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Abgründiges


 
 
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Tom Erde
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
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Alter: 52
Beiträge: 47
Wohnort: Hamburg


T
Beitrag20.02.2014 21:31
Abgründiges
von Tom Erde
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Hallo und guten Abend ihr lieben Schreib- und Leseratten,

hier also (Hüstel, hüstel, räusper, peinlich) mein neues Stück Schreibarbeit. Von der holden Dame Inspiration genötigt, und innerhalb einer Woche, neben der Arbeit an meiner Commandi-Geschichte, entstanden.

Es ist eine Kurzgeschichte, die eine wegweisende Szene im Leben einer älteren Frau beleuchtet. Wenn ich sie klassifizieren müsste, würde ich sie unter der Sparte - Stille Hoffnungsmacher - einreihen. Die Liebe spielt eine Rolle, aber Weisheit und Humor sind ebenso vertreten, wie Tragödie und Sozialkritik. Das Thema ist nicht neu, die Umsetzung allerdings.

Mit einer Länge von circa 1.800 Worten schöpft sie den zulässigen Rahmen beinahe aus, ist aber leicht und flüssig zu lesen. Und ich glaube, dass jene, die erst einmal angefangen haben, gerne zu Ende lesen werden.


Abgründiges


Unter ihr kräuselten sich Wellen, tief, trostlos und kalt. In ihr jagten sich Gedanken, tumultartig, bitter und hart. Das Geländer war hoch, doch kein Hindernis für sie, ihre Beine waren noch immer gelenkig. Ein entschlossener Schwung und sie war drüber. Nun drückte es in ihren Rücken, bildete eine Grenze, und – zurück – war nur ein Wort.
Sie fragte sich nicht, wie es soweit kommen konnte, die Antwort wusste sie im Schlaf.
Autos rauschten an ihr vorbei, ohne Anteil oder Gespür. Ihre Fahrer hatten Wichtigeres zu tun, ihr Sinn war auf Ankunft geprägt. Heutzutage hatte jeder ein Ziel, musste schnell mal irgendwo hin. Etwas Dringendes zu erledigen, gab es immer.
Was sollten sie auch sagen? „Das Leben ist so schön! Mit Springen löst man keine Probleme! Lass uns reden, ich bin Therapeut!“
„Erbärmlich“, hätte sie geantwortet. „Mit Reden löst man keine Probleme. Das Leben ist der Therapeut und Springen ist so schön!“
Und gerade in diesem Moment, wo ihre Welt Stück für Stück zerbröselte, musste sie an Ben denken, wieder mal an Ben.
Hätte ich ihn doch nie getroffen, wünschte sie sich. Dieser Mistkerl ist meine Nabe, meine Achse, um die ich mich drehe wie das gottverdammte Glücksrad! Nur war meines voller Nieten. Pechrad, Sorgenrad, Scheißrad.
Mit seinem Lächeln hatte er sie in Bann gezogen, seine Stimme hatte ihr Hände und Füße gefesselt, und seine Augen hatten das Schloss zuschnappen lassen. Sogar jetzt noch hielt er den Schlüssel in der Hand.
Ob es in der Hölle wohl einen guten Schmied gibt? Überlegte sie. Einen, der sich mit solcherart Ketten auskennt? Böiger Wind blies ihr zur Antwort Regentropfen ins Gesicht. Sie vermischten sich mit Lidschatten und Make Up, und mit ihren Tränen, bildeten ein trauriges Elixier.
„Warum soll ich weiterleben?“ schrie sie dem Wind entgegen, wütend, enttäuscht, verzagt. „Sag mir einen Grund, einen einzigen verfluchten Grund!“ Ihre Stimme, sonst rauchig und verträumt, brach. Ihre letzte Kraft lag in diesem Aufbäumen. Umsonst. Vertan. Wie immer. Wer hätte ihr auch antworten sollen? Engel mögen keine Selbstmordkanditaten, sie schaden der Statistik, und der Teufel würde ihr bestenfalls noch einen Schubs geben, damit das Zaudern ein Ende, und er einen neuen Untermieter hatte. „Warum?“ flüsterte sie, und dachte dabei wieder an Ben.
Er trug die Schuld, er ganz allein. Er hatte sie rackern lassen, bis sie verbraucht war, bis sie den Freiern zu hässlich wurde. Dann hatte er sie zum Cocktails schütteln hinter die Theke verbannt. Dafür war sie ihm gut genug gewesen, jedenfalls eine Zeit lang. Doch irgendwann konnte er ihren wehmütig sehnsüchtigen Blick nicht länger ertragen und machte ihr ein freundschaftliches Angebot: „In die Putzkolonne, oder raus.“
Sicher, sie wusste, wie man sich erniedrigte, wie man vor Männern kroch, die glaubten, die Gefühle einer Frau mit ein paar Scheinen kaufen zu können, aber das… Beinahe hätte sie ja zur Putzkolonne gesagt, sie musste schließlich vor irgendetwas leben, oder? Beinahe! Wenn da nicht diese Blicke gewesen wären. Seiner, der geradezu flehte: „Bitte, lieber Jesus, lass sie bitte nicht ja sagen. Ich spende dir nächsten Sonntag auch eine Kerze, die sich gewaschen hat, nur bitte…“ Und die ihrer Konkurrentinnen: „Weg mit der alten Schabracke“, stand wie mit Neonfarbe auf ihren schwarzlichtgelifteten Gesichtern geschrieben. „Die ist schlecht fürs Geschäft. Von ihren Tränensäcken und dem Schweinehals kriegen selbst die Kloschüsseln das Grausen. Und wenn sie nicht von allein geht, werden wir ihr das Leben so sauer machen, dass sie glaubt…“ Naja, den Rest kann sich der geneigte Leser denken.
Als Ben ihr: „Nein, danke.“ Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung entgegennahm, zerbrach etwas in ihr. Wahrscheinlich bloß eine langgehegte Traumblase, schon so alt, dass sie zu Glas geworden war. Dem Empfinden nach, eher eine ganze Welt. Ein Universum schaler Hoffnungen, aus kindischen Wünschen gemacht, und durch den Hammer Realität zum Einsturz gebracht.
Nun gab es nur noch die Fluten unter ihr und den Himmel über ihr. Beide gnadenlos in ihrer Art. Wohin sollte sie sich wenden? Die Fluten versprachen kühles Vergessen. Das war immerhin etwas, worauf man bauen konnte. Und der Himmel? Er hatte ihr lebenslang ein Bild vor die Nase gehalten, das unerreichbar blieb. Es war ein hübsches Bild, zugegeben, doch ein Bild konnte in einsamen Nächten nicht wärmen, konnte einen nicht in den Arm nehmen, einen streicheln und sagen: „Ohne dich, will ich nicht sein.“
Allmählich musste sie zu einer Entscheidung kommen. Ihre Beine zitterten bereits bedenklich, und ihre Finger, die ängstlich die Metallstangen des Geländers umschlossen, verloren ob der Nässe zusehends den Halt. Loslassen oder Festhalten? Springen oder Auferstehen?
Eben war sie wild entschlossen gewesen, ihrem Elend den Gnadenstoß zu geben, aber der stürmische Wind, der ihr unentwegt ins Gesicht peitschte, und die banale Gleichgültigkeit der  Autofahrer, hatten ihr Gemüt gekühlt.
Plötzlich drang sattes Tuckern an ihre Ohren, gemischt mit Lachen, und dem altbekannten Stück von Simon and Garfunkel – Bridge over troubled water. Hohn, oder ein Zeichen? Sie konnte es nicht sagen. Als sie an sich hinabschaute, schipperte ein Vergnügungsdampfer geradewegs unter ihr durch. Hell erleuchtet und hinter Plexiglas: Tanzende Menschen, die sich zwischen Girlanden und Lampions umarmten, die tranken, mitsangen, und das Leben in sorglosen Zügen genossen.
Wird es für mich je wieder so sein? Fragte sie sich.
Und obwohl sie keine Antwort erwartet hatte, kam sie dennoch, leise und zart, wie ein Küken, das seinen Schnabel zum ersten Mal aus dem Ei streckte. „Warum nicht, Marlen.“ sagte sie, und sprach mit der Stimme ihrer ersten, besten Freundin. Das verblüffte sie umso mehr, da Lena seit Jahrzehnten Tod und begraben war, gestorben an einer Dosis mit Strychnin versetztem Heroin. „Das Leben ist ein Kreis“, sagte sie weiter. „Und das Alter nur eine Stufe. Denke an mich, und erinnere dich daran, was passierte, als du mich auf einer anderen Brücke gefunden hast. Erinnere dich, erinnere dich gut. Und wenn du dann immer noch springen willst, Marlen, werde ich still bleiben, mäuschenstill, so, wie ich es gerne war.“
Jetzt zitterte Marlen nicht mehr vor Qual, sondern vor Schrecken. Lena hatte ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, hatte ihr einen Denkzettel aus dem Grab geschickt.
Erinnere dich, dachte sie. Aber woran?
Es war so lange her, so vieles war seitdem geschehen. Mit dem Entschwinden des Dampfers, dem Verklingen des Lieds, kam sie jedoch, die Erinnerung, stand unversehens vor ihr, wie ein staubiges Gemälde in hellem Sonnenlicht.
An diesem Tag, ihre erste Begegnung mit Ben lag in ferner Zukunft, wollte sie Lena besuchen, wollte sehen, wie es ihr ging. Wachsende Sorge hatte sie dazu gedrängt. Seit sich Lena voll und ganz der Droge hingegeben hatte, trafen sie sich immer seltener. Ab und zu telefonierten sie, oder begegneten sich am Bahnhof  – dort streunte Lena oft herum, weil sie dort fand, was ihr Herz damals am meisten begehrte, bitteres, braunes Pulver, das bunte Träume und warmes Vergessen versprach – aber in ihrer Wohnung war sie seit Monaten nicht gewesen.
Vorsichtshalber klopfte sie an, doch hinter der Tür blieb es still. Also schloss sie mit dem Schlüssel auf, den ihr Lena gab, als sie sich noch tagtäglich gesehen hatten. Zur Begrüßung wehte ihr ein beängstigender Geruch entgegen, süßlich, eindringlich und ekelerregend. Ihr Herz tat einen Stolperer. Sie kannte diesen Geruch, hatte ihn zweimal gerochen, als sie neben Freiern aufwachte, die sich im Laufe der Nacht friedlich aus dem Staub gemacht hatten, um Petrus Hallo zu sagen. Prompt rannte sie los, schrie Lenas Namen, und kümmerte sich nicht um die Berge ungeöffneter Post, oder den Müll, der sich überall türmte.
Die kleine Küche war leer, nur über der Spüle schwirrte ein Schwarm Essigfliegen, lautlos, planlos scheinbar. Im Wohnzimmer empfing sie dieselbe Öde. Der Tisch übersät mit Tabakresten, Weinflaschen und geschwärzten Löffeln. Erst im Schlafzimmer traf sie auf die Ursache des Gestanks. Gott sei Dank! Es war nicht Lena. Trotzdem musste sie bei dem Anblick wühlenden Brechreiz unterdrücken. Mitten auf dem Bett, hübsch aufgebahrt auf einer Blumendecke, lag Jonny, Lenas schwarzweiß gescheckter Kater. Rundherum hatte sie getrocknete Rosenblätter verstreut, und auf dem Nachtisch, neben einem Foto von Jonny mit blauem Halsband, brannte eine Kerze. Knochendürr war der Kater, das Fell stumpf und verklebt, und seine Zunge hing aus dem offenen Maul wie eine Anklage.
Sie hat ihn verhungern lassen, schoss es ihr damals durch den Kopf, sie hat ihn einfach verhungern lassen. Wut mischte sich unter ihren Ekel.
Schnaubend eilte sie zum Bad, wo sie Lena fand. Sie saß bebend und nackt in der halbvollen Badewanne. In der rechten Hand hielt sie ein Küchenmesser, deren Schneide auf ihrem linken Handgelenk ruhte. Als sie aufschaute, verspürte Marlen ein ähnliches Grausen wie vorhin bei Jonny.
Sie ist ebenfalls tot, dachte sie ungewollt, schon lange. Und ich glaube, sie weiß es!
„Was machst du denn da!“ schrie sie Lena an. „Was glaubst du damit zu erreichen?“ Lenas Haltlosigkeit schürte ihre Wut, packte ein frisches Scheit obenauf. „Willst dich aus dem Staub machen, was! Klammheimlich abtreten, und uns anderen die ganze Scheiße überlassen. Willst du das? Willst du das?“
Dem folgte ein Blick, der ihre Wut ertränkte, rasch und rückhaltlos. Lenas Kajal war zu clownesken Tränen verlaufen, Trauerweiden um die schwarzen Teiche ihrer Augen. Wenn Verzweiflung je ein Gesicht getragen hatte, war es ihres.
Marlen setzte sich auf den Badewannenrand und entwand ihr behutsam das Messer. Sie ließ es bereitwillig geschehen. „Du Dummerchen“, sagte sie. „Warum tust du so etwas?“ Ihre Stimme schwankte dabei, hörte sich alt und fadenscheinig an.
„Er… ist tot“, stammelte Lena. „Hat heut Morgen einfach tot in seiner Ecke gelegen.“ Wieder dieser Blick von ihr, der selbst ein Messer war. „Er war mein Freund, mein Freund, verstehst du, und ich hab ihn einfach vergessen, hab sein Maunzen und Betteln missachtet, hab mich dicht gemacht, immer wieder dicht gemacht und ihn dabei einfach vergessen.“ Sie jammerte, schluchzte, und dann: „Jetzt hab ich niemanden mehr.“
Marlen fuhr ihr zärtlich durchs Haar. „Oh du Dummerchen.“ wiederholte sie. „Wenn sich jede gleich umbrächte, weil ihre Katze stirbt, wär die Welt bald leer, hm. Was geht bloß in deinem Kopf vor?“ Jäh umfingen sie Lenas Arme, nass, zerstochen und schutzsuchend. Später fand sie die Abdrücke ihrer dunklen Tränen auf der Bluse, die sie damals trug. Am Tag von Lenas Beisetzung waren sie zu blassen Schatten geworden, gingen aber nie mehr ganz heraus.
Und in diesem Moment, als sich Lena nackt und weinend an sie presste, geschah etwas Seltsames mit ihr. Erst empfand Marlen Abscheu vor den erbärmlichen Gefilden, die ihre beste Freundin gerade durchstreifte, und bereute ihn sofort. Dann kam ein Gedanke so hell und klar, dass er sie fast blendete: „Das niemals!“ forderte er, rigoros und herrisch. „Niemals wirst du es soweit kommen lassen! Keine Droge, kein Mann, kein Irrsinn und keine Verzweiflung werden dich jemals dazu bringen, dein Leben fortzuwerfen, niemals!“
Ein Gefühl der Zuversicht breitete sich damals wie zur Bestätigung in ihr aus. Es begann mit einem tröstlichen Glühen tief unten am Rückenansatz, dass sich Nerv für Nerv emporarbeitete und auf diesem Weg zu einem Buschbrand wurde, der auf Arme und Beine übersprang, und in ihrer Brust ein Feuer der Hoffnung entzündete, trotz allem.
Vergessen ist das Problem, dachte sie plötzlich, Springen der Therapeut, und Erinnerung so schön.
Sie stand wieder auf der Brücke und – zurück – war nicht nur mehr ein Wort, sondern eine Möglichkeit…[/b]

Denjenigen, die sich an der Redewendung - und zurück war nur ein Wort - gerieben haben, möchte ich sagen: "Nur keine Angst vor ausgelutschten Phrasen, wenn sie den Nagel auf den Kopf treffen!"  Schließlich schreiben wir nicht allein für kritische und umfassend informierte Literaten, sonder für Leser. Überdies war die Floskel notwendig, um der Geschichte einen sinnigen Abschluss zu verleihen.

Über den Schluss habe ich lange nachgedacht und mehrer unterschiedliche Varianten in Betracht gezogen:

- Im letzen Moment abrutschen, obwohl sie es sich anders überlegt hatte.
- Von der Brücke steigen und Bens Etablissement in die Luft jagen.
- Von der Brücke steigen und Ben umbringen.
- Springen und im letzten Moment vorm Ertrinken gerettet werden.
- Springen und jämmerlich ertrinken.
- Von einem Fremden angesprochen werden, der sie überzeugt nicht zu springen.
- Springen und auf einem vorbeifahrenden Lastkahn landen.
- usw.

Doch der gewählte Schluss erschien mir der richtige zu sein.

Wenngleich ich denke, dass die Geschichte stimmig ist, wäre ich über gegenteilige Meinungen, Kritik, oder Anmerkungen zur Verbesserung erfreut.

Grüße

Tom Erde



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Klemens_Fitte
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Beitrag21.02.2014 08:07

von Klemens_Fitte
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Lieber Tom,

ja, das gefällt mir schon ganz gut. Ich habe zugegebenermaßen schon des öfteren in deine anderen Werke reingelesen, ohne einen richtigen Zugang zu finden - aber hier fand ich mich sehr schnell zurecht; ich glaube, das liegt daran, dass du hier nicht nur beweist, mit Sprache umgehen zu können, ihre Möglichkeiten ausschöpfen zu wollen, sondern dich ein wenig in Zurückhaltung übst, mehr auf den Punkt schreibst und somit klare, eindringliche Bilder schaffst. Insbesondere die Szene um den toten Kater ist, finde ich, sehr gut und stimmig geschrieben. Rausgerissen haben mich Stellen, in denen sich der Autor selbst herausstellt, also so etwas:

Zitat:
Naja, den Rest kann sich der geneigte Leser denken.


Natürlich bewegst du dich auch in dieser Geschichte wieder auf einem schmalen Grat, und der Zyniker in mir wollte dir an verschiedenen Stellen ästhetischen und sentimentalen Kitsch vorwerfen - ich tue es aber nicht, weil ich dich für einen empathischen und ehrlichen Autor halte, dem es nicht im Traum einfallen würde, Nutten und Junkies zu wandelnden Klischees, zu romantisch verklärten Figuren einer Gefühlsduselei zu missbrauchen.
Und dennoch: Es gibt diese Momente, in denen ich mich frage, ob ich hier die kritische Distanz des Erzählers zum Erzählten herauslese oder den Blick des Fotografen, der seinem Motiv Zwiebeln unter die Nase hält, um ein eindringlicheres Porträt schießen zu können.

Aber, wie gesagt, ich bin mir sicher, dass ich dir mit einem solchen Vorwurf Unrecht täte, also sage ich vorerst: gern gelesen.

Beim zweiten Lesen sind mir ein paar Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler aufgefallen, aber da fehlt mir grade die Zeit, die im Einzelnen rauszusuchen. Ich komme aber sicher nochmal wieder, wollte dir nur einen ersten Eindruck hinterlassen.

Herzlich,
Klemens
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Tom Erde
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Beitrag22.02.2014 13:30

von Tom Erde
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Hallo Klemens_Fitte,

vielen Dank für deine Antwort, deine Lob und deine Kritik.

Prostituierte und Junkies klischeehaft und als Tränendrüsendrücker zu verwenden würde mir gewiss nicht im Traum einfallen, da ich mich selbst eine Zeit lang in diesem Milieu aufgehalten habe und die Menschen und ihre Motive nur zu gut kenne.

Danke, dass du mich in diesem Punkt richtig eingeschätzt hast!

Darüber hinaus wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mir die Zeichensetzungs- und Rechtschreibfehler nennen würdest, dazuzulernen ist mir immer eine Freunde!!

Grüße

Tom Erde


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Klemens_Fitte
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Beitrag22.02.2014 18:11
Re: Abgründiges
von Klemens_Fitte
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Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und betone, dass ich auch nicht unbedingt firm in Regelfragen bin. Im Zweifel solltest du also nochmal den Duden kontaktieren. Angestrichen habe ich größtenteils Komma- und Tippfehler, in der 'Rückblende' hast du ein oder zwei Zeitenhopser drin.

Ach ja, noch eine kurze Anmerkung, falls du noch über den Schluss grübelst: Der gefällt mir in seiner jetzigen, offenen Form gut.

Gruß,
Klemens

Tom Erde hat Folgendes geschrieben:
Unter ihr kräuselten sich Wellen, tief, trostlos und kalt. In ihr jagten sich Gedanken, tumultartig, bitter und hart. Das Geländer war hoch, doch kein Hindernis für sie, ihre Beine waren noch immer gelenkig. Ein entschlossener Schwung und sie war drüber. Nun drückte es in ihren Rücken, bildete eine Grenze, und – zurück – war nur ein Wort.
Sie fragte sich nicht, wie es soweit kommen konnte, die Antwort wusste sie im Schlaf.
Autos rauschten an ihr vorbei, ohne Anteil oder Gespür. Ihre Fahrer hatten Wichtigeres zu tun, ihr Sinn war auf Ankunft geprägt. Heutzutage hatte jeder ein Ziel, musste schnell mal irgendwo hin. Etwas Dringendes zu erledigen, gab es immer.
Was sollten sie auch sagen? „Das Leben ist so schön! Mit Springen löst man keine Probleme! Lass uns reden, ich bin Therapeut!“
„Erbärmlich“, hätte sie geantwortet. „Mit Reden löst man keine Probleme. Das Leben ist der Therapeut und Springen ist so schön!“
Und gerade in diesem Moment, wo ihre Welt Stück für Stück zerbröselte, musste sie an Ben denken, wieder mal an Ben.
Hätte ich ihn doch nie getroffen, wünschte sie sich. Dieser Mistkerl ist meine Nabe, meine Achse, um die ich mich drehe wie das gottverdammte Glücksrad! Nur war meines voller Nieten. Pechrad, Sorgenrad, Scheißrad.
Mit seinem Lächeln hatte er sie in Bann gezogen, seine Stimme hatte ihr Hände und Füße gefesselt, und seine Augen hatten das Schloss zuschnappen lassen. Sogar jetzt noch hielt er den Schlüssel in der Hand.
Ob es in der Hölle wohl einen guten Schmied gibt? Überlegte sie. Nach meinem Wissen kann hier kein Fragezeichen stehen, weil es sich um indirekte Rede, um einen abhängigen Fragesatz handelt. Eher: Ob es in der Hölle wohl einen Schmied gibt, überlegte sie. Einen, der sich mit solcherart Ketten auskennt? Böiger Wind blies ihr zur Antwort Regentropfen ins Gesicht. Sie vermischten sich mit Lidschatten und Make Up, und mit ihren Tränen, bildeten ein trauriges Elixier.
„Warum soll ich weiterleben?“ schrie sie dem Wind entgegen, wütend, enttäuscht, verzagt. „Sag mir einen Grund, einen einzigen verfluchten Grund!“ Ihre Stimme, sonst rauchig und verträumt, brach. Ihre letzte Kraft lag in diesem Aufbäumen. Umsonst. Vertan. Wie immer. Wer hätte ihr auch antworten sollen? Engel mögen keine Selbstmordkanditaten, sie schaden der Statistik, und der Teufel würde ihr bestenfalls noch einen Schubs geben, damit das Zaudern ein Ende, und er einen neuen Untermieter hatte. „Warum?“ flüsterte sie, und dachte dabei wieder an Ben.
Er trug die Schuld, er ganz allein. Er hatte sie rackern lassen, bis sie verbraucht war, bis sie den Freiern zu hässlich wurde. Dann hatte er sie zum Cocktails schütteln hinter die Theke verbannt. Dafür war sie ihm gut genug gewesen, jedenfalls eine Zeit lang. Doch irgendwann konnte er ihren wehmütig sehnsüchtigen Blick nicht länger ertragen und machte ihr ein freundschaftliches Angebot: „In die Putzkolonne, oder raus.“
Sicher, sie wusste, wie man sich erniedrigte, wie man vor Männern kroch, die glaubten, die Gefühle einer Frau mit ein paar Scheinen kaufen zu können, aber das… Beinahe hätte sie ja zur Putzkolonne gesagt, sie musste schließlich vor irgendetwas leben, oder? Beinahe! Wenn da nicht diese Blicke gewesen wären. Seiner, der geradezu flehte: „Bitte, lieber Jesus, lass sie bitte nicht ja sagen. Ich spende dir nächsten Sonntag auch eine Kerze, die sich gewaschen hat, nur bitte…“ Und die ihrer Konkurrentinnen: „Weg mit der alten Schabracke“, stand wie mit Neonfarbe auf ihren schwarzlichtgelifteten Gesichtern geschrieben. „Die ist schlecht fürs Geschäft. Von ihren Tränensäcken und dem Schweinehals kriegen selbst die Kloschüsseln das Grausen. Und wenn sie nicht von allein geht, werden wir ihr das Leben so sauer machen, dass sie glaubt…“ Naja, den Rest kann sich der geneigte Leser denken.
Als Ben ihr: „Nein, danke.“ Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung entgegennahm, zerbrach etwas in ihr. Wahrscheinlich bloß eine langgehegte Traumblase, schon so alt, dass sie zu Glas geworden war. Dem Empfinden nach, eher eine ganze Welt. Ein Universum schaler Hoffnungen, aus kindischen Wünschen gemacht, und durch den Hammer Realität zum Einsturz gebracht.
Nun gab es nur noch die Fluten unter ihr und den Himmel über ihr. Beide gnadenlos in ihrer Art. Wohin sollte sie sich wenden? Die Fluten versprachen kühles Vergessen. Das war immerhin etwas, worauf man bauen konnte. Und der Himmel? Er hatte ihr lebenslang ein Bild vor die Nase gehalten, das unerreichbar blieb. Es war ein hübsches Bild, zugegeben, doch ein Bild konnte in einsamen Nächten nicht wärmen, konnte einen nicht in den Arm nehmen, einen streicheln und sagen: „Ohne dich, will ich nicht sein.“
Allmählich musste sie zu einer Entscheidung kommen. Ihre Beine zitterten bereits bedenklich, und ihre Finger, die ängstlich die Metallstangen des Geländers umschlossen, verloren ob der Nässe zusehends den Halt. Loslassen oder Festhalten? Springen oder Auferstehen?
Eben war sie wild entschlossen gewesen, ihrem Elend den Gnadenstoß zu geben, aber der stürmische Wind, der ihr unentwegt ins Gesicht peitschte, und die banale Gleichgültigkeit der  Autofahrer, hatten ihr Gemüt gekühlt.
Plötzlich drang sattes Tuckern an ihre Ohren, gemischt mit Lachen, und dem altbekannten Stück von Simon and Garfunkel – Bridge over troubled water. Hohn, oder ein Zeichen? Sie konnte es nicht sagen. Als sie an sich hinabschaute, schipperte ein Vergnügungsdampfer geradewegs unter ihr durch. Hell erleuchtet und hinter Plexiglas: Tanzende Menschen, die sich zwischen Girlanden und Lampions umarmten, die tranken, mitsangen, und das Leben in sorglosen Zügen genossen.
Wird es für mich je wieder so sein? Fragte sie sich.
Und obwohl sie keine Antwort erwartet hatte, kam sie dennoch, leise und zart, wie ein Küken, das seinen Schnabel zum ersten Mal aus dem Ei streckte. „Warum nicht, Marlen.“ sagte sie, und sprach mit der Stimme ihrer ersten, besten Freundin. Das verblüffte sie umso mehr, da Lena seit Jahrzehnten Tod und begraben war, gestorben an einer Dosis mit Strychnin versetztem Heroin. „Das Leben ist ein Kreis“, sagte sie weiter. „Und das Alter nur eine Stufe. Denke an mich, und erinnere dich daran, was passierte, als du mich auf einer anderen Brücke gefunden hast. Erinnere dich, erinnere dich gut. Und wenn du dann immer noch springen willst, Marlen, werde ich still bleiben, mäuschenstill, so, wie ich es gerne war.“
Jetzt zitterte Marlen nicht mehr vor Qual, sondern vor Schrecken. Lena hatte ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, hatte ihr einen Denkzettel aus dem Grab geschickt.
Erinnere dich, dachte sie. Aber woran?
Es war so lange her, so vieles war seitdem geschehen. Mit dem Entschwinden des Dampfers, dem Verklingen des Lieds, kam sie jedoch, die Erinnerung, stand unversehens vor ihr, wie ein staubiges Gemälde in hellem Sonnenlicht.
An diesem Tag, ihre erste Begegnung mit Ben lag in ferner Zukunft, wollte sie Lena besuchen, wollte sehen, wie es ihr ging. Wachsende Sorge hatte sie dazu gedrängt. Seit sich Lena voll und ganz der Droge hingegeben hatte, trafen sie sich immer seltener. Ab und zu telefonierten sie, oder begegneten sich am Bahnhof  – dort streunte Lena oft herum, weil sie dort fand, was ihr Herz damals am meisten begehrte, bitteres, braunes Pulver, das bunte Träume und warmes Vergessen versprach – aber in ihrer Wohnung war sie seit Monaten nicht gewesen.
Vorsichtshalber klopfte sie an, doch hinter der Tür blieb es still. Also schloss sie mit dem Schlüssel auf, den ihr Lena gab, als sie sich noch tagtäglich gesehen hatten. Zur Begrüßung wehte ihr ein beängstigender Geruch entgegen, süßlich, eindringlich und ekelerregend. Ihr Herz tat einen Stolperer. Sie kannte diesen Geruch, hatte ihn zweimal gerochen, als sie neben Freiern aufwachte, die sich im Laufe der Nacht friedlich aus dem Staub gemacht hatten, um Petrus Hallo zu sagen. Prompt rannte sie los, schrie Lenas Namen, und kümmerte sich nicht um die Berge ungeöffneter Post, oder den Müll, der sich überall türmte.
Die kleine Küche war leer, nur über der Spüle schwirrte ein Schwarm Essigfliegen, lautlos, planlos scheinbar. Im Wohnzimmer empfing sie dieselbe Öde. Der Tisch übersät mit Tabakresten, Weinflaschen und geschwärzten Löffeln. Erst im Schlafzimmer traf sie auf die Ursache des Gestanks. Gott sei Dank! Es war nicht Lena. Trotzdem musste sie bei dem Anblick wühlenden Brechreiz unterdrücken. Mitten auf dem Bett, hübsch aufgebahrt auf einer Blumendecke, lag Jonny, Lenas schwarzweiß gescheckter Kater. Rundherum hatte sie getrocknete Rosenblätter verstreut, und auf dem Nachtisch, neben einem Foto von Jonny mit blauem Halsband, brannte eine Kerze. Knochendürr war der Kater, das Fell stumpf und verklebt, und seine Zunge hing aus dem offenen Maul wie eine Anklage.
Sie hat ihn verhungern lassen, schoss es ihr damals durch den Kopf, sie hat ihn einfach verhungern lassen. Wut mischte sich unter ihren Ekel.
Schnaubend eilte sie zum Bad, wo sie Lena fand. Sie saß bebend und nackt in der halbvollen Badewanne. In der rechten Hand hielt sie ein Küchenmesser, deren Schneide auf ihrem linken Handgelenk ruhte. Als sie aufschaute, verspürte Marlen ein ähnliches Grausen wie vorhin Würde ich eher 'zuvor' schreiben. bei Jonny.
Sie ist ebenfalls tot, dachte sie ungewollt, schon lange. Und ich glaube, sie weiß es!
„Was machst du denn da!“ schrie sie Lena an. „Was glaubst du damit zu erreichen?“ Lenas Haltlosigkeit schürte ihre Wut, packte ein frisches Scheit obenauf. „Willst dich aus dem Staub machen, was! Klammheimlich abtreten, und uns anderen die ganze Scheiße überlassen. Willst du das? Willst du das?“
Dem folgte ein Blick, der ihre Wut ertränkte, rasch und rückhaltlos. Lenas Kajal war zu clownesken Tränen verlaufen, Trauerweiden um die schwarzen Teiche ihrer Augen. Wenn Verzweiflung je ein Gesicht getragen hatte, war es ihres.
Marlen setzte sich auf den Badewannenrand und entwand ihr behutsam das Messer. Sie ließ es bereitwillig geschehen. „Du Dummerchen“, sagte sie. „Warum tust du so etwas?“ Ihre Stimme schwankte dabei, hörte sich alt und fadenscheinig an.
„Er… ist tot“, stammelte Lena. „Hat heut Morgen einfach tot in seiner Ecke gelegen.“ Wieder dieser Blick von ihr, der selbst ein Messer war. „Er war mein Freund, mein Freund, verstehst du, und ich hab ihn einfach vergessen, hab sein Maunzen und Betteln missachtet, hab mich dicht gemacht, immer wieder dicht gemacht und ihn dabei einfach vergessen.“ Sie jammerte, schluchzte, und dann: „Jetzt hab ich niemanden mehr.“
Marlen fuhr ihr zärtlich durchs Haar. „Oh du Dummerchen.“ wiederholte sie. „Wenn sich jede gleich umbrächte, weil ihre Katze stirbt, wär die Welt bald leer, hm. Was geht bloß in deinem Kopf vor?“ Jäh umfingen sie Lenas Arme, nass, zerstochen und schutzsuchend. Später fand sie die Abdrücke ihrer dunklen Tränen auf der Bluse, die sie damals trug. Am Tag von Lenas Beisetzung waren sie zu blassen Schatten geworden, gingen aber nie mehr ganz heraus.
Und in diesem Moment, als sich Lena nackt und weinend an sie presste, geschah etwas Seltsames mit ihr. Erst empfand Marlen Abscheu vor den erbärmlichen Gefilden, die ihre beste Freundin gerade durchstreifte, und bereute ihn sofort. Dann kam ein Gedanke so hell und klar, dass er sie fast blendete: „Das niemals!“ forderte er, rigoros und herrisch. „Niemals wirst du es soweit kommen lassen! Keine Droge, kein Mann, kein Irrsinn und keine Verzweiflung werden dich jemals dazu bringen, dein Leben fortzuwerfen, niemals!“
Ein Gefühl der Zuversicht breitete sich damals wie zur Bestätigung in ihr aus. Es begann mit einem tröstlichen Glühen tief unten am Rückenansatz, dass sich Nerv für Nerv emporarbeitete und auf diesem Weg zu einem Buschbrand wurde, der auf Arme und Beine übersprang, und in ihrer Brust ein Feuer der Hoffnung entzündete, trotz allem.
Vergessen ist das Problem, dachte sie plötzlich, Springen der Therapeut, und Erinnerung so schön.
Sie stand wieder auf der Brücke und – zurück – war nicht nur mehr ein Wort, sondern eine Möglichkeit…
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Beitrag24.02.2014 21:20

von Tom Erde
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Hallo Klemens_Fitte,

vielen Dank für deine Anmerkungen. Mitunter bin ich mir unsicher, wann vor einem - und - ein Komma gesetzt werden muss.

Wenn du eine Regel weißt, wäre es sehr nett, wenn du sie mir mitteilen würdest!

Grüße

Tom Erde


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von Tom Erde
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So, ich hoffe, alle Fehler beseitigt zu haben.

Abgründiges


Unter ihr kräuselten sich Wellen, tief, trostlos und kalt. In ihr jagten sich Gedanken, tumultartig, bitter und hart. Das Geländer war hoch, doch kein Hindernis für sie, ihre Beine waren noch immer gelenkig. Ein entschlossener Schwung und sie war drüber. Nun drückte es in ihren Rücken, bildete eine Grenze, und – zurück – war nur ein Wort.
Sie fragte sich nicht, wie es soweit kommen konnte, die Antwort wusste sie im Schlaf.
Autos rauschten an ihr vorbei, ohne Anteil oder Gespür. Ihre Fahrer hatten Wichtigeres zu tun, ihr Sinn war auf Ankunft geprägt. Heutzutage hatte jeder ein Ziel, musste schnell mal irgendwo hin. Etwas Dringendes zu erledigen, gab es immer.
Was sollten sie auch sagen? „Das Leben ist so schön! Mit Springen löst man keine Probleme! Lass uns reden, ich bin Therapeut!“
„Erbärmlich“, hätte sie geantwortet. „Mit Reden löst man keine Probleme. Das Leben ist der Therapeut und Springen ist so schön!“
Und gerade in diesem Moment, wo ihre Welt Stück für Stück zerbröselte, musste sie an Ben denken, wieder mal an Ben.
Hätte ich ihn doch nie getroffen, wünschte sie sich. Dieser Mistkerl ist meine Nabe, meine Achse, um die ich mich drehe wie das gottverdammte Glücksrad! Nur war meines voller Nieten. Pechrad, Sorgenrad, Scheißrad.
Mit seinem Lächeln hatte er sie in Bann gezogen, seine Stimme hatte ihr Hände und Füße gefesselt, und seine Augen hatten das Schloss zuschnappen lassen. Sogar jetzt noch hielt er den Schlüssel in der Hand.
Ob es in der Hölle wohl einen guten Schmied gibt, überlegte sie. Einen, der sich mit solcherart Ketten auskennt? Böiger Wind blies ihr zur Antwort Regentropfen ins Gesicht. Sie vermischten sich mit Lidschatten und Make Up, und mit ihren Tränen, bildeten ein trauriges Elixier.
„Warum soll ich weiterleben?“ schrie sie dem Wind entgegen, wütend, enttäuscht, verzagt. „Sag mir einen Grund, einen einzigen verfluchten Grund!“ Ihre Stimme, sonst rauchig und verträumt, brach. Ihre letzte Kraft lag in diesem Aufbäumen. Umsonst. Vertan. Wie immer. Wer hätte ihr auch antworten sollen? Engel mögen keine Selbstmordkanditaten, sie schaden der Statistik, und der Teufel würde ihr bestenfalls noch einen Schubs geben, damit das Zaudern ein Ende, und er einen neuen Untermieter hatte. „Warum?“ flüsterte sie und dachte dabei wieder an Ben.
Er trug die Schuld, er ganz allein. Er hatte sie rackern lassen, bis sie verbraucht war, bis sie den Freiern zu hässlich wurde. Dann hatte er sie zum Cocktails schütteln hinter die Theke verbannt. Dafür war sie ihm gut genug gewesen, jedenfalls eine Zeit lang. Doch irgendwann konnte er ihren wehmütig sehnsüchtigen Blick nicht länger ertragen und machte ihr ein freundschaftliches Angebot: „In die Putzkolonne, oder raus.“
Sicher, sie wusste, wie man sich erniedrigte, wie man vor Männern kroch, die glaubten, die Gefühle einer Frau mit ein paar Scheinen kaufen zu können, aber das… Beinahe hätte sie Ja zur Putzkolonne gesagt, sie musste schließlich von irgendetwas leben, oder? Beinahe! Wenn da nicht diese Blicke gewesen wären. Seiner, der geradezu flehte: „Bitte, lieber Jesus, lass sie bitte nicht Ja sagen. Ich spende dir nächsten Sonntag auch eine Kerze, die sich gewaschen hat, nur bitte…“ Und die ihrer Konkurrentinnen: „Weg mit der alten Schabracke“, stand wie mit Neonfarbe auf ihren schwarzlichtgelifteten Gesichtern geschrieben. „Die ist schlecht fürs Geschäft. Von ihren Tränensäcken und dem Schweinehals kriegen selbst die Kloschüsseln das Grausen. Und wenn sie nicht von allein geht, werden wir ihr das Leben so sauer machen, dass sie glaubt…“ Naja, den Rest kann sich der geneigte Leser denken.
Als Ben ihr – Nein danke – mit einem Stoßseufzer der Erleichterung entgegennahm, zerbrach etwas in ihr. Wahrscheinlich bloß eine langgehegte Traumblase, schon so alt, dass sie zu Glas geworden war. Dem Empfinden nach, eher eine ganze Welt. Ein Universum schaler Hoffnungen, aus kindischen Wünschen gemacht, und durch den Hammer Realität zum Einsturz gebracht.
Nun gab es nur noch die Fluten unter ihr und den Himmel über ihr. Beide gnadenlos in ihrer Art. Wohin sollte sie sich wenden? Die Fluten versprachen kühles Vergessen. Das war immerhin etwas, worauf man bauen konnte. Und der Himmel? Er hatte ihr lebenslang ein Bild vor die Nase gehalten, das unerreichbar blieb. Es war ein hübsches Bild, zugegeben, doch ein Bild konnte in einsamen Nächten nicht wärmen, konnte einen nicht in den Arm nehmen, einen streicheln und sagen: „Ohne dich, will ich nicht sein.“
Allmählich musste sie zu einer Entscheidung kommen. Ihre Beine zitterten bereits bedenklich, und ihre Finger, die ängstlich die Metallstangen des Geländers umschlossen, verloren ob der Nässe zusehends den Halt. Loslassen oder Festhalten? Springen oder Auferstehen?
Eben war sie wild entschlossen gewesen, ihrem Elend den Gnadenstoß zu geben, aber der stürmische Wind, der ihr unentwegt ins Gesicht peitschte, und die banale Gleichgültigkeit der  Autofahrer hatten ihr Gemüt gekühlt.
Plötzlich drang sattes Tuckern an ihre Ohren, gemischt mit Lachen und dem altbekannten Stück von Simon and Garfunkel – Bridge over troubled water. Hohn, oder ein Zeichen? Sie konnte es nicht sagen. Als sie an sich hinabschaute, schipperte ein Vergnügungsdampfer geradewegs unter ihr durch. Hell erleuchtet und hinter Plexiglas: Tanzende Menschen, die sich zwischen Girlanden und Lampions umarmten, die tranken, mitsangen und das Leben in sorglosen Zügen genossen.
Wird es für mich je wieder so sein, fragte sie sich.
Und obwohl sie keine Antwort erwartet hatte, kam sie dennoch, leise und zart, wie ein Küken, das seinen Schnabel zum ersten Mal aus dem Ei streckte. „Warum nicht, Marlen.“ sagte sie, und sprach mit der Stimme ihrer ersten, besten Freundin. Das verblüffte sie umso mehr, da Lena seit Jahrzehnten tot und begraben war, gestorben an einer Dosis mit Strychnin versetztem Heroin. „Das Leben ist ein Kreis“, sagte sie weiter. „Und das Alter nur eine Stufe. Denke an mich, und erinnere dich daran, was passierte, als du mich auf einer anderen Brücke gefunden hast. Erinnere dich, erinnere dich gut. Und wenn du dann immer noch springen willst, Marlen, werde ich still bleiben, mäuschenstill, so wie ich es gerne war.“
Jetzt zitterte Marlen nicht mehr vor Qual, sondern vor Schrecken. Lena hatte ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, hatte ihr einen Denkzettel aus dem Grab geschickt.
Erinnere dich, dachte sie. Aber woran? Es war so lange her, so vieles war seitdem geschehen. Mit dem Entschwinden des Dampfers, dem Verklingen des Lieds, kam sie jedoch, die Erinnerung, stand unversehens vor ihr, wie ein staubiges Gemälde in hellem Sonnenlicht.
An diesem Tag, ihre erste Begegnung mit Ben lag in ferner Zukunft, wollte sie Lena besuchen, wollte sehen, wie es ihr ging. Wachsende Sorge hatte sie dazu gedrängt. Seit sich Lena voll und ganz der Droge hingegeben hatte, trafen sie sich immer seltener. Ab und zu telefonierten sie oder begegneten sich am Bahnhof  – dort streunte Lena oft herum, weil sie dort fand, was ihr Herz damals am meisten begehrte, bitteres, braunes Pulver, das bunte Träume und warmes Vergessen versprach – aber in ihrer Wohnung war sie seit Monaten nicht gewesen.
Vorsichtshalber klopfte sie an, doch hinter der Tür blieb es still. Also schloss sie mit dem Schlüssel auf, den ihr Lena gab als sie sich noch tagtäglich gesehen hatten. Zur Begrüßung wehte ihr ein beängstigender Geruch entgegen, süßlich, eindringlich und ekelerregend. Ihr Herz tat einen Stolperer. Sie kannte diesen Geruch, hatte ihn zweimal gerochen, als sie neben Freiern aufgewacht war, die sich im Laufe der Nacht friedlich aus dem Staub gemacht hatten, um Petrus Hallo zu sagen. Prompt rannte sie los, schrie Lenas Namen und kümmerte sich nicht um die Berge ungeöffneter Post oder den Müll, der sich überall türmte.
Die kleine Küche war leer, nur über der Spüle schwirrte ein Schwarm Essigfliegen, lautlos, planlos scheinbar. Im Wohnzimmer empfing sie dieselbe Öde. Der Tisch übersät mit Tabakresten, Weinflaschen und geschwärzten Löffeln. Erst im Schlafzimmer traf sie auf die Ursache des Gestanks. Gott sei Dank! Es war nicht Lena. Trotzdem musste sie bei dem Anblick wühlenden Brechreiz unterdrücken. Mitten auf dem Bett, hübsch aufgebahrt auf einer Blumendecke, lag Jonny, Lenas schwarzweiß gescheckter Kater. Rundherum hatte sie getrocknete Rosenblätter verstreut, und auf dem Nachtisch, neben einem Foto von Jonny mit blauem Halsband, brannte eine Kerze. Knochendürr war der Kater, das Fell stumpf und verklebt, und seine Zunge hing aus dem offenen Maul wie eine Anklage.
Sie hat ihn verhungern lassen, schoss es ihr damals durch den Kopf, sie hat ihn einfach verhungern lassen. Wut mischte sich unter ihren Ekel.
Schnaubend eilte sie zum Bad, wo sie Lena fand. Sie saß bebend und nackt in der halbvollen Badewanne. In der rechten Hand hielt sie ein Küchenmesser, deren Schneide auf ihrem linken Handgelenk ruhte. Als sie aufschaute, verspürte Marlen ein ähnliches Grausen wie zuvor bei Jonny.
Sie ist ebenfalls tot, dachte sie ungewollt, schon lange. Und ich glaube, sie weiß es!
„Was machst du denn da!“ schrie sie Lena an. „Was glaubst du damit zu erreichen?“ Lenas Haltlosigkeit schürte ihre Wut, packte ein frisches Scheit obenauf. „Willst dich aus dem Staub machen, was! Klammheimlich abtreten und uns anderen die ganze Scheiße überlassen. Willst du das? Willst du das?“
Dem folgte ein Blick, der ihre Wut ertränkte, rasch und rückhaltlos. Lenas Kajal war zu clownesken Tränen verlaufen, Trauerweiden um die schwarzen Teiche ihrer Augen. Wenn Verzweiflung je ein Gesicht getragen hatte, war es ihres.
Marlen setzte sich auf den Badewannenrand und entwand ihr behutsam das Messer. Sie ließ es bereitwillig geschehen. „Du Dummerchen“, sagte sie. „Warum tust du so etwas?“ Ihre Stimme schwankte dabei, hörte sich alt und fadenscheinig an.
„Er… ist tot“, stammelte Lena. „Hat heut Morgen einfach tot in seiner Ecke gelegen.“ Wieder dieser Blick von ihr, der selbst ein Messer war. „Er war mein Freund, mein Freund, verstehst du, und ich hab ihn einfach vergessen, hab sein Maunzen und Betteln missachtet, hab mich dicht gemacht, immer wieder dicht gemacht und ihn dabei einfach vergessen.“ Sie jammerte, schluchzte, und dann: „Jetzt hab ich niemanden mehr.“
Marlen fuhr ihr zärtlich durchs Haar. „Oh du Dummerchen.“ wiederholte sie. „Wenn sich jede gleich umbrächte, weil ihre Katze stirbt, wär die Welt bald leer, hm. Was geht bloß in deinem Kopf vor?“ Jäh umfingen sie Lenas Arme, nass, zerstochen und schutzsuchend. Später fand sie die Abdrücke ihrer dunklen Tränen auf der Bluse, die sie damals trug. Am Tag von Lenas Beisetzung waren sie zu Schatten verblasst, gingen aber nie mehr ganz heraus.
Und in diesem Moment, als sich Lena nackt und weinend an sie presste, geschah etwas Seltsames mit ihr. Erst empfand Marlen Abscheu vor den erbärmlichen Gefilden, die ihre beste Freundin gerade durchstreifte, und bereute ihn sofort. Dann kam ein Gedanke so hell und klar, dass er sie fast blendete: „Das niemals!“ forderte er, rigoros und herrisch. „Niemals wirst du es soweit kommen lassen! Keine Droge, kein Mann, kein Irrsinn und keine Verzweiflung werden dich jemals dazu bringen, dein Leben fortzuwerfen, niemals!“
Ein Gefühl der Zuversicht breitete sich damals wie zur Bestätigung in ihr aus. Es begann mit einem tröstlichen Glühen tief unten am Rückenansatz, das sich Nerv für Nerv emporarbeitete und auf diesem Weg zu einem Buschbrand wurde, der auf Arme und Beine übersprang und in ihrer Brust ein Feuer der Hoffnung entzündete, trotz allem.
Vergessen ist das Problem, dachte sie plötzlich, Springen der Therapeut und Erinnerung so schön.
Sie stand wieder auf der Brücke und – zurück – war nicht nur mehr ein Wort, sondern eine Möglichkeit…


_________________
Mit deinem Kuss ging´s mir in die Hände,
zu sperren den Drachen hinter brennende Wände.
Nun binden ihn Ketten aus verzaubertem Feuer,
nun winselt und schnurrt es das Ungeheuer.
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Constantine
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Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag02.03.2014 21:47

von Constantine
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Hallo Tom,

danke für deine gelungene Kurzgeschichte. Ich habe sie gerne gelesen.
Ich hätte einige Kommentare und Erbsen. Vielleicht ist etwas Sinnvolles dabei.

Tom Erde hat Folgendes geschrieben:


Abgründiges


Unter ihr kräuselten sich Wellen, tief, trostlos und kalt. In ihr jagten sich Gedanken, tumultartig, bitter und hart. Das Geländer war hoch, doch kein Hindernis für sie, ihre Beine waren noch immer gelenkig. Ein entschlossener Schwung und sie war drüber. Nun drückte es in ihren Rücken, bildete eine Grenze, und – zurück – war nur ein Wort.
Sie fragte sich nicht, wie es soweit kommen konnte, die Antwort wusste sie im Schlaf.
Autos rauschten an ihr vorbei, ohne Anteil oder Gespür. Ihre Fahrer hatten Wichtigeres, Dringenderes zu tun, ihr Sinn war auf Ankunft geprägt. Heutzutage hatte jeder ein Ziel, musste schnell mal irgendwo hin. Etwas Dringendes zu erledigen, gab es immer. <-- würde ich weglassen. Ist mir zu sehr drangeklatscht und Füllmaterial.
Was sollten sie auch sagen? „Das Leben ist so schön! Mit Springen löst man keine Probleme! Lass uns reden, ich bin Therapeut!“
„Erbärmlich“, hätte sie geantwortet. „Mit Reden löst man keine Probleme. Das Leben ist der Therapeut und Springen ist so schön!“
Und gerade in diesem Moment, wo ihre Welt Stück für Stück zerbröselte, musste sie an Ben denken, wieder mal an Ben. <-- diesen Satz würde ich umformulieren, denn ihre Welt ist bereits Stück für Stück zerbröselt und tut es nicht jetzt in diesem Moment. Sie steht am Geländer der Brücke vor den Scherben ihres Lebens.
Hätte ich ihn doch nie getroffen, wünschte sie sich. Dieser Mistkerl ist meine Nabe, meine Achse, um die ich mich drehe wie das gottverdammte Glücksrad! Nur war meines voller Nieten. Pechrad, Sorgenrad, Scheißrad.
Mit seinem Lächeln hatte er sie in Bann gezogen, seine Stimme hatte ihr Hände und Füße gefesselt, und seine Augen hatten das Schloss zuschnappen lassen. Sogar jetzt noch hielt er den Schlüssel in der Hand.
Ob es in der Hölle wohl einen guten Schmied gibt, überlegte sie. Einen, der sich mit solcherart Ketten auskennt? Böiger Wind blies ihr zur Antwort Regentropfen ins Gesicht. Sie vermischten sich mit Lidschatten und Make Up, und mit ihren Tränen, bildeten ein trauriges Elixier.
„Warum soll ich weiterleben?“ (Komma) schrie sie dem Wind entgegen, wütend, enttäuscht, verzagt. „Sag mir einen Grund, einen einzigen verfluchten Grund!“ Ihre Stimme, sonst rauchig und verträumt, brach. Ihre letzte Kraft lag in diesem Aufbäumen. Umsonst. Vertan. Wie immer. <-- würde ich weglassen. Es stört für mich den Fluss und ist mir zu dick aufgetragen. Außerdem finde ich schließt es somit besser an, von der brechenden Stimme zum rhetorischen Gedanken. Wer hätte ihr auch antworten sollen? Engel mögen keine Selbstmordkanditaten, sie schaden der Statistik, und der Teufel würde ihr bestenfalls noch einen Schubs geben, damit das Zaudern ein Ende, und er einen neuen Untermieter hatte. „Warum?“ (Komma) flüsterte sie und dachte dabei wieder an Ben.
Er trug die Schuld, er ganz allein. Er hatte sie rackern lassen, bis sie verbraucht war, bis sie den Freiern zu hässlich wurde. Dann hatte er sie zum Cocktails schütteln hinter die Theke verbannt. Dafür war sie ihm gut genug gewesen, jedenfalls eine Zeit lang. Doch irgendwann konnte er ihren wehmütig sehnsüchtigen Blick nicht länger ertragen und machte ihr ein freundschaftliches Angebot: „In die Putzkolonne, oder raus.“
Sicher, sie wusste, wie man sich erniedrigte, wie man vor Männern kroch, die glaubten, die Gefühle einer Frau mit ein paar Scheinen kaufen zu können, aber das… Beinahe hätte sie Ja zur Putzkolonne gesagt, sie musste schließlich von irgendetwas leben, oder? Beinahe! Wenn da nicht diese Blicke gewesen wären. Seiner, der geradezu flehte: „Bitte, lieber Jesus, lass sie bitte nicht Ja sagen. Ich spende dir nächsten Sonntag auch eine Kerze, die sich gewaschen hat, nur bitte…“ Und die ihrer Konkurrentinnen: „Weg mit der alten Schabracke“, stand wie mit Neonfarbe auf ihren schwarzlichtgelifteten Gesichtern geschrieben. „Die ist schlecht fürs Geschäft. Von ihren Tränensäcken und dem Schweinehals kriegen selbst die Kloschüsseln das Grausen. Und wenn sie nicht von allein geht, werden wir ihr das Leben so sauer machen, dass sie glaubt…“ Naja, den Rest kann sich der geneigte Leser denken. <-- diesen Abschnitt finde ich persönlich too much. Hier verlierst du meiner Meinung nach deine Story kurz aus den Augen. Ich würde diesen Abschnitt einstampfen und ihn auf 1-2 kurze Sätze umschreiben.
Als Ben ihr – Nein danke – <-- ich finde, ihre Antwort gehört zwischen Anführungszeichen, nicht zwischen Gedankenstrichen. mit einem Stoßseufzer der Erleichterung entgegennahm, zerbrach etwas in ihr. Wahrscheinlich bloß eine langgehegte Traumblase, schon so alt, dass sie zu Glas geworden war. Dem Empfinden nach, eher eine ganze Welt. Ein Universum schaler Hoffnungen, aus kindischen Wünschen gemacht, und <-- für mein Empfinden zu viel des Guten. Würde ich weglassen. Ohne funktioniert der Satz und die Aussage für mich besser. durch den Hammer Realität zum Einsturz gebracht.
Nun gab es nur noch die Fluten unter ihr und den Himmel über ihr. Beide gnadenlos in ihrer Art. Wohin sollte sie sich wenden? Die Fluten versprachen kühlesVergessen. <-- genau genommen geht es hier nicht um Vergessen, sondern um Auslöschung, Tod oder Ende. Was du hier machen könntest, wäre den Kontrast zwischen Fluten (Ende des sinnlosen Leidens) und Himmel (Festhalten der Hoffnung und des Lebenstraums) knackiger, direkter, zum Punkt zu beschreiben. Deine Protagonistin ist desillusioniert und sozusagen am Boden zerstört. Ich vermisse ihre Verbitterung. Mir ist dieser Abschnitt etwas zu distanziert. Das war immerhin etwas, worauf man bauen konnte. Und der Himmel? Er hatte ihr lebenslang ein unerreichbares Bild vor die Nase gehalten, das unerreichbar blieb. Es war ein hübsches Bild, zugegeben, doch ein Bild konnte, welches in einsamen Nächten nicht wärmen konnte, konnte einen nicht in den Arm nehmen, einen streicheln und sagen konnte: „Ohne dich, will ich nicht sein.“
Allmählich musste sie zu einer Entscheidung kommen. Ihre Beine zitterten bereits bedenklich, und ihre Finger, die ängstlich die Metallstangen des Geländers umschlossen, verloren ob der Nässe zusehends den Halt. Loslassen oder Festhalten? Springen oder Auferstehen?
Eben war sie wild entschlossen gewesen, ihrem Elend den Gnadenstoß zu geben, aber der stürmische Wind, der ihr unentwegt ins Gesicht peitschte, und die banale Gleichgültigkeit der  Autofahrer hatten ihr Gemüt gekühlt.
Plötzlich drang sattes Tuckern an ihre Ohren, gemischt mit Lachen und dem altbekannten Stück von Simon and Garfunkel – "Bridge over troubled water". Hohn, oder ein Zeichen? Sie konnte es nicht sagen. Als sie an sich hinabschaute, schipperte ein Vergnügungsdampfer geradewegs unter ihr durch. Hell erleuchtet und hinter Plexiglas: Tanzende Menschen, die sich zwischen Girlanden und Lampions umarmten, die tranken, mitsangen und das Leben in sorglosen Zügen genossen.
Wird es für mich je wieder so sein, fragte sie sich.
Und obwohl sie keine Antwort erwartet hatte, kam sie dennoch, leise und zart, wie ein Küken, das seinen Schnabel zum ersten Mal aus dem Ei streckte. „Warum nicht, Marlen.“ (Komma) sagte sie, und sprach mit der Stimme ihrer ersten, besten Freundin. Das verblüffte sie umso mehr, da Lena seit Jahrzehnten tot und begraben war, gestorben an einer Dosis mit Strychnin versetztem Heroin. „Das Leben ist ein Kreis“, sagte sie weiter. „Und das Alter nur eine Stufe. Denke an mich, und erinnere dich daran, was passierte, als du mich auf einer anderen Brücke gefunden hast. Erinnere dich, erinnere dich gut. Und wenn du dann immer noch springen willst, Marlen, werde ich still bleiben, mäuschenstill, so wie ich es gerne war.“
Jetzt zitterte Marlen nicht mehr vor Qual, sondern vor Schrecken. Lena hatte ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, hatte ihr einen Denkzettel aus dem Grab geschickt.
Erinnere dich, dachte sie. Aber woran? Es war so lange her, so vieles war seitdem geschehen. <-- würde ich weglassen und somit die Worte von Lena wahrlich wie eine Ohrfeige klingen lassen, welche Marlen unvermittelt die Erinnerungen bringen. Mit dem Entschwinden des Dampfers, dem Verklingen des Lieds, kam sie jedoch, die Erinnerung, stand unversehens vor ihr, wie ein staubiges Gemälde in hellem Sonnenlicht.
An diesem Tag, ihre erste Begegnung mit Ben lag in ferner Zukunft, wollte sie Lena besuchen, wollte sehen, wie es ihr ging. Wachsende Sorge hatte sie dazu gedrängt. Seit sich Lena voll und ganz der Droge hingegeben hatte, trafen sie sich immer seltener. Ab und zu telefonierten sie oder begegneten sich am Bahnhof  – dort streunte Lena oft herum, weil sie dort fand, was ihr Herz damals am meisten begehrte, bitteres, braunes Pulver, das bunte Träume und warmes Vergessen versprach – aber in ihrer Wohnung war sie seit Monaten nicht gewesen.
Vorsichtshalber klopfte sie an, doch hinter der Tür blieb es still. Also schloss sie mit dem Schlüssel auf, den ihr Lena gab gegeben hatte (Komma) als sie sich noch tagtäglich gesehen hatten. Zur Begrüßung wehte ihr ein beängstigender Geruch entgegen, süßlich, eindringlich und ekelerregend. Ihr Herz tat einen Stolperer. Sie kannte diesen Geruch, hatte ihn zweimal gerochen, als sie neben Freiern aufgewacht war, die sich im Laufe der Nacht friedlich aus dem Staub gemacht hatten, um Petrus Hallo zu sagen. <-- warum so "kompliziert" erwähnen, dass sie neben toten Freiern erwacht ist? Ich würde es direkter schreiben. Prompt rannte sie los, schrie Lenas Namen und kümmerte sich nicht um die Berge ungeöffneter Post oder den Müll, der sich überall türmte.
Die kleine Küche war leer, nur über der Spüle schwirrte ein Schwarm Essigfliegen, lautlos, planlos scheinbar. Im Wohnzimmer empfing sie dieselbe Öde. Der Tisch übersät mit Tabakresten, Weinflaschen und geschwärzten Löffeln. Erst im Schlafzimmer traf sie auf die Ursache des Gestanks. Gott sei Dank! Es war nicht Lena. Trotzdem musste sie bei dem Anblick wühlenden Brechreiz unterdrücken. Mitten auf dem Bett, hübsch aufgebahrt auf einer Blumendecke, lag Jonny, Lenas schwarzweiß gescheckter Kater. Rundherum hatte sie getrocknete Rosenblätter verstreut, und auf dem Nachtisch, neben einem Foto von Jonny mit blauem Halsband, brannte eine Kerze. Knochendürr war der Kater, das Fell stumpf und verklebt, und seine Zunge hing aus dem offenen Maul wie eine Anklage.
Sie hat ihn verhungern lassen, schoss es ihr damals durch den Kopf, sie hat ihn einfach verhungern lassen. Wut mischte sich unter ihren Ekel.
Schnaubend eilte sie zum Bad, wo sie Lena fand. Sie saß bebend und nackt in der halbvollen Badewanne. In der rechten Hand hielt sie ein Küchenmesser, deren Schneide auf ihrem linken Handgelenk ruhte. Als sie aufschaute, verspürte Marlen ein ähnliches Grausen wie zuvor bei Jonny.
Sie ist ebenfalls tot, dachte sie ungewollt, schon lange. Und ich glaube, sie weiß es!
„Was machst du denn da!“ (Komma) schrie sie Lena an. „Was glaubst du damit zu erreichen?“ Lenas Haltlosigkeit schürte ihre Wut, packte ein frisches Scheit obenauf. „Willst dich aus dem Staub machen, was! Klammheimlich abtreten und uns anderen die ganze Scheiße überlassen. Willst du das? Willst du das?“
Dem folgte ein Blick, der ihre Wut ertränkte, rasch und rückhaltlos. Lenas Kajal war zu clownesken Tränen verlaufen, Trauerweiden um die schwarzen Teiche ihrer Augen. Wenn Verzweiflung je ein Gesicht getragen hatte, war es ihres.
Marlen setzte sich auf den Badewannenrand und entwand ihr behutsam das Messer. Sie ließ es bereitwillig geschehen. „Du Dummerchen“, sagte sie. „Warum tust du so etwas?“ Ihre Stimme schwankte dabei, hörte sich alt und fadenscheinig an.
„Er… ist tot“, stammelte Lena. „Hat heut Morgen einfach tot in seiner Ecke gelegen.“ Wieder dieser Blick von ihr, der selbst ein Messer war. „Er war mein Freund, mein Freund, verstehst du, und ich hab ihn einfach vergessen, hab sein Maunzen und Betteln missachtet, hab mich dicht gemacht, immer wieder dicht gemacht und ihn dabei einfach vergessen.“ Sie jammerte, schluchzte, und dann: „Jetzt hab ich niemanden mehr.“
Marlen fuhr ihr zärtlich durchs Haar. „Oh du Dummerchen.(Komma) wiederholte sie. „Wenn sich jede gleich umbrächte, weil ihre Katze stirbt, wär die Welt bald leer, hm. Was geht bloß in deinem Kopf vor?“ Jäh umfingen sie Lenas Arme, nass, zerstochen und schutzsuchend. Später fand sie die Abdrücke ihrer dunklen Tränen auf der Bluse, die sie damals trug. Am Tag von Lenas Beisetzung waren sie zu Schatten verblasst, gingen aber nie mehr ganz heraus.
Und in diesem Moment, als sich Lena nackt und weinend an sie presste, geschah etwas Seltsames mit ihr. Erst empfand Marlen Abscheu vor den erbärmlichen Gefilden, die ihre beste Freundin gerade durchstreifte, und bereute ihn sofort. Dann kam ein Gedanke so hell und klar, dass er sie fast blendete: „Das niemals!“ (Komma) forderte er, rigoros und herrisch. „Niemals wirst du es soweit kommen lassen! Keine Droge, kein Mann, kein Irrsinn und keine Verzweiflung werden dich jemals dazu bringen, dein Leben fortzuwerfen, niemals!“
Ein Gefühl der Zuversicht breitete sich damals wie zur Bestätigung in ihr aus. Es begann mit einem tröstlichen Glühen tief unten am Rückenansatz, das sich Nerv für Nerv emporarbeitete und auf diesem Weg zu einem Buschbrand wurde, der auf Arme und Beine übersprang und in ihrer Brust ein Feuer der Hoffnung entzündete, trotz allem.
Vergessen ist das Problem, dachte sie plötzlich, Springen der Therapeut und Erinnerung so schön.
Sie stand wieder auf der Brücke und – zurück – war nicht nur mehr ein Wort, sondern eine Möglichkeit…


LG,
Constantine
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Tom Erde
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T
Beitrag05.03.2014 13:38

von Tom Erde
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Hallo Constantine,

vielen Dank, dass du meinen Text gelesen, und dass du dir die Mühe gemacht hast, ihn im Detail zu kommentieren.

Deine Einwände sind allesamt wohl begründet und über einige Anmerkungen habe ich selbst längere Zeit gegrübelt, ob ich es nun so oder so machen soll.

Hier scheiden sich unsere Geister. Wie ich schon bei anderen Gelegenheiten ausgeführt habe, ist es einfach so, dass der hoffnungslosen Raumpflegerin in Berlin jenes, dem gut situierten Banker in Frankfurt dieses, und der alleinerziehenden Mutter in Neu-Köln ein weiter Punkt missfällt. Kein Autor ist imstande, es allen recht zu machen. Die Dinge, die du zum Beispiel als überflüssiges Füllmaterial oder als zu dick aufgetragen beanstandest, schätzen andere möglicherweise gerade als das, was die Geschichte lesenswert macht. Du würdest einem Maler wahrscheinlich auch nicht vorschlagen, diese oder jene Wolke an seinem Sommerhimmel-Gemälde wegzulassen, weil er nicht deiner Vorstellung von einem perfekt dargestellten Sommerhimmel entspricht, da jeder Menschen eine eigene Version von einem perfekten Himmel in sich trägt. Das ist halt eine Sache von Sozialisation, Auffassung und Geschmack.

Irgendwann muss sich ein Autor auf einen bestimmten Stil einlassen und an ihm festhalten, sonst verliert er sich selbst.

Nichtsdestotrotz hast du geschrieben, dass du die kleine Geschichte gerne gelesen hast. Was mich natürlich freut.

Mir ging es hier hauptsächlich darum, aufzuzeigen, dass unsere Erinnerung imstande ist, uns aus den Tiefen der Verzweiflung zu holen, wenn wir es zulassen. Schließlich verfügt fast jeder über schöne und bewegende Erinnerungen, die Hoffnung machen, die Kraft haben, die zeigen, dass das Leben immer für eine überraschende Wandlung gut ist.

Liebe Grüße

Tom Erde


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