemildert wird, wenn er in die Szene 'eingebettet' wird, statt sozusagen isoliert zu stehen.

Zitat:
Ich habe inhaltlich ebenfalls nichts sonst am letzten Abschnitt auszusetzen. Falls du ihn aber dennoch überarbeiten solltest, ist meine Anmerkung, dass mir die Rede der Mutter etwas zu lang und ausführlich herüberkommt - vielleicht ist EWJoe mit seinem Rhytmus ebenfalls darauf gestoßen. Ich habe jedenfalls die ganze Zeit minimale Probleme, mir die gesamte letzte Szene vorzustellen, als wäre ich, der priviligierte Leser, live dabei.


Ich denke, ich muss einfach noch klarer herausstellen, dass es sich bei diesem Abschnitt auch wieder um eine Version der Wahrheit handelt, was zwangsläufig auch die Unmöglichkeit bedingt, sich vorstellen zu können, wie es tatsächlich abgelaufen ist. Vielleicht handelt es sich ja bei einigen Aussagen der Mutter nur um nachträgliche Ausschmückungen der Tochter, vielleicht fand dieser Ausbruch gar nicht so konzentriert, so ununterbrochen statt, vielleicht gab es auch hier ein Stocken, Absetzen, Wieder-Anfangen.

Zitat:
Es tut mir wirklich leid, dass ich mich immer noch so unpräzise ausdrücke


Dito. Vieles von dem, was ich hier antworte, ist auch eher ein erstes Herantasten an das, was ich eigentlich sagen will; ich finde diesen Prozess der Annäherung aber ungemein spannend, deshalb wollte ich diese Gedanken einfach mal hier lassen.

Vielen Dank jedenfalls für deine Anregungen,
Klemens


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Beitrag30.04.2014 16:17

von Klemens_Fitte
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Hallo meine Lieben,

ratet mal, wer endlich wieder einen funktionierenden Internetanschluss hat! Mensch, was hab ich euch vermisst - jetzt hab ich Einiges an Lesestoff hier im Forum nachzuholen (längere Texte am Smartphone lesen macht keinen Spaß), werde mich in den nächsten Tagen sicher auch hier und da zu Wort melden; wollte aber erstmal die versprochene Fortsetzung, den letzten 'Einschub' vor dem finalen Kapitel einstellen.

Bin sehr auf die Reaktionen gespannt.

Gruß,
Klemens

__

Ich pausiere die Wiedergabe an der Stelle, an der sie aufgefordert wird, noch einmal in die Kamera zu lächeln. Augenblicklich friert ihre Miene ein; von der Landschaft, die eben noch in einem steten Film an der Seitenscheibe vorbeigezogen ist, bleibt eine blasse Fototapete.
Die zuvor mehrfach gestellte Frage, ob es ihr gefalle, hat sie bis zum Schluss, hat sie auch nach 13 Minuten und 5 Sekunden nicht beantwortet.

Vielleicht war es schön gewesen: die Sonnenstrahlen, die gleich zu Beginn der Aufnahme durch das marode Blätterdach fallen … die grobkörnigen Rostflecke auf dem Laubteppich, der jeden ihrer Schritte mit einem Knistern im Mikrofon unterlegt … die Wärme der Baumrinde unter ihren tastenden, nach Halt suchenden Fingern … die grobschlächtige Männerhand, die sich ruckartig in den Fokus der Kamera schiebt, damit beginnt, am Saum ihres grünen Sommerkleids zu nesteln.
Vielleicht war es schön gewesen. Was folgt, spottet jeder Beschreibung, bleibt auch in der zigfachen Wiederholung ebenso ernüchternd wie banal. Seine Frage aus dem Off, ob es ihr gefalle. Später wird sie zu Protokoll geben, es nicht zu bereuen.

Die pubertierenden Bauernjungen haben unlängst ein Wort gefunden, das auf sie passt, weil es ein altmodisches Wort ist, eines, das in die Pubertät ihrer Väter gehört. Die Mutigsten unter ihnen rufen es, wenn sie mit dem Fahrrad an ihrem Haus vorbeifahren: Dorfmatratze. Die meisten von ihnen träumen davon, bei ihr ihre Unschuld zu verlieren, wie es angeblich schon ihre Väter getan hatten.
Ihre Väter hatten sich früher in den SPAR-Laden geschlichen, sie hatten die Sexhefte aus dem Zeitschriftenregal genommen und unters Hemd geschoben, hatten ihren Samen beim Durchblättern der knisternden Seiten verloren, den Hosenbund an den Knöcheln auf dem Dachboden sitzend, in ihren Baumhäusern, in den Umkleidekabinen des Freibads.
Symbolische Herzen als frisch geschlagene Wunden in den Baumrinden, den hölzernen Sitzbänken – die unterschriftsreifen Schwüre ewiger Liebe, von Amors Pfeil durchkreuzt. Symbolische Herzen auf den Kondomautomaten der Kneipentoiletten, in deren Ausgabeschacht die Bauernlümmel ein Stück Hasendraht schieben: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet – ob sich nicht was Bess'res findet.“

Auf die Frage, ob sie sich gegen die Kamera, gegen das Filmen gesträubt habe, ob ihr beim Gedanken, gefilmt zu werden, unwohl gewesen sei, wird sie erwidern, Andere filmten die Taufe ihrer Patenkinder oder stünden samstags mit der Kamera am Sportplatz, um die Spiele ihrer Söhne festzuhalten.
Vielleicht hatte sie sich selbst die Aufregung nehmen wollen mit ihrer Behauptung, sie nehme die Pille. Als es getan ist – bei Minute 12, als sie im Flussbett hockt und mit der flachen Hand Wasser zwischen ihre Schenkel schöpft, um seine Spuren zu verwischen – hatte sie vielleicht bereits geahnt, dass es zu spät gewesen war.
Sie solle, kommt die Aufforderung vom Beifahrersitz, doch noch einmal in die Kamera lächeln.

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EWJoe
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Beitrag02.05.2014 09:46

von EWJoe
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Servus Klemens,

wie immer ein toller Fitte-Text. Die Wortwahl ist einmalig, da gibts nichts zu meckern. Auch der Aufbau dieses Abschnitts passt mir sehr gut, gliedert sich auch logisch in das Ganze der Geschichte.
Einzig mit ein paar Punkten bin ich nicht ganz klar, vielleicht habe ich sie auch nicht gut genug reflektiert.

Zitat:<Symbolische Herzen als frisch geschlagene Wunden in den Baumrinden, den hölzernen Sitzbänken – die unterschriftsreifen Schwüre ewiger Liebe, von Amors Pfeil durchkreuzt. Symbolische Herzen auf den Kondomautomaten der Kneipentoiletten, in deren Ausgabeschacht die Bauernlümmel ein Stück Hasendraht schieben: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet – ob sich nicht was Bess'res findet.“ >

Hier bin ich mir nicht im Klaren, ob die frisch geschlagenen Wunden passen, oder ob dies nicht Liebesschwüre aus vergangener Zeit betreffen, die die Generation der Väter der Pubertierenden in das Holz ritzten. Falls es so wäre, dann stimmt das Bild nicht ganz. Die Idee mit dem Kondomautomat und den Hasendraht finde ich genial, wenngleich ich etwas länger gebraucht habe das Bild einzuordnen. Offenbar wurde sie ungewollt schwanger, wie dies auch schon im Kapitel mit dem Autounfall durchschien. Ob es damit auch wirklich im Zusammenhang steht ist aber noch offen, wenngleich wahrscheinlich.

Zitat:<Auf>

In diesem Abschnitt sehe ich zwei unabhängige Gedankensplitter, unterschiedlicher Perspektive. Für mich wäre es vielleicht schöner den ersten Satz, die Frage nach dem Sträuben beim Filmen und ihre Replik, als letzten Satz überhaupt zu nehmen, sozusagen als 'Klammer zu' zum ersten Satz dieses Teils (14).

Wie gesagt das sind nur sehr vage Anmerkungen, die vielleicht gar nicht in Dein Konzept passen.

LG
EWJoe


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EWJoe
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Beitrag02.05.2014 09:56

von EWJoe
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Servus nochmals,

leider hat mir der Editor fast das ganze Zitat gelöscht. Offenbar mag er nicht <> als Klammerung. Drum nochmals:

Zitat:"Auf die Frage, ob sie sich gegen die Kamera, gegen das Filmen gesträubt habe, ob ihr beim Gedanken, gefilmt zu werden, unwohl gewesen sei, wird sie erwidern, Andere filmten die Taufe ihrer Patenkinder oder stünden samstags mit der Kamera am Sportplatz, um die Spiele ihrer Söhne festzuhalten.
Vielleicht hatte sie sich selbst die Aufregung nehmen wollen mit ihrer Behauptung, sie nehme die Pille. Als es getan ist – bei Minute 12, als sie im Flussbett hockt und mit der flachen Hand Wasser zwischen ihre Schenkel schöpft, um seine Spuren zu verwischen – hatte sie vielleicht bereits geahnt, dass es zu spät gewesen war.
Sie solle, kommt die Aufforderung vom Beifahrersitz, doch noch einmal in die Kamera lächeln."

In diesem Abschnitt sehe ich zwei unabhängige Gedankensplitter, unterschiedlicher Perspektive. Für mich wäre es vielleicht schöner den ersten Satz, die Frage nach dem Sträuben beim Filmen und ihre Replik, als letzten Satz überhaupt zu nehmen, sozusagen als 'Klammer zu' zum ersten Satz dieses Teils (14).


LG EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag02.05.2014 11:05

von Klemens_Fitte
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Moin EWJoe,

dein Lob nehme ich gerne mit, insbesondere was deine Anmerkungen zum Aufbau und dem 'Einfügen' angeht. Diese Einschübe heben sich natürlich schon stark von den eigentlichen Kapiteln ab, bieten mir aber die Möglichkeit, bestimmte Aspekte noch einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten bzw. zum Spekulieren anzuregen. Und ich denke, dass diese Teile mit am meisten davon profitieren, wenn man sie noch einmal vom Ende her liest, also mit dem Wissen um den gesamten Text.

Zu deinen Anmerkungen:

Zitat:
Hier bin ich mir nicht im Klaren, ob die frisch geschlagenen Wunden passen, oder ob dies nicht Liebesschwüre aus vergangener Zeit betreffen, die die Generation der Väter der Pubertierenden in das Holz ritzten. Falls es so wäre, dann stimmt das Bild nicht ganz.


Im Grunde ist es beides, weil die Jungen ja der Tradition ihrer Väter folgen. Ich hatte schon überlegt, dieses Bild in der Überarbeitung dahingehend auszuarbeiten, dass die 'neuen' Herzen als frische Wunden die Narben der 'alten' Herzen wieder aufreißen; vielleicht versuche ich es mal in der Richtung.

Zitat:
Die Idee mit dem Kondomautomat und den Hasendraht finde ich genial, wenngleich ich etwas länger gebraucht habe das Bild einzuordnen. Offenbar wurde sie ungewollt schwanger, wie dies auch schon im Kapitel mit dem Autounfall durchschien. Ob es damit auch wirklich im Zusammenhang steht ist aber noch offen, wenngleich wahrscheinlich.


Ja, die eher assoziative Struktur dieser Einschübe erschwert natürlich eine klare Aussage, was davon tatsächlich mit der Handlung zusammenhängt und was eher 'frei' hinzugefügt wurde, um diese Dorfatmosphäre zu veranschaulichen.
Aber auch hier bringt das letzte Kapitel noch einmal etwas an Aufklärung, hoffe ich.

Zitat:
In diesem Abschnitt sehe ich zwei unabhängige Gedankensplitter, unterschiedlicher Perspektive. Für mich wäre es vielleicht schöner den ersten Satz, die Frage nach dem Sträuben beim Filmen und ihre Replik, als letzten Satz überhaupt zu nehmen, sozusagen als 'Klammer zu' zum ersten Satz dieses Teils (14).


Stimmt, die Struktur des letzten Absatzes hat mir auch nicht ganz gefallen. Hab's auf deinen Hinweis hin mal ein wenig umgestellt und finde, dass es jetzt viel besser passt. Danke.

Zitat:
Vielleicht hatte sie sich selbst die Aufregung nehmen wollen mit ihrer Behauptung, sie nehme die Pille. Als es getan ist – bei Minute 12, als sie im Flussbett hockt und mit der flachen Hand Wasser zwischen ihre Schenkel schöpft, um seine Spuren zu verwischen – hatte sie vielleicht bereits geahnt, dass es zu spät gewesen war.
Auf die Frage, ob sie sich gegen die Kamera, gegen das Filmen gesträubt habe, ob ihr beim Gedanken, gefilmt zu werden, unwohl gewesen sei, wird sie erwidern, Andere filmten die Taufe ihrer Patenkinder oder stünden samstags mit der Kamera am Sportplatz, um die Spiele ihrer Söhne festzuhalten.

Sie solle, kommt die Aufforderung vom Beifahrersitz, doch noch einmal in die Kamera lächeln.*


* Diesen Schlusssatz brauche ich, um, wie du es schön gesagt hast, die Klammer zu schließen und wieder zum Betrachten der Videoaufnahme zurück zu kommen; evtl. könnte man da noch ein Ich pausiere die Wiedergabe. anfügen. Das werde ich bei der nächsten Überarbeitung mal austesten.

Gruß,
Klemens


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Klemens_Fitte
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Beitrag04.05.2014 12:28

von Klemens_Fitte
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Leute, wir haben es fast geschafft: Die erste Hälfte des Schlusskapitels steht an. Viel Spaß beim Lesen.

__

FÜNF


Der Vater sei kein schlechter Mensch gewesen, wiederholt sie selbst noch einmal und senkt kaum merklich den Kopf, ohne dabei den Blick von der Biegung der Dorfstraße abzuwenden. Zu gerne, sagt sie, hätte sie die Mutter mit der Wahrheit konfrontiert, hätte der Mutter, die ihr immer eine blühende Fantasie vorgeworfen oder sie schlicht als kleine Lügnerin beschimpft habe, zu gerne die Beweise auf den Tisch gelegt, wie sie es ausdrückt – leider habe sie den Schuhkarton mit den Fotografien erst gefunden, als der Vater längst der Erde und die Mutter längst der Krankheit übergeben worden seien; und als sie den Schuhkarton in einem Anfall gerechten Zorns unter den Augen der Mutter ausgekippt habe, habe diese nur auf dem Scheslon gesessen und mit leerem Blick, wie immer, durch diese Fotografien hindurchgestarrt.

Warum hatte sie dir gegenüber kein Wort davon erwähnt?

Der Vater, fährt sie fort, müsse die Fotografien gemacht haben, während sie geschlafen habe – hunderte Polaroids seien es gewesen, das immergleiche Motiv, sie, in unzähligen Variationen wie Bilder in einem Wäschekatalog. Auf einigen Fotografien liege sie in ihrem Bett, die Laken zurückgeschlagen, auf anderen habe sie die Betten der Pensionen und Gasthöfe wiedererkannt, in denen früher die Familienurlaube verbracht worden seien. Ihre Frage, ob sie davon gewusst habe, es mitbekommen habe, ob sie auch geschlafen oder sich nur schlafend gestellt habe, ob ihr in manchen dieser Nächte, die sie angeblich in Sorge um den Zustand des Vaters durchwacht habe, auch nur einmal der Gedanke an das Wohl der Tochter gekommen sei – diese Frage sei, wie sie es ausdrückt, an der Mutter abgeprallt.

Die Mutter hatte dir bisweilen von diesen Reisen erzählt, an den Bodensee, nach Südtirol.

Am Ende, sagt sie, hätten die damaligen Vorwürfe der Mutter vielleicht doch einen wahren Kern gehabt – schließlich sei ihr beim Anblick dieser Fotografien bewusst geworden, wie sehr sie den Blick des Vaters vermisst habe: diesen Blick liebevoller Zuneigung, wie sie es ausdrückt, der sich ihr in diesen Fotografien gezeigt habe. Natürlich, sagt sie, habe sie sich im gleichen Augenblick dafür geschämt, in dieser entwürdigenden Sammlung wieder nur ihre Abhängigkeit vom Vater gefunden zu haben – mit dem Entdecken des Schuhkartons ihre Abhängigkeit sozusagen wiederbelebt und mit in ihre schlaflosen Nächte genommen zu haben.

Sofort hattest du beschlossen, dich später auf die Suche nach dem Schuhkarton zu machen.

Es sei ihr damals kein besserer Weg eingefallen, diesen Fund zu verarbeiten, als den Vater vor ihrem geistigen Auge wieder auferstehen zu lassen, wie sie es ausdrückt – in ihren schlaflosen Nächten habe sie sich den Vater beim Betrachten dieser Fotografien vorgestellt, habe sich vorgestellt, wie er sie, ganz stolzer Vater, vor den anderen Männern herumgezeigt habe. Nach und nach, sagt sie, Nacht um Nacht habe sie sich diesen verschworenen Kreis der Männer erschaffen, in deren Mitte sie durch diese Fotografien zu einer Art Göttin erhoben worden sei – einer Göttin, der es, wie ihr klar geworden sei, möglicherweise gelingen könnte, den Käfig der Unantastbarkeit zu verlassen, sich der Lust an der eigenen Opferung hinzugeben.

Was, wenn sie dir früher von ihrem Fund berichtet hätte?

Immer mehr Raum, sagt sie, hätten diese anderen Männer in ihren schlaflosen Nächten eingenommen, diese Freunde und Bekannte ihres Vaters, der ja nun einmal unwiederbringlich in der Erde gewesen sei. Zum Ende hin habe sie sogar die Treffpunkte dieser Männer aufgesucht, sei ihnen in die Dorfkneipen und Vereinsheime gefolgt, in die Festzelte, die ihr zuvor so verhasst gewesen seien. Anfangs, sagt sie, habe sie sich noch eingeredet, auf der Suche nach einer nachträglichen Erklärung, vielleicht sogar einer Entschuldigung zu sein – letzten Endes sei ihr aber klar geworden, dass es ihr nur um die Nähe zu diesen Männern gegangen sei, zu diesen Chorleitern, Vereinsvorständen und Kassenwarten, diesen braven Ehemännern, die sie so sehr an ihren Vater erinnert hätten.

Erneut deine Eifersucht, die du schon beim Betrachten der Fotos in der Vereinszeitschrift verspürt hattest.

Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden Einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln und somit diese sogenannte heile Welt als Lügengebilde zu entlarven – diese Welt ihrer verstockten Ehefrauen, die sich war stets das Maul zerreißen, im entscheidenden Moment aber verstummen würden; die nur unter stillem Protest und mit keuschem Kopfschmerz die Beine öffnen würden. Einen nach dem Anderen, sagt sie, habe sie zu Komparsen in diesem Spiel gemacht, das ihr dennoch immer wieder die Opferrolle ermöglicht habe, weil es zwangsläufig mit ihrem eigenen Untergang habe enden müssen – mit diesem finalen Schicksalstag vor neun Monaten, der ihr endlich zu einem sichtbaren, unleugbaren Beweis ihres Unglücks, wie sie es ausdrückt, verholfen habe.

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UtherPendragon
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U


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U
Beitrag04.05.2014 17:17

von UtherPendragon
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens!

Frisch erholt zurück stürze ich mich zuerst auf deinen Text! Wäre mein einziges Souvenir nicht mein an einem erkletterten Felsen zerschlagenes Handy, hätte ich ihn vielleicht auch schon auf der Rückfahrt angelesen lol2

"Spaß beim Lesen" ist relativ, allerdings kann man wohl sagen, dass die beiden Abschnitte sehr fein erarbeitet sind. Mir gefällt sehr gut, wie deine Geschichte bisher nur an der äußeren Schale der ganzen Wahrheit und des Scheins kratzte, um nun mit dem Extremen aufzuwarten.

Die ständige Aufforderung, doch noch einmal mehr in die Kamera zu stieren, erwirkt eine große und traurige Authenzität dieser Stelle, und langsam wird der Leser auch an die Täterpsyche herangeführt, sowie in das innere der, im besten Falle, verschrobenen Dorfgemeinschaft.

Mal gucken, was ich mir noch herauspicken kann.

Zitat:
Vielleicht war es schön gewesen: die Sonnenstrahlen, die gleich zu Beginn der Aufnahme durch das marode Blätterdach fallen … die grobkörnigen Rostflecke auf dem Laubteppich, der jeden ihrer Schritte mit einem Knistern im Mikrofon unterlegt … die Wärme der Baumrinde unter ihren tastenden, nach Halt suchenden Fingern … die grobschlächtige Männerhand, die sich ruckartig in den Fokus der Kamera schiebt, damit beginnt, am Saum ihres grünen Sommerkleids zu nesteln.
Vielleicht war es schön gewesen
Am liebsten würde man ja mit der Axt des Vaters hinterm Baum lauern.. Daher kann ich das wiederholte "vielleicht war es schön gewesen" nicht recht einordnen, da es so beinahe so klingt, als würde der Erzähler anstelle seiner unglücklich Verehrten Glück oder Freude empfinden, was sicher nicht in deiner Absicht liegt. Dieser Satz ist mir jedenfalls nicht distanziert genug - ansonsten fallen mir im Nachhinein nur "ihre" Schritte auf: müsste die Kamera nicht vor allem oder zumindest auch die schweren Schritte des Mannes aufzeichnen? Man kann das natürlich als unerhebliches Element auslassen..

Zitat:
Der Vater sei kein schlechter Mensch gewesen, wiederholt sie selbst noch einmal und senkt kaum merklich den Kopf, ohne dabei den Blick von der Biegung der Dorfstraße abzuwenden. Zu gerne, sagt sie, hätte sie die Mutter mit der Wahrheit konfrontiert

Behauptet sie gerade selbst ohne Einschränkung, ihr Vater sei kein schlechter Mensch gewesen? Und der Erzähler nimmt dies ohne ein weiteres Kommentar hin? Es ist eine Weile her, seit ich die vergangenen Kapitel zuletzt las, aber das mag mir nicht passen. Oder zitiert sie, was näher liegt, die Mutter? Wenn ja, kommt das nicht heraus.

Zitat:
Zu gerne, sagt sie, hätte sie die Mutter mit der Wahrheit konfrontiert, hätte der Mutter, die ihr immer eine blühende Fantasie vorgeworfen oder sie schlicht als kleine Lügnerin beschimpft habe, zu gerne die Beweise auf den Tisch gelegt, wie sie es ausdrückt – leider habe sie den Schuhkarton mit den Fotografien erst gefunden, als der Vater längst der Erde und die Mutter längst der Krankheit übergeben worden seien; und als sie den Schuhkarton in einem Anfall gerechten Zorns unter den Augen der Mutter ausgekippt habe, habe diese nur auf dem Scheslon gesessen und mit leerem Blick, wie immer, durch diese Fotografien hindurchgestarrt.
Sehr gut geschrieben.


Zitat:
Die Mutter hatte dir bisweilen von diesen Reisen erzählt, an den Bodensee, nach Südtirol.
Vielleicht begreife ich noch nicht schnell genug, aber wenn diese Reise zusammen verbracht wurde, wie kann die Mutter davon in dem Sinne "erzählen"?

Zitat:
die sich war stets das Maul zerreißen
zwar*?

Nun bin ich auch wieder im letzten Absatz angelangt, muss ein wenig über die steifbeinigen, kopfschmerzelnden Ehefrauchen grinsen, will mir aber auch noch wünschen, dass du dir eine der Formulierungen noch einmal ansiehst:
Zitat:
Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden Einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln und somit diese sogenannte heile Welt als Lügengebilde zu entlarven
Dein Text zeigt rundum eine Subtilität, wie sie paradoxerweise direkter und schmerzhafter, besonders für hypothetische Beteiligte, nicht sein könnte. Mein kleinkariertes Sprachzentrum wertet diesen einen Satz jedoch als "aus dem Rahmen fallend". Es ist nur eine Kleinigkeit, aber die sogenannte "heile Welt" ist gar keine "so genannte" heile Welt, weil ihre Inhaber sie niemals selbst so bezeichnen würden. Das entlarvte Lügengebilde ist zudem ein oft strapazierter Begriff und wird dem großen inhaltlichen Knoten, der sich im letzten Kapitel löst, nicht gerecht, glaube ich.
Ich verdeutliche mein Anliegen mit einem Änderungsvorschlag:
"Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden Einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln und hinter den Vorhang ihrer christlichen Gemeinschaft zu blicken - in die Welt ihrer verstockten Ehefrauen..." usw. Ist nicht FITTE und auch das Bild mit dem Vorhang ist ganz schlecht. Dir fällt da sicher was Besseres ein, wenn du es nicht ohnehin so stehen lassen willst.

Keep it on!
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Klemens_Fitte
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Beitrag05.05.2014 09:01

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Guten Morgen, Uther,

schön, dass du so gut erholt und mit frischen Gedanken hier reinschaust (mein Wochenende war aus der Kategorie "Wunderschön, aber auch intensiv und anregend, muss erstmal verarbeitet werden").

UtherPendragon hat Folgendes geschrieben:
"Spaß beim Lesen" ist relativ, allerdings kann man wohl sagen, dass die beiden Abschnitte sehr fein erarbeitet sind. Mir gefällt sehr gut, wie deine Geschichte bisher nur an der äußeren Schale der ganzen Wahrheit und des Scheins kratzte, um nun mit dem Extremen aufzuwarten.


Ich bin mir ja noch nicht sicher, ob den Lesern die derzeitige Auflösung (ein Teil steht ja noch aus) reichen wird oder ob am Ende das Gefühl zurückbleibt, nach diesem ganzen Vorlauf mit leeren Händen dazustehen; andererseits bedingt diese Geschichte natürlich, dass es nicht den einen großen Twist, die eine große Auflösung geben kann - und vielleicht muss man den Text tatsächlich noch einmal vom Ende her lesen, um wirklich glücklich damit zu werden. Wir werden sehen.

Zitat:
Zitat:
Vielleicht war es schön gewesen: die Sonnenstrahlen, die gleich zu Beginn der Aufnahme durch das marode Blätterdach fallen … die grobkörnigen Rostflecke auf dem Laubteppich, der jeden ihrer Schritte mit einem Knistern im Mikrofon unterlegt … die Wärme der Baumrinde unter ihren tastenden, nach Halt suchenden Fingern … die grobschlächtige Männerhand, die sich ruckartig in den Fokus der Kamera schiebt, damit beginnt, am Saum ihres grünen Sommerkleids zu nesteln.
Vielleicht war es schön gewesen
Am liebsten würde man ja mit der Axt des Vaters hinterm Baum lauern.. Daher kann ich das wiederholte "vielleicht war es schön gewesen" nicht recht einordnen, da es so beinahe so klingt, als würde der Erzähler anstelle seiner unglücklich Verehrten Glück oder Freude empfinden, was sicher nicht in deiner Absicht liegt.


Ja, vielleicht müsste ich ihn umformulieren, damit klar wird, worauf ich hinaus will: Der Erzähler steht natürlich vor dem Problem ihrer Aussage, es nicht zu bereuen - und auch, wenn sie die Frage, ob es ihr gefalle, bis zum Schluss nicht beantwortet, steht sie ja weiterhin im Raum (und es gibt für ihn durchaus Grund zur Annahme, dass die Antwort ein "Ja" sein könnte); so schizophren oder zumindest widersinnig das auf den ersten Blick auch scheint.
Diese Problematik prägt auch den Blick des Erzählers auf diese Aufnahme, es geht also beim Betrachten der Aufnahme für den Erzähler auch darum, sich vorstellen zu wollen, was denn genau "schön" gewesen sein oder ihr "gefallen" haben könnte. Ich hatte in einer ersten Version geschrieben:
Zitat:
Vielleicht hat es ihr gefallen:

Das hatte mir dann aber irgendwie nicht mehr gefallen. Wenn es dem Verständnis dieser Passage dient, stelle ich es natürlich gerne wieder um.

Zitat:
ansonsten fallen mir im Nachhinein nur "ihre" Schritte auf: müsste die Kamera nicht vor allem oder zumindest auch die schweren Schritte des Mannes aufzeichnen? Man kann das natürlich als unerhebliches Element auslassen..


Das war hier eigentlich gemeint im Sinne von "ihrer (beider) Schritte", also nicht feminin singular, sondern plural. Mit dem "beider" wird's mir aber zu gestelzt.

Zitat:
Zitat:
Der Vater sei kein schlechter Mensch gewesen, wiederholt sie selbst noch einmal und senkt kaum merklich den Kopf, ohne dabei den Blick von der Biegung der Dorfstraße abzuwenden. Zu gerne, sagt sie, hätte sie die Mutter mit der Wahrheit konfrontiert

Behauptet sie gerade selbst ohne Einschränkung, ihr Vater sei kein schlechter Mensch gewesen? Und der Erzähler nimmt dies ohne ein weiteres Kommentar hin? Es ist eine Weile her, seit ich die vergangenen Kapitel zuletzt las, aber das mag mir nicht passen. Oder zitiert sie, was näher liegt, die Mutter? Wenn ja, kommt das nicht heraus.


Ich hatte ja eigentlich gehofft, ich würde damit durchkommen, wenn ich das offen lasse - bzw. wollte ich den Leser mit dieser zunächst widersinnigen Aussage konfrontieren, ohne dass es so aussieht, als läge hier ein Logikfehler vor. Es wird ja auch nicht darauf eingegangen, wie sie diesen Satz ausspricht: schwingt Sarkasmus in ihrer Stimme mit? Äfft sie die Mutter nach? Ist es jetzt ihre Aussage (die sie so wahrscheinlich sogar treffen würde, auch wenn sie sich des Widerspruchs bewusst ist) oder die der Mutter?
Wie gesagt, ich wollte das offen lassen, den Leser dazu zwingen, sich selbst gegenüber dieser Aussage zu positionieren - es wäre natürlich blöd, wenn das dann eher als Nachlässigkeit des Autors rüberkommt. Daher würde ich mir an dieser Stelle weitere Meinungen wünschen.

Zitat:
Zitat:
Die Mutter hatte dir bisweilen von diesen Reisen erzählt, an den Bodensee, nach Südtirol.
Vielleicht begreife ich noch nicht schnell genug, aber wenn diese Reise zusammen verbracht wurde, wie kann die Mutter davon in dem Sinne "erzählen"?


Diese Reisen fallen ja in die Zeit vor dem Tod des Vaters und somit auch vor dem Auftreten des Erzählers (und in die Zeit, als sich die Mutter noch klarer artikulieren konnte).

Zitat:
Zitat:
die sich war stets das Maul zerreißen
zwar*?


Huch - vielen Dank, ist korrigiert.

Zitat:
Nun bin ich auch wieder im letzten Absatz angelangt, muss ein wenig über die steifbeinigen, kopfschmerzelnden Ehefrauchen grinsen, will mir aber auch noch wünschen, dass du dir eine der Formulierungen noch einmal ansiehst:
Zitat:
Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden Einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln und somit diese sogenannte heile Welt als Lügengebilde zu entlarven
Dein Text zeigt rundum eine Subtilität, wie sie paradoxerweise direkter und schmerzhafter, besonders für hypothetische Beteiligte, nicht sein könnte. Mein kleinkariertes Sprachzentrum wertet diesen einen Satz jedoch als "aus dem Rahmen fallend". Es ist nur eine Kleinigkeit, aber die sogenannte "heile Welt" ist gar keine "so genannte" heile Welt, weil ihre Inhaber sie niemals selbst so bezeichnen würden. Das entlarvte Lügengebilde ist zudem ein oft strapazierter Begriff und wird dem großen inhaltlichen Knoten, der sich im letzten Kapitel löst, nicht gerecht, glaube ich.


Da sprichst du einen wichtigen Punkt an, nämlich den, auf welche Version der Wahrheit der Erzähler (auch in der sprachlichen Fassung) angewiesen ist; natürlich stehen "heile Welt" und "Lügengebilde" hier als abstrakte Ideen, ihre Erwähnung im Rahmen dieses Geständnisses hat Programm, auch im Sinne einer Schuldabweisung - die Protagonistin bemüht diese abgegriffenen Formulierungen ja durchaus bewusst. (Jetzt, wo du mich darauf hinweist, wird mir allerdings endgültig klar, dass "Lügengebilde" nicht das Wort ist, auf das ich eigentlich hinaus wollte - da hatte ich auch schon meine Zweifel.)
Hm, jetzt werde ich sehr undeutlich. Ich greife mal deinen Änderungsvorschlag auf und forme ihn ein wenig um:

Zitat:
Ich verdeutliche mein Anliegen mit einem Änderungsvorschlag:
"Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden Einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln und hinter den Vorhang ihrer christlichen Gemeinschaft zu blicken - in die Welt ihrer verstockten Ehefrauen..." usw. Ist nicht FITTE und auch das Bild mit dem Vorhang ist ganz schlecht. Dir fällt da sicher was Besseres ein, wenn du es nicht ohnehin so stehen lassen willst.


Nach diesem Wochenende muss ich mein Sprachzentrum erstmal wieder kallibrieren (siehe oben), aber vielleicht passt das ja eher:

Zitat:
Verführerisch einfach, sagt sie, sei es gewesen, jeden einzelnen dieser braven Ehemänner um den Finger zu wickeln; sie habe gewissermaßen mit ihrem Rock auch den Schleier dieser sogenannten heilen Welt gelüftet - dieser Welt etc.


Ginge das in die Richtung?

Erstmal vielen lieben Dank für deine Einlassungen, das war wieder ungemein hilfreich.

Gruß,
Klemens


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Beitrag05.05.2014 23:14

von EWJoe
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Servus Klemens,

Ambivalenz ist ein wesentlicher Teil Deines Textes. Zwiespältig sieht sich mMn die Protagonistin: einerseits als Opfer eines langen Missbrauchs, das Gefühl unwiederbringlich beschmutzt zu sein, geschunden; in erster Linie hat der Vater Schuld auf sich geladen, das ist ihr klar, dann auch die möglicherweise Loyalität und gleichzeitig wieder Ablehnung dem Vater gegenüber. Eingebettet in eine katholische Umgebung mit einer Keuschheitsmoral, einer katholischen Definition von Reinheit und dem Märtyrertum als höchste Form des Sauberseins, des Opferseins, das wie ein reinigendes Feuer jede Untat auslöscht. Diese Verlogenheit aber wiederum ablehnend.
Opfern ist es oft nicht möglich, sich selbst als reine Opfer zu sehen, so meinen sie oft selbst Schuld auf sich geladen zu haben, wohl aber wissend, dass die Schuld eigentlich von dem Täter kommt. Sehr widersprüchlich eben. Aber in dieser extremen Situation sind Menschen wohl nicht in der Lage ein sogenanntes normales Leben aufzubauen. Meist ziehen sich solche Opfer komplett zurück, werden komplett beziehungsunfähig, lassen niemanden mehr an sich heran. Vielleicht aber gibt es eben auch die Ausprägung, die Du hier beschrieben hast, dass sie zunächst das Elternhaus mit ihrem "freizügigen" Verhalten bestraft, schließlich auch die weitere Umgebung mit einbezieht ein Martyrium aufbaut, ein Hilfeschrei der ungehört verklingt. Natürlich erntete sie nicht das erhoffte Verständnis, was sie weiter in sich selbst zurückdrängen musste. Die Mutter selbst hätte sie (als Kind) unterstützen müssen, statt dessen sah sie eine Konkurrentin in ihr. Das Urvertrauen in den Menschen, der in aller erster Linie Schutz bedeutet war zerstört. Wen hatte sie noch? Nur noch ihre eigene Phantasie.
Ambivalenz zeigt auch der Erzähler/Denkende. Er selbst war sich nicht immer seiner Gefühle ihr gegenüber im klaren. Der komplexe Charakter faszinierte ihn, aber gleichzeitig irritierte dieser, stand sie doch zu weit vom normalen Leben entfernt. Er ringt in jeder Zeile Deines Textes um Klarheit, wohl in erster Linie für sich selbst. Er steht ihr nahe und auch wieder nicht, in jedem Fall steht er ihr viel näher als sonst irgend wer.

Insofern sehe ich den Text aus einem etwas anderen Blickwinkel als Uther, der natürlich mit untrüglichem Instinkt seinen Finger auch auf Stellen legt, die in der Auslegung problematisch sind. Es ist aber dieses innere Ringen (wie soll ich sie sehen?), das den Text zu etwas Besonderes werden lässt. Die Suche nach der sogenannten Wahrheit versucht sich oft von direkter Emotion zu lösen, daher sehe ich es nicht als emotionelle Kälte des Erzählers der Dame gegenüber, er ringt mit aller Kraft um seine Sicht. Vielleicht kann er schließlich klare Emotionen ihr gegenüber formulieren, aber sein Ringen ist noch nicht erledigt.

Nun konkreter:
Dein Vorschlag zu "Vielleicht war es schön gewesen" mit "Vielleicht hat es ihr gefallen" zu ersetzen passt in diesem Blickwinkel deutlich besser. Es drückt auch die vielleicht unbewusste Eifersucht aus, die der Erzähler in diesem Augenblick empfunden haben mag.

Zitat: "Der Vater sei kein schlechter Mensch gewesen", ist eben auch eine ambivalent zu verstehende Äußerung, wie Du es selbst dargelegt hast. Vielleicht auch noch die noch immer funktionierende Loyalität dem Vater gegenüber, oder die Imitation der Mutter.
Der Erzähler ringt noch mit der Wahrheit ist um emotionelle Distanz bemüht, ohne die eine objektive Sicht nicht möglich ist.

Ist nur so eine Impression, vielleicht geboren aus zu viel Wein.

LG EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag06.05.2014 11:57

von Klemens_Fitte
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Moin EWJoe,

in vino veritas, möchte ich da mal sagen; dein Kommentar zeigt, dass du sehr genau nachgelesen, nachgefühlt/dich eingefühlt hast in diese (Gefühls-)Welt, die ich hier nachzeichne. Natürlich ist es schwierig, den Ambivalenzen, dem Nicht-Greifbaren, dem Widersprüchlichen den nötigen Raum einzuräumen, den die Thematik erfordert, auf der anderen Seite dem Leser aber auch ein wenig Führung zu geben, Orientierungspunkte zu setzen, damit er sich nicht inmitten der Undeutbarkeit verliert. Und gerade weil ich mir dieser Problematik bewusst bin, bin ich umso dankbarer für Leser wie dich oder Uther, die sich mit der nötigen Offenheit auf meine Versuchsanordnung einlassen.

Es gäbe natürlich eine Menge mehr zu der hier aufgegriffenen Thematik zu sagen, insbesondere zu diesem Punkt:
Zitat:
Opfern ist es oft nicht möglich, sich selbst als reine Opfer zu sehen, so meinen sie oft selbst Schuld auf sich geladen zu haben, wohl aber wissend, dass die Schuld eigentlich von dem Täter kommt.

Nicht selten gründet dieses Schuldbewusstsein ja auch darin, dass der Missbrauch (gerade, wenn er in jungen Jahren erfolgt) die gesamte (sexuelle) Entwicklung des Opfers überschattet, auch in späteren Beziehungen in verschiedenster Art perpetuiert etc. - das möchte ich an dieser Stelle aber nicht tun, weil es (a) den Rahmen sprengen würde und ich (b) auch nicht mit dem nötigen Fachwissen an dieses Thema herangehen kann. Nicht umsonst habe ich ja diese Form der Auseinandersetzung gewählt.
Daher nochmal danke für deinen Beitrag, der hier für einige Klärung sorgen sollte.
Zitat:
Nun konkreter:
Dein Vorschlag zu "Vielleicht war es schön gewesen" mit "Vielleicht hat es ihr gefallen" zu ersetzen passt in diesem Blickwinkel deutlich besser. Es drückt auch die vielleicht unbewusste Eifersucht aus, die der Erzähler in diesem Augenblick empfunden haben mag.

Dann werde ich das wieder zurückändern, denn dieser zweite Aspekt, den du erwähnst, ist mir tatsächlich wichtig.
Zitat:
Vielleicht kann er schließlich klare Emotionen ihr gegenüber formulieren, aber sein Ringen ist noch nicht erledigt.

Ich bin schon sehr gespannt, wie das Ende diesbezüglich hier aufgenommen werden wird.

Gruß,
Klemens


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EWJoe
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Beitrag06.05.2014 23:45

von EWJoe
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Servus Klemens,

ja Missbrauch von Kindern hat einen lebenslangen und immer negativen Einfluss. Nicht zuletzt darum ist der Missbrauch auf das Äußerste zu verurteilen. Deine Geschichte und die damit verbundenen Gedanken machen das offensichtlich. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die solche Verbrechen erdulden müssen, ist leider viel höher als man in der Öffentlichkeit denkt. Besonders schlimm ist es, wenn die nächsten Vertrauenspersonen versagen, aus eigener Unfähigkeit heraus, aus falsch verstandener Loyalität , oder weil sie selbst die Täter sind. Als Erwachsener ist das schon schwer zu ertragen, aber als Kind, eine unmögliche Aufgabe. Die Psyche minimiert den Schaden, Phantasie ersetzt den Zuspruch, das menschliche Verständnis. Es bleibt dem kleinen Wesen ja keine andere Chance, als in einer skurrilen Scheinwelt Schutz zu suchen und daher eine ebenso skurrile Verhaltensweise hervorzubringen.
Das Resultat und auch den Weg dorthin hast Du wunderbar und berührend beschrieben.
Wie drückte es Uther aus: "Am liebsten würde man ja mit der Axt des Vaters hinterm Baum lauern." Nur da ist der Verursacher längst nicht mehr erreichbar, verrottet in seinem Grab. Stellvertreter hat sie sich wohl einige erkoren, die bereitwillig ihre Triebe an ihr zu befriedigen suchten. Aber ihr Motiv war wohl nicht vordergründig Lust, dieses Motiv ist aus ihrer Scheinwelt, ihrem Bollwerk gegen dem völlig Verlassen- und  Alleinseins heraus zu verstehen.

In Deiner Geschichte werden keine Atombomben gezündet, dennoch ist sie dramatisch und fesselnd. Die Story entwickelt sich in der Gedankenwelt, beschäftigt sich mit einem sehr schwierigen Thema. Letztendlich bringt sie Deiner Prota, aus meiner Sicht, viel feinfühliges Verständnis entgegen, hart mit sich selbst errungen, und auch nicht expressiv, aber klar erkennbar. Ja, der Leser ist gefordert dieses Verständnis selbst hervorzubringen, er lehnt sich fast automatisch gegen die Umgebung der Prota auf, bezieht klar emotionell Stellung, während der Erzähler oftmals scheinbar neutral um Erkenntnis ringt.

Ein tiefer Blick in das Innerste eines Menschen und nebenbei, vom Hörensagen her, in das Innerste Deiner Prota. Sehr tiefsinnig, bewegend. Könnte man Deinen Text für irgend einen Preis nominieren, er wäre klar Nr. 1 für mich.
Auf die Fortsetzung wartend,

LG EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag07.05.2014 08:25

von Klemens_Fitte
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Moin EWJoe,

zum ersten Absatz deines Kommentars gäbe es sicher noch Einiges zu sagen, ich unterschreibe ihn an dieser Stelle einfach mal nur.

Bevor ich den letzten Teil poste, möchte ich mir nochmal zwei Punkte rausgreifen:
Zitat:
Nur da ist der Verursacher längst nicht mehr erreichbar, verrottet in seinem Grab. Stellvertreter hat sie sich wohl einige erkoren, die bereitwillig ihre Triebe an ihr zu befriedigen suchten. Aber ihr Motiv war wohl nicht vordergründig Lust, dieses Motiv ist aus ihrer Scheinwelt, ihrem Bollwerk gegen dem völlig Verlassen- und  Alleinseins heraus zu verstehen.

Das hast du gut erkannt. Ich denke, diesen Aspekt werde ich in der Überarbeitung noch deutlicher herausstellen, damit klar wird, dass ihr Verhalten nicht im Widerspruch zu den Erlebnissen ihrer Kindheit steht, sondern auf verstörende Weise daraus resultiert.
Es ist ja gerade dieses - auf den ersten Blick - paradoxe Verhalten, das es den Betroffenen erschwert, normale Beziehungen aufzubauen; das es einem Außenstehenden, so ehrenwert seine Motive auch sein mögen, erschwert, einen Zugang zu finden, Verständnis aufzubringen.

Denn hinter der Haltung des Erzählers
Zitat:
Ja, der Leser ist gefordert dieses Verständnis selbst hervorzubringen, er lehnt sich fast automatisch gegen die Umgebung der Prota auf, bezieht klar emotionell Stellung, während der Erzähler oftmals scheinbar neutral um Erkenntnis ringt.

steht ja nicht nur das Bemühen um die objektive Wahrheit, sondern vor allem - für ihn - auch die Frage der Distanz; wie nahe darf er, will er sich wieder annähern, will er sich wieder in diese emotional aufreibende, zerstörerische, zermürbende Geschichte hineinziehen lassen, auch auf die Gefahr hin, am Ende wieder außen vor zu sein?
Auch diesen Punkt würde ich in der Überarbeitung gerne noch stärker betonen, denn ohne dieses Element ist das Ende, glaube ich, kaum zu verstehen.

Den letzten Teil poste ich dann im Laufe des Tages.

Gruß,
Klemens


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