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Kruemel3000
Gänsefüßchen
K


Beiträge: 20



K
Beitrag05.03.2014 17:32

von Kruemel3000
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Verstehe... na dann - auf ein Neues!

"Projekt für eine Revolution in New York" kenne ich leider (noch) nicht...

Tannöd ist jetzt inhaltlich auch nix weltbewegendes, aber - so fair muss man sein - formal gelungen. Ich dachte dabei auch vor allem an die dortige "Ökonomie der Mittel"...

Nochmals,

.
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Gast







Beitrag05.03.2014 17:38

von Gast
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Klemens,

Zitat:
Diese Erzählung bezieht ihre ganze Spannung aus der seltsamen Art, in der sie erzählt ist, und ehe ich das ändere, sage ich: Augen zu und durch - um mich danach etwas Neuem zu widmen und aus meinen Fehlern zu lernen.


Dem würde ich gern folgendes hinzufügen: Ich glaube, es ist umso wichtiger, das hier sehenden Auges durchzuhalten, gerade um dieser Spannung (die ich für mich ja schon als so herausragend festgehalten habe) nichts zu nehmen, sei es auch nur durch Winzlinge von Einbrüchen oder Störungen im Konstrukt.

Zitat:
[...] eine Geschichte, die weder neu noch aufregend noch lang ist, die in anderer Form schon tausendfach erzählt wurde
wird hier neu und aufregend, weil du sie erzählst, in dieser Form, die du gewählt hast, nicht ohne Grund (da bin ich sicher, und wenn es "nur" ein besonders schwieriges Experiment ist). Ich glaube nicht, dass es darum gehen kann, ein Vorbild, einen Einfluss, loswerden zu müssen oder zu wollen ... diese besonders hohe Erwartung, die du an dich selbst stellst (mit der Form dieses Textes) ist vielleicht ein Spiel mit dem Scheitern, aber ehrlich? ich kann zwar diese Faszination evtl. nachvollziehen, nehme dir aber nicht so ganz ab, dass da nicht die Möglichkeiten des Nicht-scheiterns erforscht werden sollen.

Ich finde auch in Teil III die Spannung, aber auch Momente des "Klartext" -Sprechens, die ihrerseits neugierig machen. Vielleicht wurde diese Geschichte schon oft erzählt, ich weiss es nicht, so jedenfalls kenne ich sie nicht. Ich melde mich wieder, würde gern zwei, drei Stellen kritisch unter die (meine) Lupe nehmen, auch Fragen stellen.

Lorraine
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Klemens_Fitte
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Alter: 41
Beiträge: 2934
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Beitrag06.03.2014 11:46

von Klemens_Fitte
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Lorraine hat Folgendes geschrieben:
... diese besonders hohe Erwartung, die du an dich selbst stellst (mit der Form dieses Textes) ist vielleicht ein Spiel mit dem Scheitern, aber ehrlich? ich kann zwar diese Faszination evtl. nachvollziehen, nehme dir aber nicht so ganz ab, dass da nicht die Möglichkeiten des Nicht-scheiterns erforscht werden sollen.


Ja, natürlich gehe ich immer noch davon aus, dass das funktionieren kann, auch wenn ich diese Annahme auf keinerlei Erfahrung stützen kann - es kann, vorausgesetzt, mir unterlaufen keine Fehltritte oder Ausrutscher, da stimme ich dir zu. Und vielleicht wage ich mich grade zu schnell nach vorne, weil ich mir langsam der Erwartungshaltung bewusst werde. Andererseits agiere ich hier ja bewusst ohne Netz und doppelten Boden, weil das daraus resultierende Risiko das ist, was mich derzeit überhaupt noch zum Schreiben bewegt.

Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun oder damit, dass ich hier den J.R.R. Tollkühn geben will - es geht mir auch vorrangig nicht um den Applaus, der gemeinsam mit der Fallhöhe größer wird. Ich brauche beim Schreiben (derzeit) einfach das Gefühl, dass es um etwas geht, dass etwas auf dem Spiel steht, und sei es der Text selbst.

Zitat:
Ich melde mich wieder, würde gern zwei, drei Stellen kritisch unter die (meine) Lupe nehmen, auch Fragen stellen.


Ich freue mich drauf.
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Gast







Beitrag07.03.2014 09:55

von Gast
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Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:
Tadaa, früher als versprochen (ich muss das jetzt loswerden, bevor ich wieder zu grübeln anfange), der erste Teil von Kapitel 3. Das Ausgangsmaterial war hier nicht so ausgearbeitet wie bisher, kann also sein, dass manche Stellen noch nicht ganz stilsicher sind.

Bin wie immer gespannt auf Rückmeldungen und Anregungen.

--

DREI


Am Ende, sagt sie, seien es weder mein Weggang aus dem Dorf, noch die letzten Jahre, die diese Kluft zwischen uns aufgerissen hätten – schließlich seien wir einander schon immer fremd gewesen, es sei doch gerade die Fremdheit des jeweils Anderen gewesen, die uns zueinander hingezogen habe. Gleich nachdem ich mit meiner Familie als Fremder in Dorf gekommen sei, als Exot, wie sie es ausdrückt, habe sie in meiner Haltung, meinem Fremdsein etwas ihr Vertrautes entdecken können.

Die damalige Unterkunft war dir wieder in den Sinn gekommen, das alte Bahnhofsgebäude.

Wir seien, sagt sie, einander schon sehr gelegen gekommen, hätten einander gelegen, trotz dieser Kluft zwischen uns, trotz der Tatsache, dass wir nie zueinander hätten finden können, weil uns das Gefühl der eigenen Fremdheit schon damals zu vertraut gewesen sei – weil wir uns selbst immer als Fremde wahrgenommen hätten, ganz gleich ob im Dorf, in der Stadt oder in unserer nervösen Zweisamkeit.

Eure erste längere Unterhaltung damals, während eines einstündigen, ziellosen Spaziergangs durch die Stadt.

Sofort erinnere ich mich an unsere nächtlichen Streifzüge, die stundenlangen Wanderungen durch die Stadt, durch die immer menschenleerer werdenden Kneipengassen. An ihre atemlose Suche nach einem, wie sie es damals ausgedrückt hatte, Laden mit guter Musik. Ihr Wunsch nach einem Laden mit guter Musik hatte uns damals, vor meinem endgültigen Weggang aus dem Dorf, bis zum Morgengrauen von einer Kneipe oder Bar zur nächsten geführt – und in jedem dieser Läden waren wir nur so lange geblieben, bis sie uns mit ihrem Wunsch nach guter Musik beim jeweiligen Wirt oder Barkeeper unmöglich gemacht hatte.

Dich hatte man immer nur als ihr Anhängsel wahrgenommen.

Zum Ende hin, erinnere ich mich, hatte ich schon am Gesichtsausdruck des jeweiligen Wirts oder Barkeepers das Ende seiner Geduld ablesen können – während sie noch nach jedem zweiten oder dritten Musikstück den Tanzboden verlassen und mal bettelnd, mal mit Bestimmtheit ihren nächsten Musikwunsch geäußert hatte, in immer längeren Verhandlungen, die stets damit geendet hatten, dass der Wirt oder Barkeeper hinter sich gegriffen hatte; entweder, um eine CD aus dem Regal zu nehmen, oder um unseren Zettel fertig zu machen.

Deine Scham darüber, ihr ein Glas Leitungswasser nach dem anderen bestellen zu müssen.

Anfangs war sie ja durchaus gern gelitten gewesen, hatte man die Anwesenheit einer jungen Frau in diesen abgeranzten Schuppen noch begrüßt – bis irgendwann, früher oder später, jedem Anwesenden klar geworden war, dass diese junge Frau grundsätzlich alleine tanzen wollte. Die Männer, die sich ihr auf dem Tanzboden genähert hatten, hatte sie auflaufen, hatte sie neben ihr her tanzen lassen, bis es ihnen zu dumm geworden war. Mehrfach hatte sie damals erwähnt, dass ihr meine Begleitung am liebsten sei, weil ich als Einziger ihren Wunsch, alleine zu tanzen, respektieren könne – weil ich der Einzige sei, der ihr Alleinsein auf dem Tanzboden nicht als Aufforderung oder Einladung verstünde.

Du dagegen hattest damals deine Zurückhaltung still und heimlich verflucht.

Auch heute, habe ich sagen hören, streife sie noch durch diese abgeranzten Schuppen, verbringe die Nächte in der Beiz oder im Aktiv – man sehe sie inzwischen aber auf einer anderen Suche, auf der Suche nach ein wenig blinder Aufmerksamkeit, nach dem offenen Ohr oder zumindest der offenen Brieftasche eines der Altbekannten, die sie früher habe neben ihr her tanzen lassen, und mit denen sie sich heute bis zum Selbstvergessen betrinke. In einem Zustand verzweifelter Frivolität, wie man sich mir gegenüber ausgedrückt hat, habe sie sich zum Ende hin an die bereitwilligen Schultern und Münder dieser Altbekannten herangeworfen.

Hätte man während dieser Schilderungen in deinem Gesicht irgendeine Regung ausmachen können?

Schon zu Schulzeiten hatte man sich derartige Geschichten über sie erzählt, hatten die üblichen Verdächtigen in der Hauptschule erzählt, sie habe ihre Unschuld im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren verloren, an irgendeinen wahllos ausgewählten Mitschüler oder an einen der jungen Gastarbeiter, die sich damals mit uns die Bushaltestelle und den Bus in die Stadt geteilt hatten. Für derartige Geschichten, denke ich mir heute, hatte sich dieses Mädchen von damals ja geradezu angeboten, hatte auch wissen müssen, wie über sie geredet worden war.

Das erste obszöne Schimpfwort, das du gelernt hattest, gerufen von den Hauptschülern: Schwul.

Irgendwann hatte sie angefangen, selbst derartige Geschichten über sich zu verbreiten, hatte uns mit ihren ordinären Schilderungen des öfteren, wenn nicht um den Verstand, so doch zumindest in Verlegenheit gebracht, wenn sie wie beiläufig ihr erzkatholisches Elternhaus und ihre erzkatholische Kindheit beschmutzt und in den Dreck gezogen, in haarsträubende Anzüglichkeiten verwickelt hatte. Und auch, wenn ich manche dieser Schilderungen, die ich wie einen Schatz aufbewahrt habe – das hölzerne, zwischen die Beine geschobene Kruzifix – bis heute nicht glauben kann, frage ich mich in diesem Moment aufs Neue, ob sie wohl jemals unsere kindliche Unschuld geteilt hatte.

Wie oft hatte sie dir damals ihre nachmittäglichen Finger unter die Nase gehalten?

Am Ende, sage ich mir erneut, war es gar nicht ihre kindliche Unschuld gewesen, die sie uns an den nervösen Nachmittagen unserer Jugend im Tausch gegen ein wenig blinde Aufmerksamkeit überlassen hatte – wenn sie sich unserer Nervosität überlassen hatte, in ihrem Zimmer oder auf dem Dachboden ihres Elternhauses, das sie schon damals, wie mir heute klar ist, zu entweihen begonnen hatte. Ihr Zimmer, der Dachboden – die immer wiederkehrenden Schauplätze der Geschichten, die wir üblichen Verdächtigen uns damals unter der Hand weitergereicht hatten.

Trotzdem warst du der Einzige, dem sie später von ihrer ausbleibenden Regel erzählt hatte.


Hallo Klemens,
Hier also ein Versuch, zu diesem Teil einige Anmerkungen und Fragen zu formulieren.
Für mich ist es interessant zu verfolgen, wie dein Erzähler, der Teil der Geschichte ist, Teil also der erzählten Welt, durch die Wiedergabe (also: seine) des Reflektierens der Frau, die (vordergründig?) im Mittelpunkt der Erzählung steht, Teile seiner eigenen Geschichte erzählen kann. Er hat die Wahl, welche der Bemerkungen seines Gegenüber eingeflochten und ein zweites Mal reflektiert werden, nämlich von ihm selbst. Dadurch erreichst du die Übermittlung einer subjektiven Wahrnehmung, deren man sich zwar bewusst ist, die aber immer wieder in den Hintergrund gedrängt wird. Die Zuverlässigkeit des Erzählers wird nicht wirklich angezweifelt, sie ist aber durchaus Gegenstand, bei mir zumindest stellt sich beim Lesen eine Art wache Aufmerksamkeit ein.
Ohne  künstlich vollgepackte Dialogszenen gelingt es dir, den Erzähler immer mehr in die Geschichte einzuflechten, hier in DREI gibt es noch mehr Hinweise darauf, dass der Erzähler emotional in die Geschichte der Frau verwickelt ist, Hinweise darauf, dass er sich evtl. eine Rolle zuweist im Ganzen, dass er auch für sich, wegen sich selbst hier ist, in dieser letzten Nacht und dem letzten Morgen des Tages, der Tage (?), die ihrer Rückkehr zu Fuss vom Unfallort bis ins Dorf folgen (Mir ist dabei immer der erste Satz vor Augen, in dem ich über den "letzten" Satz Sommerreifen gestolpert bin, inzwischen heisst das für mich, dass sie für eine sehr lange Zeit abgeholt werden wird).
Bevor ich zu einzelnen Stellen etwas schreibe, noch eine Frage, die ebenfalls mit der (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers zu tun hat:

Zitat:
Ihr Zimmer, der Dachboden – die immer wiederkehrenden Schauplätze der Geschichten, die wir üblichen Verdächtigen uns damals unter der Hand weitergereicht hatten.

Trotzdem warst du der Einzige, dem sie später von ihrer ausbleibenden Regel erzählt hatte.


Die "üblichen Verdächtigen", dieser Ausdruck hebt sich wie ein Zitat, ein Hinweis vielleicht, vom Text ab. Ich möchte gern wissen, ob du hier eine Ebene öffnest, etwas, das im Bewusstsein des Lesers keimen könnte, ihn vorbereiten sollen auf andernfalls zu überraschende Wendungen? Oder ganz einfach darauf, dass er, der Leser, am Ende wird akzeptieren müssen, dass die ganze Wahrheit für ihn immer nur die sein wird, die der Erzähler aus seiner Sicht und den Wahlmöglichkeiten desjenigen, der Teil der Geschichte ist, ihm, dem Leser zu überlassen bereit ist. Dazu kommt, dass erst nach und nach klar werden wird, wie weit der Erzähler sich selbst bereit ist, in Frage zu stellen.
Immer wieder gab es Hinweise darauf, dass er nicht sein gesamtes Wissen mit dem Leser teilen wird, er stellt ja seine Zuverlässigkeit mehrfach infrage, ich erinnere an diese Stelle
Zitat:
Gleich zu Beginn hattest du ihr versprechen müssen, keine Geschichte draus zu machen.

, die sogar auf eine "doppelte Unzuverlässigkeit" hinweist, also einerseits im erzählerischen Sinn, aber auch, was den zwischenmenschlichen Aspekt angeht. Der Leser wird faktisch damit konfrontiert, dass er eine Geschichte liest, deren Ebenen der Fiktion mehrfach verschlüsselt sind: Die Möglichkeiten des homodiegetischen Erzählers werden ausgereizt, der Leser wird immer wieder mit Fragen konfrontiert, die seine Wahrnehmung, die eigene Beeinflussbarkeit betreffen, er kann sich selbst positionieren, gegenüber einer Geschichte, in der er nicht nur Gerüchte, das Hörensagen abklopfen soll, sondern darüber hinaus das, was der Erzähler davon auswählt, kommentiert.
Die relative Langsamkeit, in der die Rahmenhandlung vorangetrieben wird, ist einerseits nötig, gibt dem Leser Zeit, sich zu positionieren und gleichzeitig ist da die Faszination der Auswahl auf mögliche Rückblicke, was wird erzählt, wie weit geht der Erzähler, was spart er aus und ... kann die Frau sich auf ihn verlassen, oder bekomme ich als Leser eine Version serviert, die Wirklichkeit (erzählte Wirklichkeit, zuverlässige) und Fiktion (in der Fiktion) zum Vorteil/Nachteil eines Protagonisten, also möglicherweise des Erzählers "manipuliert"?
Es zeichnet sich ein Potential ab, das der Erzählung innewohnt, ich halte es aus schreiberischer Sicht für sehr schwer, dieses Potential auszuschöpfen, die Gratwanderung ist bestimmt nicht einfach, es darf nicht so kompliziert werden, dass der Leser abspringt, es dürfen jedoch überraschende, die Spannung steigernde Momente auch nicht ganz fehlen, da der Leser andernfalls nicht wach genug bleibt, um folgen zu wollen ...

Ich finde aber, dass du dich hervorragend schlägst, deine Überarbeitung der ersten Teile, im Pdf abrufbar, beweisen es auch. Ich bin immernoch gespannt darauf, wann, wo und wie du den Teil, der die Nacht erzählt, vor dem Morgen am Fenster, einbauen wirst.

Abschliessend ein Hinweis auf eine Stelle, dir mir weniger gefällt:

Zitat:
Am Ende, sage ich mir erneut, war es gar nicht ihre kindliche Unschuld gewesen, die sie uns an den nervösen Nachmittagen unserer Jugend im Tausch gegen ein wenig blinde Aufmerksamkeit überlassen hatte – wenn sie sich unserer Nervosität überlassen hatte, in ihrem Zimmer oder auf dem Dachboden ihres Elternhauses, das sie schon damals, wie mir heute klar ist, zu entweihen begonnen hatte.


Diese Wiederholung (fett) kommt mir unnötig oder unbeholfen vor, sie reiht sich nicht in diejenigen, die sich mir als dem Stil zugehörig erschliessen, auch notwendig sind; sich der Nervosität anderer zu "überlassen": mich hat dieser Ausdruck gestört, weil er mir als "nicht passend" auffiel, durch die Wiederholung aber unterstrichen wurde, mich damit rausgeworfen hat.

Inzwischen ist das Zeitenspiel, dein Umgang mit Gegenwart und Vergangenheiten überhaupt kein Thema mehr, ich habe mich so eingelesen, dass mir alles sehr natürlich erscheint, für mich ist das Ganze nach wie vor ein Leseerlebnis der besonderen Art.

Das wars vorläufig, ich hoffe, du bleibst dran, ich wünsche dir erfolgreiches Grübeln und wenig Furcht vor Erwartungshaltungen, es wäre wichtig, dass du zuerst einen für dich zufriedenstellenden Weg findest, damit du eine Basis hast, die dir Motivation und Material für dein grösseres Projekt liefert und dir das nötige Selbstvertrauen gibt.

Einen Gruss von hier,
Lorraine
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hobbes
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Beitrag07.03.2014 10:10

von hobbes
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Kruemel3000 hat Folgendes geschrieben:
Der ganze Text kommt mir vor wie ne Paranuss, die man zwar (leider) kaum aufbekommt, innen aber durchaus was Leckeres zu bieten hat.

Ich habe keine Erfahrung mit Paranüssen, aber diese Beschreibung macht gerade das aus, was mir hier mittlerweile so gut gefällt. Mein vermeintliches Verstehen ist nun auch wieder ziemlich durcheinandergewürfelt, aber das macht nichts, bewirkt höchstens, dass ich umso dringender weiterlesen möchte.

Lorraine hat Folgendes geschrieben:
Inzwischen ist das Zeitenspiel, dein Umgang mit Gegenwart und Vergangenheiten überhaupt kein Thema mehr, ich habe mich so eingelesen, dass mir alles sehr natürlich erscheint, für mich ist das Ganze nach wie vor ein Leseerlebnis der besonderen Art.

Das kann ich für mich auch bestätigen.
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Klemens_Fitte
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Beitrag07.03.2014 11:29

von Klemens_Fitte
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Hallo Lorraine,

sehr treffende und einsichtige Anmerkungen hast du mir da mal wieder mitgegeben, und ich stelle immer wieder fest: Anscheinend bin ich mittlerweile so mit dem Text, mit seiner Sprache und den Materialien, diesem über (inzwischen) mehr als sechs Jahre angesammelten Wust verwachsen, dass ich vieles eher auf intuitive als bewusste Entscheidungen zurückführen muss. Es fällt mir gewissermaßen schwer, mich da herauszuheben und das Ganze von außen zu kommentieren, weil dieser Modus des Schreibens für mich inzwischen ganz 'organisch' geworden ist.
Ich weiß auch nicht, wieviele deiner Fragen nicht besser vom Ende her aufgezäumt werden müssten, aber ich bemühe mich mal um eine Einordnung.

Lorraine hat Folgendes geschrieben:
Die "üblichen Verdächtigen", dieser Ausdruck hebt sich wie ein Zitat, ein Hinweis vielleicht, vom Text ab. Ich möchte gern wissen, ob du hier eine Ebene öffnest, etwas, das im Bewusstsein des Lesers keimen könnte, ihn vorbereiten sollen auf andernfalls zu überraschende Wendungen? Oder ganz einfach darauf, dass er, der Leser, am Ende wird akzeptieren müssen, dass die ganze Wahrheit für ihn immer nur die sein wird, die der Erzähler aus seiner Sicht und den Wahlmöglichkeiten desjenigen, der Teil der Geschichte ist, ihm, dem Leser zu überlassen bereit ist.


Die üblichen Verdächtigen sind tatsächlich ein feststehender Begriff in der Sprache des Erzählers und seiner Protagonistin - allerdings auch ein Verweis auf eine (Sprach-)Welt, deren Bewohner sich unaufhörlich in einem Koordinatensystem aus Verdächtigungen, Vorurteilen, Hörensagen bewegen - eine Welt, in der man beispielsweise einem Kind zuerst die Frage stellt: "Wem gehörst du?", weil sich nach dem Ruf derjenigen, denen das Kind gehört, gehorcht oder gar hörig ist, sein Wert als Mensch bemessen lässt. Als Kind erfährt man hier von Anfang an am eigenen Leib, dass die Wahrheit des Erzählten immer relativ ist, und dass auch das Beharren auf Ehrlichkeit, darauf, keine Geschichte draus zu machen, immer nur eine weitere Geschichte produzieren wird.

Zitat:
Dazu kommt, dass erst nach und nach klar werden wird, wie weit der Erzähler sich selbst bereit ist, in Frage zu stellen.
Immer wieder gab es Hinweise darauf, dass er nicht sein gesamtes Wissen mit dem Leser teilen wird, er stellt ja seine Zuverlässigkeit mehrfach infrage, ich erinnere an diese Stelle
Zitat:
Gleich zu Beginn hattest du ihr versprechen müssen, keine Geschichte draus zu machen.

, die sogar auf eine "doppelte Unzuverlässigkeit" hinweist, also einerseits im erzählerischen Sinn, aber auch, was den zwischenmenschlichen Aspekt angeht. Der Leser wird faktisch damit konfrontiert, dass er eine Geschichte liest, deren Ebenen der Fiktion mehrfach verschlüsselt sind: Die Möglichkeiten des homodiegetischen Erzählers werden ausgereizt, der Leser wird immer wieder mit Fragen konfrontiert, die seine Wahrnehmung, die eigene Beeinflussbarkeit betreffen, er kann sich selbst positionieren, gegenüber einer Geschichte, in der er nicht nur Gerüchte, das Hörensagen abklopfen soll, sondern darüber hinaus das, was der Erzähler davon auswählt, kommentiert.


Im Grunde befinden wir uns hier eben in einem Zwischenschritt, zwischen den Notizen und der erzählenden Ausformulierung - der Erzähler zögert, er stellt fest, dass er diesen ehemals natürlichen Schritt zur Geschichte diesmal nicht ohne Skrupel gehen kann. Aber welche Möglichkeiten des Erzählens bleiben ihm, noch dazu als jemand, der nicht nur Beobachter, sondern auch Agierender ist, sowohl in dem, was vorausgegangen ist, als auch in dem, was noch folgt.

Zitat:
Ich bin immernoch gespannt darauf, wann, wo und wie du den Teil, der die Nacht erzählt, vor dem Morgen am Fenster, einbauen wirst.


Oh je, ich fürchte, da habe ich dir versehentlich eine frühe Version des PDFs geschickt. In der Version, die hier gepostet ist, steht dieser Teil direkt vor DREI, als Abschluss von ZWEI. Ansonsten sind die Versionen aber identisch, du musst also nicht alles nochmal lesen. Sorry deswegen.

Zitat:
Abschliessend ein Hinweis auf eine Stelle, dir mir weniger gefällt:

Zitat:
Am Ende, sage ich mir erneut, war es gar nicht ihre kindliche Unschuld gewesen, die sie uns an den nervösen Nachmittagen unserer Jugend im Tausch gegen ein wenig blinde Aufmerksamkeit überlassen hatte – wenn sie sich unserer Nervosität überlassen hatte, in ihrem Zimmer oder auf dem Dachboden ihres Elternhauses, das sie schon damals, wie mir heute klar ist, zu entweihen begonnen hatte.


Diese Wiederholung (fett) kommt mir unnötig oder unbeholfen vor, sie reiht sich nicht in diejenigen, die sich mir als dem Stil zugehörig erschliessen, auch notwendig sind; sich der Nervosität anderer zu "überlassen": mich hat dieser Ausdruck gestört, weil er mir als "nicht passend" auffiel, durch die Wiederholung aber unterstrichen wurde, mich damit rausgeworfen hat.


Da hast du ins Schwarze getroffen. Bis zur letzten Überarbeitung las sich das so:

Zitat:
an den nervösen Nachmittagen unserer Jugend gegen ein wenig blinde Aufmerksamkeit eingetauscht hatte


Ich war dann mit dem 'eingetauscht' nicht zufrieden, habe es durch 'überlassen' ersetzt und war dann spontan von der Doppeldeutigkeit des 'sich/etwas überlassen' angetan, so dass ich den zweiten Satz gleich mit geändert habe. Wie gesagt, das Material wurde hier noch nicht so oft bearbeitet wie das der ersten beiden Kapitel, deshalb können solche kreativen Schnellschüsse (die eben auch mal nach hinten losgehen) eher passieren.
Ich habe mir die Stelle mal angestrichen und werde sie überarbeiten.

Bis dahin, danke für deine ausführlichen Anmerkungen, gegen die sich meine Antwort merkwürdig knapp und oberflächlich ausnimmt.

Gruß,
Jan ... äh, Klemens - ach verdammt.

ach ja, und @ hobbes:

Paranüsse sind großartig, ich muss aber gestehen, dass ich sie mir meist in schon geschälter Form kaufe und mir damit auf kulinarischer Ebene die Mühe erspare, die ich hier meinen Lesern zumute.
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Klemens_Fitte
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Beitrag10.03.2014 13:01

von Klemens_Fitte
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Weiter geht's. Wenn die Schritte und somit Beiträge grade kürzer werden, liegt das daran, dass ich mir immer mehr Acht geben muss, nicht vom Weg abzukommen bzw. nicht die Balance zu verlieren. Wie gesagt, nichts von dem, was hier passiert, ist in Stein gemeißelt.

__

Vor meiner Rückkehr hatte ich mich noch mit einem der damaligen üblichen Verdächtigen getroffen – gleich nachdem ich im Internet über diese Videoaufnahme und somit die Geschichte mit ihrem Vater gestolpert war, hatte ich diesen üblichen Verdächtigen kontaktiert, hatte im Gespräch mit ihm versucht, diese Geschichte, die ihm vom Hörensagen bekannt war, auf einen Kern, den – wie ich mir gesagt hatte – möglicherweise wahren Kern zu reduzieren.

Die Videoaufnahme hattest du unerwähnt gelassen.

Zu der Zeit, so hatte er sich in diesem wenige Wochen alten Gespräch ausgedrückt, hätte sich doch keiner von uns eingestanden, dass er sich ausgerechnet um sie bemühe – man hätte es vor den Anderen schon dreimal nicht gestanden, egal, wer von uns wieder einmal betrunken bei ihr abgestürzt oder nach erfolglosen Versuchen bei den Städterinnen wieder einmal bei ihr gelandet sei. Mit den Fragen Bist du wieder bei ihr gelandet? oder Bist du wieder bei ihr abgestürzt? habe man ja jeden von uns bei den Anderen unmöglich machen können. Und schließlich, hatte er hinzugefügt, sei es für jeden von uns das Schlimmste gewesen, wenn sie selbst wieder einmal mit einer dieser Geschichten hausieren gegangen sei, wenn sie aus jedem dieser Zwischen- und Unfälle gleich wieder eine Geschichte gemacht habe.

Hattest du nicht versucht, in diesem Gespräch den Gestus des neutralen Beobachters zu wahren?

Ich hätte ihm gerne, erinnere ich mich, die Faszination gestanden, die ihr rücksichtsloser Umgang mit sich selbst schon damals auf mich ausgeübt hatte – ich hätte ihm gegenüber dieses Geständnis meiner Faszination ablegen und mich damit bei ihm unmöglich machen können. Keiner, so hatte er es ja selbst gesagt, habe sie weniger leiden können als sie sich selbst. Man müsste bei ihr, denke ich mir jetzt, schon von einer Abneigung sprechen, einer pathologischen Abneigung gegen die eigene Person, die sich darin ausgedrückt hatte, wie sehr sie in diesen Geschichten und der herabwürdigenden Rolle aufgegangen war, die sie in diesen Geschichten eingenommen hatte – wie sehr sie darum bemüht gewesen war, jede Herabwürdigung noch zu übertrumpfen, die sie durch diese Geschichten erfahren hatte.

Es wäre ihr damals ein Leichtes gewesen, auch alle mit ins Verderben zu reißen.

Sollte es also darum gehen, ein Bild ihrer ursprünglichen Unschuld zu zeichnen, sage ich mir, müsste ich weiter zurückgehen, müsste ich bis in ihre Kindheit zurückgehen, die ich selbst nur aus ihren Erzählungen kenne – zurückgehen zu ihren Erzählungen, in denen sie sich selbst auf die Suche nach dem Anfang ihrer Krisen gemacht hatte. Oft hatte ich damals auf ihrem Bett gesessen und sie aus den Augenwinkeln beobachtet, wie sie selbstvergessen an der Kante ihres Stuhls hin und her gerutscht war – oder rittlings an ihrer flachen Hand entlang, die sie wie zum Fiebermessen zwischen ihre geschlossenen Schenkel geschoben hatte.

Noch heute kannst du dir diesen Anblick mühelos vor Augen rufen.

In diesen Gesprächen hatte sie mir etwa die Statuen der heiligen Frauen aus der Dorfkirche beschrieben, mit denen sie anfangs, in den ersten unruhigen Nächten ihrer Kindheit das Dunkel der Schlafstube bevölkert habe – die heiligen Frauen, mit denen sie schon damals, wie sie es ausgedrückt hatte, eine Hassliebe verbunden habe. Schon damals, hatte sie gesagt, habe ihre Ehrfurcht vor den heiligen Frauen den Beigeschmack der Verachtung gehabt, habe sie gespürt, dass diese heiligen Frauen nicht weniger stumm und machtlos waren wie die Mutter – dass sich letztendlich keine von ihnen, in der Gewissheit ihrer eigenen Heilig- und Jungfräulichkeit, für sie interessiert habe.

Denn Stöhnen ist auch eine Art Gebet, wirst du später an anderer Stelle schreiben.

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Gast







Beitrag13.03.2014 10:52

von Gast
Antworten mit Zitat

Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:
Weiter geht's. Wenn die Schritte und somit Beiträge grade kürzer werden, liegt das daran, dass ich [...] Acht geben muss, nicht vom Weg abzukommen bzw. nicht die Balance zu verlieren.


Hallo Klemens,

Bis jetzt kennst nur du den Weg, ich als Leser kann nur ahnen, wo es hingehen soll, kann Hinweise aufnehmen, sie weiter spinnen, Möglichkeiten verwerfen oder bestätigt finden. Das ist ja das, was für mich diese Spannung ausmacht. Indem der Ich-Erzähler immer wieder, in kurzen Abständen, zu seinem Erzählen in Distanz geht, sich von Frage zu Feststellung hangelt, sich auch immer wieder zurück zieht, beobachtet man dieses Herantasten an die Geschichte, die eigentliche, den Kern - und spürt doch, dass da etwas ist, was man als Leser gar nicht zu fassen bekommt (wie der kleine Kern einer Tomate, der immer wieder abhaut, weil er von dieser glitschigen Gallertschicht umgeben ist).
Es scheint ja nicht, als wolle der Erzähler etwas aussparen (vor sich selbst), zumal gar nicht klar ist was "er später schreiben" wird. Er reagiert mit dieser Langsamkeit auf die Vielzahl der zu verarbeitenden Informationen: Erinnerungen (eigene, die anderer), Gerüchte, Berichte. Er, der Erzähler, hat mehr Information, mehr Puzzleteile zusammengetragen, als alle anderen, die mit der Geschichte zu tun haben, das Schwierige für ihn scheint zu sein, sich für den Grad der Distanz zu entscheiden, den Abstand, den er beim Erzählen wahren will.

Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:
Hattest du nicht versucht, in diesem Gespräch den Gestus des neutralen Beobachters zu wahren?


Diese Frage/Feststellung liess mich stutzen. Das liest sich fast, als könne der Erzähler schon ein Gespräch, das er zum Thema "der Geschichte" führt, nur noch aus dem Blickwinkel dessen erleben, der danach darüber schreiben wird. Ein "Reporter", ein Berichterstatter, der von sich Neutralität erwartet, sie aber unmöglich besitzen kann.
Er schreibt über das Gespräch wie ein Wissenschaftler, der im Nachhinein zB ein Tondokument auswertet.

Es könnte sein, dass durch die Terminologie, die (zumindest auch) der Literaturwissenschaft entlehnt ist (Gestus, neutraler Beobachter), die Distanz zum Leser in einer Weise aufbaut, die du gar nicht wünschst (als Autor).
Falls allerdings diese Ausdrucksweise zur Geschichte gehört, weil wir vielleicht später noch erfahren, dass der Erzähler wirklich ein Geschichtenerzähler (Schriftsteller oder Journalist) ist, dann könnte es wieder passen.

Wollte dir das erstmal zu denken geben.

Ich unterbreche hier, möchte noch mehr zu diesem Abschnitt sagen, aber auch anderen Gelegenheit geben, zu kommentieren.

Ganz ehrlich: Ich bin ein wenig enttäuscht, würde mir mehr Resonanz oder auch Kritik oder sonst was hier wünschen, du bist viel unterwegs,  bei der Prosa der anderen User, bringst dich ein, immer auf eine Weise, die demjenigen viel bringen kann, wenn er dich denn liest - ich frage mich, ob das irgendwann hier in deinem Faden Wirkung zeitigt.
Man kann hier ein super-interessantes Experiment verfolgen, seinen Senf dazugeben, auf was warten die Leut noch??? Confused


Bis später, ich bleibe dran, hab übrigens Teile vorgelesen, es funktioniert sehr gut, gerade beim Vorlesen!!
Lorraine
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Klemens_Fitte
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Beitrag13.03.2014 19:58

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Lorraine hat Folgendes geschrieben:
Diese Frage/Feststellung liess mich stutzen. Das liest sich fast, als könne der Erzähler schon ein Gespräch, das er zum Thema "der Geschichte" führt, nur noch aus dem Blickwinkel dessen erleben, der danach darüber schreiben wird. [...]
Falls allerdings diese Ausdrucksweise zur Geschichte gehört, weil wir vielleicht später noch erfahren, dass der Erzähler wirklich ein Geschichtenerzähler (Schriftsteller oder Journalist) ist, dann könnte es wieder passen.

Sehr interessant, dass du das herausgreifst, das war nämlich die Stelle, die mir beim Formulieren am meisten Mühe gemacht hat; wenn die jetzige Wortwahl aber diese Assoziationen bei dir auslöst, dann - ohne zu sehr vorgreifen zu wollen - habe ich anscheinend intuitiv die richtige Wahl getroffen.

Zitat:
Ich unterbreche hier, möchte noch mehr zu diesem Abschnitt sagen, aber auch anderen Gelegenheit geben, zu kommentieren.

So sehr ich unseren Dialog zu schätzen weiß, würde ich mich natürlich auch über andere Kommentare freuen.

Ich denke, viele der ursprünglichen Leser sind mittlerweile abgesprungen oder gar nicht mehr im Forum unterwegs, und für neue Leser ist der Einstieg am diesem Punkt natürlich schwierig. Vielleicht ist das Medium Internet auch nicht gerade 'gnädig', was diese Art von Text und -arbeit angeht.

Zitat:
Bis später, ich bleibe dran, hab übrigens Teile vorgelesen, es funktioniert sehr gut, gerade beim Vorlesen!!

Schön zu hören. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit dazu - aber der Text wurde schon mit einem starken Fokus auf die 'Sprechkomponente' verfasst.
Anfang nächster Woche folgt der Rest von Kapitel Drei.

Bis bald,
Klemens
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EWJoe
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Beitrag15.03.2014 20:34

von EWJoe
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Servus Klemens,

ich habe mir Deine Arbeit durchgelesen. Der erste Teil (Prolog) erschien mir zuerst sperrig. Ich las ihn nochmals und fand ihn interessant. Schließlich nahm ich ihn mir ein drittes Mal vor und ich war begeistert. Es gibt Texte die wirken nicht sofort. Dieser ist wohl aus dieser Kategorie. Die anderen Teile zogen wesentlich flüssiger durch mein Hirn. Es passiert zwar nicht wirklich etwas Aufregendes, das liegt eben auf einer anderen Ebene, liegt wohl auch im noch nicht Geschriebenen, das es zu ergründen gilt, aber dennoch, oder gerade deswegen, fesselt der Text.

Oftmals wurden die Wiederholungen der Wiederholungen der W... bemängelt, die vielen Floskeln, die für mich geistige Atempausen darstellen, wie ein Äh oder Ähnliches. Wenn man aber den Handlungsraum, das Bewusstsein (und auch Unterbewusstsein) des Erzählers, der Geschichte sieht, dann sind diese Konstrukte verständlich, sind Elemente des Rhythmus. Viele Abschnitte (besonders im Kap. 3) zeigen einen durchgängigen Rhythmus.

Natürlich muss man sich erst darauf einlassen einem Menschen beim Denken, Reflektieren, Erinnern usw. in Echtzeit „zuzuhören“, was nicht Jedermanns Sache ist. Interessant empfinde ich die introspektiven Betrachtungen, wo du geschickt in die zweite Person wechselst und so die Gedanken des Erzählers von ihm selbst konterkarieren lässt. Es ist dieses innere Ticken das den Reiz der Geschichte ausmacht, das darf ruhig die allgemein gültigen Regeln beim Schreiben brechen, finde ich, schließlich findet die „Handlung“ im abstrakten Raum des Bewusstsein statt. Das Denken darf und muss sogar im Präsens geschrieben werden, es existiert nur im Jetzt.
Ein wenig stören mich zeitliche Vorblenden, wie „ich werde (getan haben)“ an diesen Stellen. Aber das Bewusstsein selbst arbeitet oft spekulativ, womit auch solche Konstrukte Sinn machen. Aus diesem Blickwinkel ist auch Widersprüchliches und Spekulatives akzeptabel.

Der Erzähler versucht die Prota zu begreifen, obwohl er sie offenbar schon lange kennt, beschäftigt er sich erst jetzt mit ihr ausgiebig. Der Text gibt Einblicke in die Psyche beider Hauptakteure, was einen guten Teil der Spannung ausmacht. Die Vergangenheit der Prota, wie sie sich gegen die katholische Umgebung mit ihrem beklemmenden Moralisieren wehrt und schließlich in innerer Zerrissenheit gefangen ist, ist ein besonders spannender Aspekt in Deiner Geschichte. Viele psychologische Motive lassen uns in die Seele der Prota und des Erzählers blicken.

Einige Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:
"Ein verwitterter Bildstock fällt rücklings, wie ein Betrunkener, in den Acker, begräbt eine Reihe knickender Strohhalme unter sich...". Wenn Etwas begraben ist knickt es nicht mehr es ist vielleicht geknickt. Die Fortsetzung dieses Gedankens finde ich aber wieder ausgezeichnet.

Der in der Luft stehende Reifen lässt mich auch stocken. Es ist ein Standbild das Du hier haben wolltest. Der Sinn dessen entzieht sich mir, da es ein dynamischer Vorgang ist, der zwar im Augenblick des Schreckens stark verzögert empfunden wird, aber nicht statisch. Der Prolog findet nicht im Bewusstsein des Erzählers statt, nur das Bewusstsein kann auch einen dynamischen Vorgang stehen lassen, ja muss es oft sogar, sonst ist ein Erfassen nicht möglich. Gut das ist eben künstlerische Freiheit und daher auch ok.

Die Handlung in deinem Prolog spielt an einem Frühsommermorgen zur Dämmerung (im ländlichen Bayern).  Also noch kein Sonnenschein. Inwieweit die heruntergeklappte oder nicht heruntergeklappte Sonnenblende beim Auto Relevanz haben soll ist mir nicht klar. Vielleicht befindet sich das Papierfach dahinter? Würde mich wundern, aber ich kenne halt nicht viele Automarken.

Einige Sätze haben bei mir keine Assoziationen und damit Bilder ausgelöst, aber das ist ja bekanntlich nicht bei Jedem/r gleich, daher führe ich diese nicht an. Die Meisten Deiner Bilder sind wiederum wunderbar, sie lassen Deine Geschichte lebendig werden.


LG
EWJoe, der Krümel-Autor


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Soraja
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DSFx


Beitrag16.03.2014 12:33

von Soraja
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Hallo Klemens Fitte,

ich lese schon lange mit und habe bis jetzt nichts dazu geschrieben, weil ich das, was du schreibst anstrengend finde. Und eigentlich will ich auch nicht jede Seite mehrmals lesen müssen um zu verstehen oder zu behalten, was wichtig ist. Aber ich bin auch begeistert, wie du die Stimmung und das Morbide einfängst, wie du mir Bilder des Geschehens und der Personen in den Kopf schreibst.

Allerdings gibt es ein Bild, da lehnt sich die Gärtnerin in mir auf. Ein Tautropfen, der von einem Blatt in eine leere Regentonne fällt, macht keine Geräusche. Regentonnen sind normalerweise ein gutes Stück in der Erde versenkt und stehen unter der Regenrinne. Selbst wenn sie ganz leer sind, ist auf dem Boden ein kleiner Satz von Schlamm oder Erde oder Sand, und deshalb hört man da nix.

LG Soraja


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Klemens_Fitte
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Beitrag17.03.2014 10:13

von Klemens_Fitte
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Hallo EWJoe*, hallo Soraja,

entschuldigt bitte meine etwas verspätete Antwort - ich war die letzten Tage ohne Internet, und einen Beitrag mit dem Handy zu verfassen wollte ich mir und euch nicht zumuten.

@EWJoe

Schön, dass der Text bei dir "angekommen" ist, und danke, dass du ihm anfangs noch eine zweite und dritte Chance gegeben hast. Ich gebe zu, dass es nicht ganz einfach ist, sich auf diesen Erzählrhythmus, der - wie du richtig erkannt hast - ein Sprach- und Denkrhythmus ist, einzulassen; aber ich hoffe, dass hier auch eine gewisse Sogwirkung entstehen kann, die einen tiefer in die Sprache und das Denken der Figuren hineinzieht.

Deine Idee, die vorausgreifenden Elemente der Handlung mit in das gegenwärtige Bewusstsein des Erzählers zu legen und somit auch offen zu lassen, was davon sich tatsächlich ereignen wird und was wiederum spekulativ bleibt, finde ich ziemlich spannend - aus der Warte hatte ich es noch gar nicht betrachtet.

Zu deinen Anmerkungen:

Zitat:
"Ein verwitterter Bildstock fällt rücklings, wie ein Betrunkener, in den Acker, begräbt eine Reihe knickender Strohhalme unter sich...". Wenn Etwas begraben ist knickt es nicht mehr es ist vielleicht geknickt. Die Fortsetzung dieses Gedankens finde ich aber wieder ausgezeichnet.


Hm, ich hatte hier eigentlich eine Gleichzeitigkeit ausdrücken wollen: die Strohhalme knicken in dem Moment, in dem der Bildstock sie unter sich begräbt. Jetzt bin ich aber etwas unsicher, ob man das so machen kann...

Zitat:
Der in der Luft stehende Reifen lässt mich auch stocken.


Ja, du hast Recht, rein logisch betrachtet dürfte das Standbild eigentlich keins sein. Irgendwie hänge ich aber immer noch am "stehen", das letztlich eine rein sprachintuitive Entscheidung war - ich hatte diverse andere Varianten ausprobiert, die mir aber alle nicht gefallen haben. Vielleicht hast du ja noch einen Vorschlag?

Zitat:
Die Handlung in deinem Prolog spielt an einem Frühsommermorgen zur Dämmerung (im ländlichen Bayern Baden-Württemberg).  Also noch kein Sonnenschein. Inwieweit die heruntergeklappte oder nicht heruntergeklappte Sonnenblende beim Auto Relevanz haben soll ist mir nicht klar. Vielleicht befindet sich das Papierfach dahinter? Würde mich wundern, aber ich kenne halt nicht viele Automarken.


Ja, sie klappt die Sonnenblende herunter, um nach der Fotografie zu suchen (vielleicht). Zumindest kenne ich das so, dass sich da ein kleines Dokumentenfach befindet.

@Soraja

Zitat:
Aber ich bin auch begeistert, wie du die Stimmung und das Morbide einfängst, wie du mir Bilder des Geschehens und der Personen in den Kopf schreibst.


Das freut mich natürlich wahnsinnig. Ja, es kann wahrscheinlich in Arbeit oder Anstrengung ausarten, den Text zu reflektieren, zu sezieren oder zu sortieren; da du schon länger mitliest, hoffe ich aber, dass dir zumindest das Lesen Freude bereitet, auch wenn vielleicht nicht viel zu kommentieren bleibt?
Ich denke mal, ich werde mich nach "Vom Hörensagen" erstmal wieder an etwas Leichterem versuchen, einem Bildband mit kurzen Texten vielleicht, Notizbucheinträge - irgendwas, das mehr auf der bildsprachlichen Ebene funktioniert und weniger auf dieser experimentellen Handlungs- und Erzählebene.

Zu deiner Anmerkung mit der Regentonne:
Ich hatte das gestern extra nochmal getestet, also Wasser in eine (leere) Regentonne fallen lassen und ein Plink gehört - ich hatte da auch gewissermaßen eine Erinnerung dran, von früher (meine Großeltern hatten ein kleines Stück Land mit Garten und Schafstall, da standen auch diverse Regentonnen). Allerdings stand meine Regentonne im gestrigen Experiment auf Steinboden und hatte keinerlei "Bodensatz" - also wenig realistisch, wie du ja zurecht sagst. Wahrscheinlich werde ich das also doch ändern. Vielen Dank für den Hinweis.

Ich stecke grade noch in Kapitel Drei, aber für die nächste Komplettüberarbeitung habe ich mir eure Anmerkungen auf jeden Fall notiert.

Gruß,
Klemens

* Ich hatte schon des öfteren in den 4. Teil von "Krümel" reingeschaut, wollte aber erst kommentieren, wenn ich wieder mehr Zeit und stabiles Internet habe. Kommt aber definitiv noch.
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EWJoe
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Beitrag17.03.2014 14:13

von EWJoe
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Servus Klemens,

ein Vorschlag vielleicht zu den stehenden Reifen:
Ihre Geschichte beginnt am Ende, mit dem letzten Satz Sommerreifen, der den Kontakt zum Asphalt verliert, für einen, zur Unendlichkeit zerfließenden, Moment frei über der Böschung stehend.

Ob's wirklich dem nahekommt was Du Dir vorstellst? Natürlich nachteilig ist die Adjektivisierung des Satzes. So zumindest löst der Satz den Widerspruch zur Dynamik auf, das Standbild entsteht und wirkt nicht widernatürlich.

Zitat:
Die Handlung in deinem Prolog spielt an einem Frühsommermorgen zur Dämmerung (im ländlichen nicht {Bayern} Baden-Württemberg).

"Des is net meins" hat mich nach Bayern blicken lassen. Der Ort der Handlung muss daher bayernnahe sein, wo das Bayrische rübertönt? Aber das ist für die Handlung eigentlich auch nicht relevant.


LG
EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag18.03.2014 13:30

von Klemens_Fitte
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Hallo nochmal,

danke für deinen Vorschlag.

EWJoe hat Folgendes geschrieben:
Ihre Geschichte beginnt am Ende, mit dem letzten Satz Sommerreifen, der den Kontakt zum Asphalt verliert, für einen, zur Unendlichkeit zerfließenden, Moment frei über der Böschung stehend.


Stimmt, der Widerspruch Dynamik/Standbild wird hier "aufgelöst", indem er in das Bewusstsein der Protagonistin verlegt wird. Da möchte ich aber eigentlich nicht hin, wenn du verstehst, was ich meine. Die Wendung von den stehenden Reifen ist ja etwas, auf das der Erzähler (der eben nicht nur erzählt, sondern tatsächlich Erzähler ist) zurückgreift, um das eigene Erleben (oder eben Nicht-Erleben) durch ein Motiv zu ersetzen. Und ja, der Satz würde in deiner Variante seine Einfachheit verlieren - ich lasse mir deine Anregung aber definitiv nochmal durch den Kopf gehen, wenn ich mich an die nächste Überarbeitungsrunde mache.

Zum Dialekt: Naja, da müsste strenggenommen ein "Des isch net meins" stehen, aber ich bin grundsätzlich kein Freund der Verschriftlichung von Dialekten, deshalb habe ich mich da etwas zurückgehalten. Und ob jetzt Bayern oder Ba-Wü - ist ja auch egal. Ich komme übrigens aus einer Gegend, wo man die Leute zweier Nachbardörfer daran unterscheiden kann, ob sie mit 'n Obed oder 'n Owed grüßen (Guten Abend für die Uneingeweihten - der Gruß, den man nach zwölf Uhr mittags verwendet).

Ach ja, bevor ich gleich den nächsten Teil poste, eine Korrektur. Diese Stelle
Zitat:
Es wäre ihr damals ein Leichtes gewesen, auch alle mit ins Verderben zu reißen.

müsste lauten
Zitat:
Es wäre ihr damals ein Leichtes gewesen, euch alle mit ins Verderben zu reißen.


Der zweite Tippfehler in diesem kurzen Beitrag (auf einen hatte mich Lorraine hingewiesen) - ich gelohbe Bässerung.
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Klemens_Fitte
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Beitrag18.03.2014 14:38

von Klemens_Fitte
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Et voilà, der Rest von Kapitel Drei, der mich einige Nerven gekostet hat. Ich musste hier irgendwie die Kurve kriegen (oder: die Biegung nehmen), um den folgenden Epilog sowie Kapitel Vier vorzubereiten. Vielleicht bräuchte es dafür noch zwei, drei Absätze mehr, aber momentan ist das alles, was ich hinbekomme.

__

Die Hassliebe zu den heiligen Frauen hätte sie gerne, wie sie mir damals gestanden hatte, in den Spielen mit den Nachbarsjungen ausgelebt – hätte in diesen Spielen zu gerne die heilige Barbara gegeben, die von ihrem Vater wahlweise in deinen Turm eingeschlossen oder an die Heiden ausgeliefert worden war. Damals habe sie unablässig versucht, ihre eigene Fremdheit, ihr Unglück, wie sie es ausgedrückt hatte, durch die fixe Idee einer Vorbestimmung, eines Martyriums zu adeln oder zumindest erträglich zu machen. Die Vorstellung, für ein schreckliches und somit erhabenes Schicksal auserwählt zu sein, sei in dieser Zeit zu einer fixen Idee geworden. In Wirklichkeit, hatte sie mir erzählt, habe sie sich dann damit begnügen müssen, sich von diesen kleinen Cowboys und Indianern mit ungelenken Kinderfingern an den Marterpfahl binden zu lassen, sich die Augen verbinden zu lassen und gelangweilt auf ihre unvermeidliche Befreiung zu warten, die keine göttliche, sondern eine stets eine sehr irdische gewesen sei – und habe doch heimlich, hinter geschlossenen Lidern, wieder und wieder vom Märtyrertod geträumt.

Du hattest an die Missionare denken müssen, die man in der Neuen Welt an Marterpfähle gebunden hatte.

Zu dieser Zeit war im Nachbarort der Gedenkstein für eine junge Ordensschwester eingeweiht worden, unter Anteilnahme der Bevölkerung, wie ich später gelesen habe – sie war nach Papua-Neuguinea auf Mission gegangen und hatte dort während eines Aufstands der Einheimischen den Märtyrertod gefunden. Ein berüchtigter Menschenfresser, Hexenmeister und Giftmischer, habe ich später gelesen, habe die Einheimischen gegen die Missionare aufgehetzt; eine Figur, die vielleicht, denke ich mir heute, damals den Weg in ihre kindliche Fantasie gefunden hatte – der halbnackte Wilde, der ein dunkles Geheimnis zwischen den Beinen trägt. Keiner ihrer Bauernjungen, so hatte sie es damals ausgedrückt, habe sich für die Rolle des dunkelhäutigen Wilden geeignet, der ihr aus Spiel in den Kreis der heiligen Frauen hätte verhelfen können – den Kreis, von dem sie Nacht für Nacht ihre Schlafstube habe bewachen lassen, zum Schutz vor etwas, auf das sie nicht zu hoffen gewagt habe.

Die Gedenkschrift an die Ordensschwester hattest du später in ihrem Gotteslob gefunden.

Endlose Stoßgebete habe sie damals an die Dunkelheit unter den Laken gerichtet, bis sie mürbe geworden sei. Regelmäßig habe sie aus Spiel am Marterpfahl gestanden und sich vorgestellt, ein Kind im Bauch zu tragen, von dem sie nicht habe sagen können, wie sie dazu gekommen sei. Es sei, hatte sie damals gesagt, ja nicht daran zu denken gewesen, die Mutter nach dem Geheimnis der kleinen Kinder zu fragen – und so habe sie sich irgendwann mit der Vorstellung begnügt, einer der Wilden habe ihr dieses Kind gemacht, in einem geheimen, nur den Hexenmeistern bekannten Ritual.

Vielleicht wirst du deshalb die Geschichte mit den afrikanischen Hexen bemühen.

Immer wieder habe sie in Büchern geblättert, in denen diese Wilden abgebildet waren, hatte sich immer mehr in deren Fremdartigkeit verliebt, in die groben und kräftigen Männerhände, die sie sich gerne für ihre Bauernjungen gewünscht hätte. Stattdessen seien die einzigen Männerhände, die sie damals gekannt habe, die des Vaters gewesen – und schließlich sei es ja der Vater gewesen, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt habe, diese fixe Idee, etwas Besonderes zu sein. Ihm verdanke sie ihr Verlangen danach, auserwählt zu sein, hatte sie mir damals wieder und wieder gesagt und mir dann den Sterbezettel des Vaters unter die Nase gehalten, als seien damit all meine ungestellten Fragen beantwortet. Und statt ihr diese Fragen jetzt endlich zu stellen, statt sie auf die Videoaufnahme oder die Geschichte mit ihrem Vater anzusprechen, belasse ich es bei meinem Schweigen und warte ab, ob sie selbst noch darauf zu sprechen kommt, bevor das Automobil an der Biegung der Dorfstraße auftaucht.

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Fao
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Beitrag20.03.2014 00:35

von Fao
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Hallo Klemens,

Das ist sprachlich vom feinsten, was ich bereits nach wenigen Sätzen des Lesens sagen kann! Als Anstrengend empfinde ich es nicht, aber wie jede Kunst fordert es Aufmerksamkeit ein; man erhält ja genügend zurück, wenn man sie investiert.
Ich sag mal: Ich habe es  noch nicht ganz gelesen. Was nicht an dem Text an sich liegt, eher daran, dass ich schon seit Wochen nicht mal "Stiller" fertig bekomme, ein Jahr für den Zauberberg gebraucht habe und meine Augen über PC-Geschriebenes nicht gerade in Jubel ausbrechen. Ich Lese-Schlumpf, ich, aber - ich erhielt einen Teil vorgelesen, las selbst nach, liebe den ersten Satz - las dich hoffentlich nicht entmutigen, falls hier wenig Rückmeldung kommt.
Ich hoffe, mich nochmal melden zu können, vielleicht nicht zu sehr im Detail - möglicherweise ist man als "Künstler" immer ein klein wenig egozentrisch, damit man zwischen Leben und seinen Nervigkeiten halt auch selbst zu seinem Zeug kommt.

Beste Grüße,
Fao
(die sich grämt, dich in Berlin verpassen zu müssen)


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Begrüßt gerechte Kritik. Ihr erkennt sie leicht. Sie bestätigt euch in einem Zweifel, der an euch nagt. Von Kritik, die euer Gewissen nicht anerkennt, lasst euch nicht rühren.
Auguste Rodin - Die Kunst.
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Beitrag20.03.2014 09:43

von Klemens_Fitte
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Moin Fao,

schön, dass du hier mal vorbeischaust und vielen lieben Dank für die Blumen, die du mitgebracht hast. Soso, dir wurde ein Teil vorgelesen - da habe ich doch schon einen leichten Verdacht; scheint spannend zu sein, was hier 'hinter den Kulissen' passiert.

Oh, und deine Abneigung gegen das Monitor-Lesen kann ich sehr gut nachvollziehen. Wenn du irgendwann mal Zeit und Lust hast, meld dich einfach, ich schicke dir gerne ein PDF des kompletten Textes. (Der Zauberberg hängt übrigens wie ein dräuender Himmel über mir - es vergeht kein Jahr, in dem ich nicht mindestens einen Versuch starte, dieses Buch zu lesen. Mehr als zehn Seiten habe ich noch nie geschafft.)

Gruß,
Klemens

P.S.: Schade, dass du es nicht nach Berlin schaffst. Gibt aber bestimmt in Zukunft noch Gelegenheit, das nachzuholen.
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EWJoe
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Beitrag20.03.2014 14:59

von EWJoe
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Servus Klemens,

sprachlich ist es wirklich wieder gelungen. Ein bisschen habe ich den Eindruck, dass der Sprachrhythmus leicht geändert ist, da die Sequenzen des Nachdenkens etwas länger geraten sind, bis die Selbstreflexionen dazwischen kommen.

Interessant finde ich folgende Passage:
"Stattdessen seien die einzigen Männerhände, die sie damals gekannt habe, die des Vaters gewesen." Ein Hinweis auf Kindesmissbrauch durch den Vater? Würde sehr gut in das Bild passen, wo ein Kind mit einem derartigen Vertrauensbruch und der christlichen Moral nicht zurande kommen kann. Erklärt auch das Märtyrertum in das sie sich hinein steigerte. Opfer dieses Verbrechens zeigen oft ein derartiges schuldbewusstes und selbstverachtendes Verhalten mit dem Wunsch rein zu sein (heilige Frauen).
 
Vielleicht war es aber ganz anders gemeint. Jedenfalls ist es ein großartiger Text.

LG EWJoe


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Klemens_Fitte
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Beitrag20.03.2014 16:17

von Klemens_Fitte
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EWJoe hat Folgendes geschrieben:
Servus Klemens,

sprachlich ist es wirklich wieder gelungen. Ein bisschen habe ich den Eindruck, dass der Sprachrhythmus leicht geändert ist, da die Sequenzen des Nachdenkens etwas länger geraten sind, bis die Selbstreflexionen dazwischen kommen.


Hm, jetzt wo du es sagst, fällt mir auch auf, dass es hier wesentlich weniger Unterbrechungen gibt als bspw. in Teil 6. Ich denke, dass das daran liegen könnte, dass der Erzähler hier (ähnlich wie zu Beginn von Kapitel Eins) eher als Zuhörer, als Unbeteiligter auftritt, anders als eben in Teil 6 - wo ja durch sein eigenes Miterleben eher Anlässe zur Selbstreflexion gegeben sind; ist aber nur meine Vermutung.

Zitat:
Interessant finde ich folgende Passage:
"Stattdessen seien die einzigen Männerhände, die sie damals gekannt habe, die des Vaters gewesen." Ein Hinweis auf Kindesmissbrauch durch den Vater? Würde sehr gut in das Bild passen, wo ein Kind mit einem derartigen Vertrauensbruch und der christlichen Moral nicht zurande kommen kann. Erklärt auch das Märtyrertum in das sie sich hinein steigerte. Opfer dieses Verbrechens zeigen oft ein derartiges schuldbewusstes und selbstverachtendes Verhalten mit dem Wunsch rein zu sein (heilige Frauen).
 
Vielleicht war es aber ganz anders gemeint.


Ich hoffe, es ist okay, wenn ich deine Anmerkung erstmal unkommentiert lasse - weil mich auch interessieren würde, wie Andere das sehen.
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Soraja
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Beitrag20.03.2014 18:36

von Soraja
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Hallo Klemens Fitte,

ich bin gespannt, wie es denn nun Enden wird mit all dem Angedeuteten. Ich glaube, zu dem Missbrauch würde der Wunsch von ihr nach groben Männerhänden nicht passen. Der letzte Absatz nimmt mich emotional mit, weil sich das elende Schweigen einfach fortsetzt.

Ich bin zur Zeit im Urlaub, und leider wirft mich das WLan hier immer wieder raus, deshalb nur so kurz.

LG Soraja


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Klemens_Fitte
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Beitrag20.03.2014 19:40

von Klemens_Fitte
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Hallo Soraja,

Soraja hat Folgendes geschrieben:
ich bin gespannt, wie es denn nun Enden wird mit all dem Angedeuteten.


Deshalb halte ich mich erstmal mit Äußerungen zurück. Aber ich freue mich natürlich, wenn hier erste Mutmaßungen angestellt werden, dann bekomme ich schon mal ein Bild davon, wie die Erwartungen der Leser so sind.

Zitat:
Der letzte Absatz nimmt mich emotional mit, weil sich das elende Schweigen einfach fortsetzt.


Dann scheint er ja seine erhoffte Wirkung nicht zu verfehlen.

Ich wünsche dir einen schönen und erholsamen Urlaub, trotz (oder gerade mit) wackligem WLan.

Gruß,
Klemens
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Nordlicht
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Beitrag21.03.2014 04:15

von Nordlicht
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Hi Klemens,

ich habe nur den achten Teil gelesen und bin wirklich begeistert von deiner Schreibe! Gefällt mir supergut; ich habe gerade zu viel Dinge auf einmal am Laufen, um alles zu lesen und was Konstruktives dazu zu sagen, aber werde das Anfang April nachholen smile Vielleicht gibt's bis dann noch mehr?


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