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Kanelbolle Leseratte
Alter: 25 Beiträge: 186 Wohnort: Münster
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24.11.2013 22:41 Ende (Außer Konkurrenz) von Kanelbolle
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Sein Herz schlug. Der Wind wehte ihm um die Ohren und der Schoß seines Mantels flatterte willenlos hin und her, wand sich in kalten Böen und wärmte nicht mehr. Fröstelnd schlug er den Kragen hoch und ging einen Schritt weiter, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Der Herbst auf dieser Seite des Spiegels war trist und düster, die Kälte allgegenwärtig. Schon Anfang Oktober hatte das Laub die Kronen der Bäume verlassen und klebte schmutzig auf den Straßen der Hauptstadt, die nicht trostloser hätte wirken können.
Seit Jahren wünschte sich der Mann zurück in die alte Welt, zurück auf die andere Seite des Taschen-spiegels. Er sehnte sich nach goldenen Oktobern und sonnigen Sommern, nach alten Autos und grünen Parks. Und Häusern, die nicht aus Stahl und Beton gebaut waren.
Mit zitternden Fingern tastete er nach der vergoldeten Kapsel in seiner Manteltasche, das Weih-nachtsgeschenk, dass seine Ehefrau vor drei Jahren hatte bekommen sollen. Der Mann hütete den Taschenspiegel wie seinen Augapfel, war er doch die einzige Verbindung zur andere Welt. Auf dieser Seite schauten die Menschen schon lange nicht mehr in ein Stück präpariertes Glas, um einen Ein-druck ihrer äußeren Verfassung zu erlangen, längst hatte man eine billige, digitale Variante entwi-ckelt und den Spiegel für zwecklos erklärt.
Vorsichtig öffnete er das Oval in seinen Händen und betrachtete das Geschehen hinter der Scheibe, hätte zu gerne mit der Hand durch das Glas gegriffen und seiner Frau über die Haare gestrichen. Sie lag im Bett, wandte ihm den Rücken zu. Ihre Schultern hoben und senkten sich gleichmäßig, ein be-haarter Unterarm lag über ihrer Hüfte.
Mit Tränen in den Augen dachte der Mann zurück an die Zeit, als seine Wenigkeit mit ihr das Bett geteilt hatte. Es waren die Jahre vor dem Unglück gewesen, die wunderbarsten seines Lebens. Der Zeitraum, bevor ihn der Taschenspiegel in eine Welt von alternativer Realität gebracht hatte.
Der Mann schloss die Augen. Der Fremde in ihrem Bett war gestern Morgen zum ersten Mal im Spiegel gewesen, ein großgewachsener Kerl, der seine Frau nicht verdient hatte. Die Pranken behandelten sie wie ein Stück Holz, lieblos und grobschlächtig.
Metaphorisch war sein Herz gebrochen, doch in Wirklichkeit schlug es immer schneller. Der Mann wusste, dass er nie wieder würde zurückkehren können, dass seine Frau ihn vergessen und einen anderen geliebt hatte.
Er ließ den Spiegel zuschnappen und hob den Arm, einen Augenblick später verschwand das verhasste Oval in der Tiefe.
Jetzt gibt es nichts mehr in dieser gottverdammten Stadt, dass mich aufhält.
Der Mann schob seinen Fuß nach vorne und lauschte dem Knirschen seiner Sohle auf dem Beton, überbrückte die letzten Zentimeter zur Kante.
Er schluckte trocken, Schweiß trat auf seine Stirn. Dann spürte er seinen Kopf kippen, fühlte das Nachgeben seiner Kniegelenke und den Sog der Schwerkraft, der Besitz von seiner Masse ergriff. Rauschend flogen die erleuchteten Etagen des Wolkenkratzers an ihm vorbei, wirr umschlang der Mantel seinen Oberkörper.
Nichts mehr, das mich aufhält.
Er hörte die Schreie der Passanten nicht mehr , auch nicht den Aufprall. Sein Herz schlug nicht mehr.
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Einar Inperson Reißwolf
Beiträge: 1675 Wohnort: Auf dem Narrenschiff
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11.12.2013 22:17
von Einar Inperson
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Ein Text, mit einer der besten Schlussszenen im gesamten Wettbewerb.
Hat mir sehr gut gefallen. 7 Federn
_________________ Traurige Grüße und ein Schmunzeln im Knopfloch
Zitat: "Ich habe nichts zu sagen, deshalb schreibe ich, weil ich nicht malen kann"
Einar Inperson in Anlehnung an Aris Kalaizis
si tu n'es pas là, je ne suis plus le même
"Ehrfurcht vor dem Leben" Albert Schweitzer |
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Kanelbolle Leseratte
Alter: 25 Beiträge: 186 Wohnort: Münster
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14.12.2013 19:51
von Kanelbolle
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Einar Inperson hat Folgendes geschrieben: | Ein Text, mit einer der besten Schlussszenen im gesamten Wettbewerb.
Hat mir sehr gut gefallen. 7 Federn |
7 Federn, das freut mich riesig, danke!
Mich ärgert gerade am meisten, dass ich die automatische Silbentrennung bei Word aktiviert hatte und den Text einfach in hierher kopiert hab...
Und natürlich dass ich WeihNACHTen benutzt habe...
_________________ It will know that hate will die and love will win.
So go forth, heroes!
Peace on earth and good will to all
who make it divine and so real.
Chet Baker & Herbie Hancock "Fair Weather" |
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