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Creature


 
 
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Christian Svensson
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 64
Beiträge: 24
Wohnort: Schwerin


Beitrag06.11.2013 23:14
Creature
von Christian Svensson
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Realitätsverlust bezeichnet die Unfähigkeit eines Menschen, das eigene Handeln mit der Objektivität der realen Welt und der Denkweise seines Umfeldes in Einklang zu bringen.
Auslöser können traumatisierende Erlebnisse, Schock, Drogenmissbrauch, aber auch der Beginn schwerer psychischer Erkrankungen wie Schizophrenie und organische Psychose sein. Auch Gefangenschaft in gleichbleibender Dunkelheit, bestimmte Stoffwechselstörungen, Flüssigkeitsmangel oder allmähliches Verhungern bewirken unter anderem Realitätsverlust.
Aus der Wikipedia, 2013



»Du solltest dir dringend eine Auszeit nehmen!« Dieter Arsen schaute auf mich herab. Aus zwei Metern Höhe und mit tiefer Stimme gesprochen, trafen mich seine Worte wie ein Hammer. Was ging ihn das an? Er war ein Kollege und die Tatsache, dass wir vor ein paar Tagen ein Bier zusammen getrunken hatten, gab ihm noch lange nicht das Recht, Mutterstelle an mir zu vertreten.
»Stimmt etwas nicht mit meinem Lehrgang?« Ich wollte an ihm vorbei zu meinem Wagen, doch er hielt mich am Arm fest und schaute mir in die Augen.
»Nein, und das weißt du auch selbst. Ich meine es nur gut mit dir. Du bist völlig überarbeitet und wirkst ständig, als würde dich irgendetwas hetzen.«
Das fehlte mir jetzt. Ein fünfzigjähriger Kahlkopf mit Hornbrille, der sich um mich sorgte. Wahrscheinlich wollte er nur meinen nächsten Lehrgang haben. Als selbständiger Dozent ist jeder Kollege ein Konkurrent und diese Konkurrenz tarnt sich mit den seltsamsten Methoden. Er fürchtete doch nur um seine Lehrstelle, die er garantiert bald verlor, wenn ich meine Arbeit weiter so gut machte. Wortlos riss ich meinen Arm aus seinem Griff und ließ ihn im Gang stehen.
Während der Fahrt von Dortmund nach Schwerin auf der nächtlichen Autobahn führte ich eine angeregte Unterhaltung mit meinem Beifahrer. Tiefgründig, über Freud und Leid des Dozentenlebens und neidische Kollegen. Endlich jemand, der damit umgehen konnte, wenn ich mich so richtig verbal auskotzte. Als ich in Bandenitz von der A24 abbog und das gelbe Licht der Straßenlaternen über den Platz neben mir huschte, sah ich nur Schatten, wo mein Gesprächspartner hätte sitzen müssen.
Ich fuhr nervlich und körperlich am Limit. Eine Sitzung bei einem Psychologen wäre die erste Wahl. Aber ich wusste, was er mir sagen würde und das wollte ich unter keinen Umständen hören. Ein Psychologe weiß nicht, wie das Leben auf der Überholspur ist, mit zu wenig Schlaf, mit der Annahme jeder Herausforderung, nicht über das Leben nachdenken, nur handeln. Gegen diese Droge ist noch kein Heilmittel erfunden worden.
Also kein Seelenklempner, sondern eine Wochenendauszeit an der Ostsee. Das sollte noch in meinen aus allen Nähten platzenden Terminkalender passen. Einige Stunden schlafen, dann siebzig Kilometer bis zur Küste. Einsamkeit, Natur und Meer würden mich wieder fit machen. Dachte ich und ich dachte falsch.
Der Rest der Donnerstagnacht bestand aus schlaflosem Herumwälzen in meinem Bett mit überreizten Nerven in einem Kopf, der nicht mehr abschalten konnte. Freitagvormittag erledigte ich die Büroarbeit und am Nachmittag packte ich meinen Rucksack. Kurz darauf warf ich ihn ins Auto und machte mich auf den Weg zum Meer.
Börgerende-Rethwisch ist ein kleiner Küstenort an der Ostsee, ziemlich genau in der Mitte zwischen Warnemünde und Heiligendamm liegend. Wenige Häuser, eine Verbindungsstraße, die am Deich entlang läuft, und ein Campingplatz. Wer nahe der Stadt Rostock, aber doch in Ruhe einen naturverbundenen Urlaub machen will, ist an diesem Platz immer gut aufgehoben. In den neunziger Jahren genoss ich hier des Öfteren die Stille und den Frieden der Natur, abseits vom Trubel der Großstadt. Auch das neue Jahrtausend änderte daran nicht viel und ich freute mich auf zwei ruhige Tage an der herbstlichen See.
Die Sonne versank bereits im Wasser, als ich meinen Wagen einige hundert Meter entfernt vom Strand parkte. Ab hier ging ich zu Fuß weiter und steckte fünf Minuten später den Bartschlüssel in die Tür der alten Fischerkate. Ich hatte sie schon einige Zeit nicht mehr betreten und der Rost hatte die Chance genutzt, sich in das Eisen des Schlosses zu fressen. Ich musste kräftig drücken, und als es endlich quietschend nachgab, wäre ich fast in die winzige Diele gestolpert. Nichts hatte sich verändert in der fast schon baufälligen Fischerhütte. Staub rieselte von der Decke auf meinen Anorak und Spinnweben dekorierten den Korridor und die niedrige Stube. Alles stand und lag noch so, wie ich es vor einigen Monaten verlassen hatte.
Ich warf einen Blick auf das Handydisplay, bevor ich es ausschaltete, und las eine Sturmwarnung für heute Nacht. Etwas tief in mir jauchzte vor Freude. Nichts mehr über abstürzende Server, verseuchte Mails und Programme, die nicht das machten, was sie sollten. Salziges Wasser, das in unzähmbaren Wellen den Strand hinauflief und Wind, der mich umwarf, wenn ich nicht aufpasste. Saubere Luft, wie es sie nur hier gibt und die mit jedem Atemzug die Lunge reinigt. Nur ich, der Mensch und die Natur.
Die regenschweren Wolken am Himmel nahmen langsam Fahrt auf und erste Böen pfiffen im Schilfdach, als ich in Richtung Wasser lief. Ich rannte mit ausgebreiteten Armen die Dünen hinunter und tobte in die Brandung hinein wie ein Kind. Die Herbsturlauber waren vor dem herannahenden Sturm geflohen und so gehörte mir der Strand allein. Der Wind stemmte sich mir entgegen, aber ich lachte ihn aus, während ich durch den Sand trabte und mit tiefen Atemzügen die salzige Meeresluft einsog. Ich schrie das Leben hinaus in den Wind und fühlte mich wie ein nackter Gott.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als ich meinen Anorak wieder an den Haken im Korridor meines Hauses hängte. Müde vom Lauf gegen den immer mehr zunehmenden Sturm und nass von der Gischt. Erschöpft, aber bis zum Bersten gefüllt mit Endorphinen. Eine heiße Dusche und zwei Heringe mit Bratkartoffeln später saß ich in einem Sessel und hatte Melvilles »Moby Dick« auf den Knien. Doch ich las nicht.
Der Wind draußen frischte immer mehr auf und ich machte mir Sorgen um das alte Haus. Schon vor Jahren hätte ich es dringend renovieren müssen und ich war mir nicht sicher, ob das verrottete Schilfdach diesen Herbst noch überleben würde. Die alten Leitungsdrähte des Blitzableiters hatte der Rost zerfressen und die letzten Gewitter mochte die Hütte nur überlebt haben, weil sie nicht höher als die Dünen war.
Einen Moment dachte ich darüber nach, die hölzernen Fensterläden zu schließen, aber ich wollte mich nicht eingesperrt fühlen und ich ließ sie in ihren Verriegelungen weiter gegen die Wand klappern. So ähnlich musste es geklungen haben, wenn Kapitän Ahab mit seinem Holzbein über die Decksplanken der Pequod hinkte. „Klack, klack,…, klack, klack …
Ich versenkte meine Augen nun doch in das alte Buch. Welches Monster mochte in dem Mann verborgen gewesen sein, dass ihn zwang, sein Leben und das der Besatzung der Jagd nach einem Pottwal zu opfern?
Ich erwachte, als das grelle Licht einer elektrischen Entladung wie Dolche durch meine geschlossenen Augenlider stach. Nur eine Sekunde später hämmerte ein Donnerschlag auf meine Trommelfelle und ich riss erschrocken die Augen auf, aber ich sah nur Finsternis. Dann hatte es also entweder die Sicherung entschärft oder der Blitz hatte in die Überlandleitung eingeschlagen. Der Herbststurm draußen mauserte sich zu einem brüllenden Orkan und ich spürte am Beben des Hauses, mit welcher brutalen Gewalt er das Wasser der Ostsee gegen die Felsen am Strand schmetterte. Jeder Brecher pflanzte sich als Vibration bis in die wurmstichigen Balken über mir fort und ließ Staub und altes Schilf aus dem Gebälk rieseln. Die hölzernen Fensterläden schlugen dazu bei jeder Böe einen kakophonischen Takt an die Hauswand.
Mir wurde mir mulmig im Magen und mit zitternden Händen tastete ich im Raum nach meinem Feuerzeug und einer Kerze umher. Als ich beides fand, flüchtete ich mich wieder in meinen Lieblingssessel, schlang mir eine Decke um die Schultern und wartete zusammengekrümmt darauf, dass der Orkan weiterzog.
Die Finsternis der Mitternacht drückte gegen die Butzenscheiben der Wohnstube und sickerte hinein, als wäre sie ein böser Geist. Die kleine Flamme auf dem Sideboard neben mir schuf eine winzige Insel aus schummriger Helligkeit. Jeder Luftzug durch die undichten Fenstern ließ die Kerze flackern und erweckte dunkle Schatten an der Wand zum Leben. Als wollte er mich verhöhnen, gewann der Sturm immer mehr an Stärke und hämmerte jetzt Monsterwelle auf Monsterwelle gegen den Strand und gegen mein Haus. Jeden Einschlag spürte ich in meinen Knochen. Vor den Fenstern wütete die Natur mit der Gewalt eines zornigen Gottes. Furcht kroch mir den Rücken hinauf wie kalter Schleim.
Wo waren die ganzen Endorphine hin, die mich noch vor Kurzem so glücklich gemacht hatten? Wo war die ganze Kraft, die mich am Strand dem Sturm trotzen ließ? Ich war nur noch ein Gefäß, bis zum Rand gefüllt mit Angst. Klein und verloren saß ich in meiner Insel aus flackerndem Licht, während ein Monster an Türen und Fenstern rüttelte. Es kam, um mich zu holen. Ich wusste, dass nicht der Sturm mich töten würde, sondern meine eigene Furcht.
Es ging zu Ende. Mein Lebensakku hatte unten am Strand noch einmal eine kurze Ladung erhalten, aber jetzt war es vorbei. Ich wusste schon seit vielen Wochen, dass mein Unterbewusstsein mit allem was es hatte, gegen die schwarzen Wände der Depression kämpfte. Tag für Tag rückten sie ein Stück näher und nun verengten sie sich sosehr, dass eine Umkehr unmöglich wurde. Ich stand am Ende des Tunnels und meine Reise durch das Leben würde hier ihren Abschluss finden. Vielleicht musste ich es nicht selbst tun und der Orkan würde es mir abnehmen. Ein Dachsparren, der unter der Last brach und mich erschlug oder eine Wand, die einstürzte und mich unter sich begrub. Alles wäre vorbei und ich müsste nicht mehr denken, könnte nach Hause gehen in die wohlige Wärme des Vergessens. Was auch immer dort draußen tobte, es konnte mich haben, jetzt und hier.
Wissen stieg empor aus den Tiefen meiner Seele. Wissen, das ich nicht haben dürfte. In mir antwortete etwas auf meinen Todeswunsch und auf das Brüllen des Sturms. Es war zornig und es bleckte die Zähne.
Jeden Aufprall der Wellen auf den Strand wiederholte es mit einem Schlag meines Herzens. Ein Monster grüßte das andere. Es war erwacht und fegte meine Verzweiflung hinweg, als sei sie ein Nichts. Viele Jahrtausende alt, bäumte es sich auf gegen das Wüten der Natur in mir und ihre Urgewalt draußen vor der Tür. Geschaffen, es mit den Mächten des Universums aufzunehmen, hatte es genau auf diesen Moment gewartet, in dem ich mich nicht mehr wehren konnte.
Schweiß perlte auf meiner Stirn, aber er rührte nicht von der Angst und die Wärme meiner Muskeln kam nicht von einer Bewegung. Jemand hatte auf den Startknopf des Golems gedrückt und er erwachte aus langem Schlaf.
Achtlos rutschte die Decke von meinen Schultern, als ich mich mit der Geschmeidigkeit eines Tigers aus dem Sessel erhob. Der schleichende Gang, mit dem ich mich zum Fenster bewegte, war nicht meiner. Geduckt und sprungbereit schaute ich hinaus in das Chaos der Elemente und spürte keine Furcht mehr. Die wirbelnde Schwärze da draußen war nicht mehr fremd und angsteinflößend, sondern nur noch kalt und vertraut. Was auch immer dort lauerte, ich war ihm schon einmal begegnet, vor tausenden Jahren. Ich horchte in mich hinein, denn das waren nicht meine Gedanken, und ohne dass ich es wollte, flüsterte ich mit zitternden Lippen ein Wort:
»Bruder«.
Die Antwort kam erwartet unerwartet und es war wie selbstverständlich, dass ich sie nur als Echo in meinem Kopf hörte.
„Ich bin da und werde es immer sein.“
Diese Stimme hatte mich begleitet, mein Leben lang.
»Warum?«, fragte ich und nicht weit entfernt schlägt ein Blitz in den Boden.
»Du hast Angst vor dem Werwolf im nächtlichen Wald, obwohl du weißt, dass er nur in der Legende, existiert. Die leuchtenden Augen im dunklen Keller erschrecken dich zu Tode, gleichwohl du sicher bist, dass es nur eine Katze ist. Du würdest in einer finsteren Nacht nicht über einen Friedhof wandern, weil du dich vor Untoten fürchtest.
Tust du es doch, so bringe ich dein Herz zum Hämmern, pumpe Adrenalin in dein Blut und mache dich bereit zum Kampf auf Leben und Tod. Töte und du überlebst - nichts anderes zählt für mich. Du wirst dich fortpflanzen, deine Gene weitergeben und deine Art erhalten. Dafür wurde ich geschaffen.“

Kalt und emotionslos klingt das Echo der Worte in mir.
„Ich bin der, der dich überleben lässt, wo andere scheitern. Ich bin das Danaergeschenk der Natur an deine Rasse. Ich bin die mächtigste Waffe, die je erfunden wurde, aber du hast vergessen, wie du mich gebrauchen kannst. Ihr alle habt vergessen, mich an eure so intelligente Welt anzupassen.«
»Wer bist du?«, frage ich wieder und es weiß, dass ich seinen Namen will, genauso wie es weiß, dass ich die Antwort längst kenne.
»Ich bin dein dunkler Bruder. Ihr Menschen habt mir viele Namen gegeben, doch für euch bin ich nur die Legende einer finsteren Vergangenheit und so lehrt dich niemand mehr, mich zu respektieren. Aber ich werde immer ein Teil von dir sein und du tätest besser daran, das zu akzeptieren, denn ich kann dich retten. Aber ich bin auch gefährlich, und wenn du mich nicht beherrschst, kann ich dich töten. Ich kann jeden töten. Es ist deine Entscheidung.
Ich bin älter als deine Rasse, und wenn ein Kind gezeugt wird in dieser Welt, werde auch ich als sein Bruder wiedergeboren. Ich diene und beschütze das junge Leben in den ersten Jahren, wenn es noch nicht denken kann und hilflos ist. Wie auch dich. Doch je älter du wurdest, umso stärker hast du meine Ketten geschmiedet. Der Tag, an dem du als Erwachsener die Theaterbühne dieser Welt betreten hast, war auch der Moment, an dem deine Eltern, Freunde, Verwandte und die Gesellschaft aus den Ketten in dir einen Kerker gemauert haben und du hast es zugelassen. Ein Verlies, das so dunkel und finster ist, dass du nicht mehr hineinschauen willst.«

»Aber ich bin doch frei! Ich trage keine Ketten!«
Wie einen Schrei denke ich diese Worte und ein spöttisches Flüstern ist die Antwort.
»Oh nein. Du selbst hast mich gebunden. Jede deiner Ketten trägt einen Namen, eingebrannt mit dem heiligen Feuer der Moral. Da gibt es die ‚das tut man nicht‘- Kette, dann gibt es die ‚was sollen deine Freunde denken‘- Kette und ganz eng um deinen Hals liegt die ‚schäm dich‘- Kette.
Du hast als Kind gelernt, dass das, was dort drinnen lauert, schmutzig ist, ekelhaft, und niemals ans Tageslicht darf. ‚Teufelswerk‘ und ‚Sünde‘ nannten es die Menschen früher. Heute nennst du es ‚unmoralisch‘ und ‚egozentrisch‘ oder ‚abartig‘. So ist dir nur eine dunkle Ahnung geblieben von der Macht und der Lust, die ich dir schenken kann, bis heute.
Ihr beschreibt mich in Büchern, nennt mich ‚Das Tier‘ oder ‚Mr. Hyde‘ und findet es aufregend. Irgendwann klappt ihr das Buch zu, denn es betrifft euch ja nicht. Schaust du in den Spiegel, erblickst du mich nicht mehr, denn du siehst nur noch das, was du sehen willst. Du brauchst das, um dein Leben dir und anderen erträglich zu machen. Aber du irrst, denn ich bin noch immer da und warte auf meine Zeit. »

Hatte ich mich erkältet und jetzt Fieber? Ein gläserner Zentimeter bewahrte mein Gesicht vor dem Inferno der wütenden Naturgewalt draußen, doch nichts schützte mich vor dem Horror, den ich in meiner Seele erblickte. Aber warum hatte ich keine Angst mehr?
»Weil du mich wieder erkannt hast, auch wenn du mir nicht glaubst. Es würde dein geordnetes Selbstbild zerstören, müsstest du annehmen, dass da etwas in dir ist, was du nicht kontrollieren kannst. Etwas, das ‚anders‘ ist. Warum ändert ihr euch, wenn ihr trinkt oder Drogen nehmt? Warum entscheidet der Geruch darüber, mit wem ihr euch fortpflanzt? Du weißt, dass es mich gibt. Befreie mich von meinen Ketten und ich gebe dir Macht und Lust, jenseits dessen, was du dir vorstellen kannst!«
Ein lauter Donnerschlag folgte diesem Satz und ich war mir nicht sicher, ob es das tobende Gewitter war. Ich schrie gegen die Fensterscheibe:
»Ich kann nicht!«
Das Etwas in mir antwortete und es benutzte dabei meine Nervenbahnen wie ein Instrument, peitschte sie zu orgiastischer Lust.
»Doch, du kannst. Wenn du es willst. Lass mich frei und ich rette dich!«Meine Widerstandskraft erlosch. Sah so mein persönlicher Wahnsinn aus? Eine Stimme im Kopf, die Wahrheiten erzählt, die ich nicht wissen will? Ängste, die Lust erzeugen? Ich schloss die Augen und wusste, dass ich sie nie wieder öffnen wollte. Stille in der Dunkelheit. Der Sturm hielt den Atem an wie ein sprungbereites Tier. Und dann stieg es empor, gnadenlos, unwiderstehlich, mächtig. Irrationale Angst raubte mir den Atem.
»SIEH MICH AN!«,
donnerte der Befehl in meinem Kopf mit unmenschlicher Brutalität – und ich tat es.
Ich nässte mich ein vor Entsetzen, jagte panisch zur Haustür und sprang mit einem riesigen Satz in den Rachen der Finsternis. Nur ein Gedanke – weg von hier! Gleißend hell raste ein Blitz in das Retdach meines Hauses und dem schmetternden Krachen folgte eine Sturmböe, die mich von den Füßen riss.
Das Dach fing sofort Feuer und Sekunden später fraß eine Feuersbrunst meine letzte Zuflucht vor dem Wahnsinn. Fünfzig Meter schaffte ich noch, bevor ich zusammenbrach.
Es dauerte nur Minuten, bis ich wieder zu mir kam. Mir war nichts passiert. Frische Unterwäsche hatte ich im Wagen, ein frischer Kopf wäre mir lieber gewesen. Ich hätte doch einen Psychologen aufsuchen sollen. Das Feuer erleuchtete mir den Weg zu meinem Auto und ich dachte, vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit, darüber nach, was in meinem Leben nicht stimmte.
Meine Kollegen respektierten mich, die Lehrgangsteilnehmer machten wenig Probleme und ich war stets auf der Höhe der Zeit mit meinem Wissen. Zugegeben, jeden Freitagabend von Dortmund nach Schwerin zu fahren und am Sonntagabend die gleiche Strecke wieder zurück, bedeutete Stress. Privatleben fand in der Woche nur in Bars oder im Internet statt und Freunde waren Mangelware. Aber es ging mir doch gut, oder?
Ich reinigte mich, wechselte die Sachen und unterhielt mich noch mit den Leuten von der Feuerwehr. Sie hatten keine Chance gehabt, das Haus zu retten und ich hatte es auch nicht erwartet. Den Schlüssel in der Hand saß ich im Auto und wollte zurück nach Schwerin fahren, aber ein Gedanke hinderte mich daran. Der Tag begann und bald würde die Sonne aufgehen.
Ich stieg wieder aus, klappte die Autotür hinter mir zu und saß wenige Minuten später auf meinem Lieblingsstein am Strand von Börgerende und wartete.
Der Sturm war weiter gezogen. Nur die Wellen rollten noch heftig an den Strand und nässten mir die Füße. Es störte mich nicht. Ein sanftes, rotes Glühen kündigte den neuen Tag an und die Vögel begannen zu zwitschern. Dann zeigten sich das erste Gleißen am Horizont, das Meer rötete sich und langsam, aber unaufhaltsam stieg der Feuerball aus dem Wasser. Mit jeder Minute nahm seine Kraft zu, und als die Sonne sich in ihrer Pracht über dem Meer spiegelte und ihre Strahlen liebevoll mein Gesicht wärmten, wusste ich, was ich tun musste. Es war noch nicht zu spät für mich.

Ein vorwitziger Sonnenstrahl wollte mich wach kitzeln, aber ich kniff nur meine Augen zu. Ich hatte mir spätes Aufstehen verdient. Erst der Sturm am Meer und dann hatte ich auch noch geträumt, mein Haus sei abgebrannt. Ich sollte mir mehr Ruhe gönnen. Am besten ich, ich begann sofort damit und schlief noch zwei Stunden. Ich drehte mich zur anderen Seite und zog die Decke höher. Es reichte, wenn ich heute Abend in Schwerin ankam. Von meiner Hütte am Strand bis nach Hause fuhr ich mit dem Wagen nur eine Stunde. Ich würde bis Mittag im Bett bleiben und danach einen schönen Strandspaziergang machen, daran konnten mich auch die Schritte in der Stube nicht hindern. Schritte? In meiner Hütte?
Entsetzt richtete ich mich auf - um sofort wieder zurückzusinken. Der Schmerz in meinem Gesicht war unbeschreiblich, aber noch schlimmer waren die freundlichen Worte, die jetzt an mein Ohr drangen.
»Na, Herr Svensson, ein bisschen Geduld müssen sie schon haben. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die Brandwunden einigermaßen verheilt sind. Sie haben unglaubliches Glück gehabt. Die Feuerwehr hat sie bewusstlos fünfzig Meter entfernt von der brennenden Fischerhütte gefunden. Keiner kann sich erklären, wie sie da noch rechtzeitig herausgekommen sind.«
Ich hatte nur ein entsetztes Stöhnen. Eine Erinnerung drängte sich in mein bewusstes Ich. Wie in Zeitlupe sah ich mich grundlos aus dem sicheren Haus in die Dunkelheit springen. Der Blitz hatte erst danach eingeschlagen.
Nur ich hörte das spöttische Lachen und die geflüsterte Frage: „Vertraust du mir jetzt?“


(C) RHCSo 2013

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anuphti
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Beitrag07.11.2013 00:10

von anuphti
Antworten mit Zitat

Hallo Christian Svensson,

erst einmal herzlich willkommen im dsfo!

Ich bin jetzt nicht unbedingt der "Horror-Leser" und Deine Kurzgeschichte ist für eine "Textprobe" ziemlich lang, deshalb jetzt nur ein paar Kurzkommentare von mir.

Insgesamt finde ich, dass Du routiniert schreibst, an manchen Stellen bin ich mir nicht ganz sicher, wie oft Du Textstellen verändert hast.

Zum Beispiel, als er mit Anorak in die Brandung springt und später "von der Gischt nass" ist.

Entweder, er hat in irgendeiner Version gebadet und Du hast schlampig überarbeitet, oder Du verwendest den Begriff Brandung falsch (?) oder Du hast vergessen zu schreiben, dass er sich zwischendurch auszieht ...

Reetdach wird mit zwei "e" geschrieben, bei der sonst auffällig guten Rechtschreibung vermute ich fast, dass Du nicht weißt, wie Reet geschrieben wird?
Außerdem pfeift kein Wind in einem Reetdach.

Der Begriff "Monster" wird für meinen Geschmack zu oft verwendet.

Und dann stolpere ich über den Sonnenaufgang, der im Herbst in Börgerende sicher nicht im Wasser statt finden kann, weil sich im Osten Land befindet.

Ganz zum Schluss noch ein Druckfehler "hatte" anstatt vermutlich "hörte" (?)

Alles in allem, wie gesagt routiniert geschrieben, aber es hat mich nicht wirklich gepackt. Vor allem mein Eindruck, das Du von etwas schreibst, dass Du nicht perfekt kennst, hat mich irritiert.

Liebe Grüße
Nuff


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Christian Svensson
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Beitrag07.11.2013 00:28
Das ist ein Hammer
von Christian Svensson
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Zitat:
Und dann stolpere ich über den Sonnenaufgang, der im Herbst in Börgerende sicher nicht im Wasser statt finden kann, weil sich im Osten Land befindet.


Denn du hast recht!

Über das Pfeifen des Windes in einem Reetdach würde ich mich streiten, aber darum geht es nicht. Sondern darum, das dann das Bild offenbar nicht stimmt - also muß darüber und die anderen angesprochenen Dinge nachdenken.

Ich bin erstaunt, naja, eigentlich entsetzt, wieviel du bei kurzem Durchsehen gefunden hast. Aber genau dafür bin ich hier. Also darum ganz herzlichen Dank - klasse Hilfe.

Übrigens hast du mir ein Kompliment gemacht - ich schreibe seit zwei Jahren "so vor mich hin", lese zwar sehr viel über das Schreiben, aber dass das jemand als "routiniert" bezeichnet, ist ein Hoffnungsschimmer Smile
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BirgitJ
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Beitrag07.11.2013 17:17

von BirgitJ
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Moin Herr Svensson,
mir hat die Sprache der Geschichte gefallen. Die ist scharf und stellenweise witzig - das macht den Horror erträglich, denn normalerweise ist das nicht mein Genre.
Zitat:
Er fürchtete doch nur um seine Lehrstelle,

Lehrstelle scheint mir an der Stelle das falsche Wort zu sein, es unterhalten sich doch zwei Dozenten.


Zitat:
Der Herbststurm draußen mauserte sich zu einem brüllenden Orkan und ich spürte am Beben des Hauses, mit welcher brutalen Gewalt er das Wasser der Ostsee gegen die Felsen am Strand schmetterte.

Ich denke, da vermischst du zwei Sachen, die so nicht zusammen passen. Am Beben des Hauses kann man nur spüren, was der Sturm mit dem Haus macht. Was der Sturm am Strand anrichtet, kann dein Erzähler sich nur vorstellen und dann müsstest du den letzten Halbsatz anders formulieren.

Das sind aber nur Kleinigkeiten.
Gruß BirgitJ
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Christian Svensson
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Beitrag07.11.2013 21:31
Danke Dir
von Christian Svensson
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für die zwei Hinweise. Ich denke, du liegst richtig.

Die Geschichte ist ja kein Horror im klassischen Sinne, eher in Richtung Psycho.

LG Ch.
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gold
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Beitrag07.11.2013 22:17

von gold
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..... viel zu lang, wer soll das lesen???!!!

Gruß gold


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Christian Svensson
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Beitrag07.11.2013 22:39
hm
von Christian Svensson
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das ist eine Frage, die müssen andere beantworten. Mir ist auch nicht bekannt, dass hier ein Limit besteht. Ich sterbe nicht davon, wenn es Menschen gibt, für die diese Geschichte zu lang ist.
Hättest du geschrieben, sie ist lang-weilig, wäre das eine nachdenkenswerte Kritik gewesen. "Sie ist zu lang" scheint mir da eher etwas - unsachlich?
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gold
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Beitrag07.11.2013 23:01
Re: hm
von gold
Antworten mit Zitat

Christian Svensson hat Folgendes geschrieben:
das ist eine Frage, die müssen andere beantworten. Mir ist auch nicht bekannt, dass hier ein Limit besteht. Ich sterbe nicht davon, wenn es Menschen gibt, für die diese Geschichte zu lang ist.Hättest du geschrieben, sie ist lang-weilig, wäre das eine nachdenkenswerte Kritik gewesen. "Sie ist zu lang" scheint mir da eher etwas - unsachlich?


hallo Christian,

das mag unsachlich für dich sein; aber mein Aufruf ist aus einer Zeitnot heraus geboren. Ich hätte deinen Text wirklich sehr gern gelesen. Schade!
Lg gold

Edit:
Zitat:
Ich sterbe nicht davon, wenn es Menschen gibt, für die diese Geschichte zu lang ist. Rolling Eyes
Welch Glück!!!

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Beitrag07.11.2013 23:05

von kskreativ
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Es gibt tatsächlich ein Limit hier, finde gerade nur die Wortanzahl nicht. 2500? So in etwa. Tatsache ist, dass längere Texte am Bildschirm nun mal schlechter zu lesen sind, als auf Papier. Tatsache auch, dass viele erst mal nur in neu eingestellte Texte reinschnuppern, um zu gucken, ob sich ein längerer Aufenthalt plus Kommentar überhaupt lohnt. Dann kann es passieren, dass sie von der Textflut abgeschreckt werden. Abhilfe schafft da die Möglichkeit einen Text als Fortsetzung einzustellen.

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gold
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Beitrag07.11.2013 23:15

von gold
Antworten mit Zitat

danke, ks!!!

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Harald
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Beitrag07.11.2013 23:30

von Harald
Antworten mit Zitat

Der relavante Satz  über die Länge eines Beitrages in Prosa, egal ob Werkstatt, Feedback oder andere Bereiche —>

„Wir empfehlen einen Umfang von 500 bis 2000 Wörtern, weisen aber prophylaktisch darauf hin, dass sich kaum jemand die Mühe machen wird, einen Text zuende zu lesen, wenn er vor Fehlern nur so strotzt oder aus unterschiedlichen Gründen nicht fesselt oder überzeugt.“

Dieser Beitrag liegt bei 3366 Wörtern …

… und einige, wie auch ich, haben ihn trotzdem gelesen.

 Wink


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Liebe Grüße vom Dichter, Denker, Taxi- Lenker

Harald

Um ein Ziel zu erreichen ist nicht der letzte Schritt ausschlaggebend, sondern der erste!
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gold
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Beitrag08.11.2013 00:06

von gold
Antworten mit Zitat

Harald hat Folgendes geschrieben:



… und einige, wie auch ich, haben ihn trotzdem gelesen.

 Wink


OT: Glückwunsch!!!


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dürüm
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Beitrag08.11.2013 00:21

von dürüm
Antworten mit Zitat

Hallo Christian,

Dein Text ist lang, aber nachdem er gut geschrieben ist, sollte das kein Problem sein. Ich habe die Zeit nicht gestoppt, aber mehr als ein paar Minuten fürs Lesen habe ich sicher nicht gebraucht.

Und ich habe ihn ebenfalls zu Ende gelesen.
Inhaltliche Kritikpunkte decken sich mehr oder weniger mit anuphtis Kommentar.

Das es sich weniger um Horror, als um Psycho handelt, hast Du ja schon selbst gesagt.

Ich bin noch über die frische Unterwäsche im Auto gestolpert. Wieso hätte er seine Tasche im Auto lassen sollen, anstatt sie mit in die Hütte zu nehmen?

Und später ist da noch eine Szene, wo er die Autoschlüssel dabei hat, als er aus der Hütte heraus stürzt.
Das nehme ich ihm auch nicht ab. Macht sich in die Hose aus Panik, aber denkt daran, noch den Schlüssel einzustecken, bevor er raus läuft.

Ich glaube nämlich nicht, dass er es sich mit Schlüsselbund in der Hose gemütlich gemacht hat. Schlüssel legt man doch immer irgendwo hin beim Eingang.

Das waren noch ein paar weitere Stolperstellen, insgesamt fand ich die Geschichte flüssig zu lesen.

Herzlich willkommen im Forum, wegtreten Pfiffig Blinzeln und weiterschreiben.

Gruß
Kerem

PS @mein liebstes Goldstückchen smile in der Zeit, die Du für all diese Posts brauchst, hättest Du diese durchaus lohnenswerte Geschichte schon dreimal zu Ende gelesen Pfiffig Blinzeln


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Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.
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Der Willige wird vom Schicksal geführt. Der Störrische geschleift.
(Seneca)
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gold
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Beitrag08.11.2013 00:29

von gold
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Zitat:
Ich habe die Zeit nicht gestoppt, aber mehr als ein paar Minuten fürs Lesen habe ich sicher nicht gebraucht.


Ot: Auch dir herzlichen Glückwunsch, Dürüm (mein Lieblingsdürüm) zum schnell Checken!!! Vielleicht sollten wir mal einen Wettbewerb zu dieser Fähigkeit anregen!!!


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Gast







Beitrag08.11.2013 00:31

von Gast
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Guten Abend,

Langeweile hat sich bestimmt nicht eingestellt, beim Lesen dieser Geschichte, du hast bereits wertvolle Hinweise erhalten, wo und warum es evtl. "hakt".
"Horror" ist ein Genre, das ich so gut wie nie anklicke, ich wurde aufgrund deiner Vorstellung auf dem Roten Teppich auf dich aufmerksam.
Du selbst scheinst mit der Klassifizierung gar nicht so glücklich zu sein, vielleicht gab es ja keine "Sparte", die dem Text entspricht?

Zur Geschichte hätte ich folgende Anmerkung: Mir waren die "Erklärungen" des "Bruders" zu ausführlich. Es passt - finde ich - nicht wirklich zu seinem Wesen, sich so detailliert zu erklären. Weniger wäre auch insofern mehr, da es ja (so verstehe ich deine Intention) zweifelhaft bleiben soll, ob die Existenz dieses Un-Wesens in der Psyche deiner Figur ihren Ursprung hat oder "objektiv" besteht, für den Protagonisten ist das ein gewaltiger Unterschied, das Schlimme für ihn: Er ist mit seinem Problem allein, so ... oder so. Bedrückend. Eine Horror-Vorstellung Blink

Falls du eine Geschichte in einem anderen Genre einstellen wirst: Ich werde sie bestimmt lesen.

Es gibt eine "Fortsetzungs-Funktion", die es erlaubt, einen längeren Text zu "splitten", das kann auch den Vorteil haben, dass du erfährst, ob Leser von einem Einstieg so neugierig gemacht werden, dass sie den folgenden Teil einfordern ... smile

Willkommen und LG

Lorraine
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Christian Svensson
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Beitrag08.11.2013 10:52
Mir fehlt das passende Adjektiv
von Christian Svensson
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Mir fehlt das passende Adjektiv, um meinen momentanen Gemütszustand zu beschreiben Smile

Herzlichen Dank für die Zeit und die Mühe, die Ihr meinem Text geopfert habt. Soviel konstruktive Kritik macht mich verlegen. Ich habe nichts gelesen, was ich als "Gemecker" einstufen könnte, sondern fast alles sehe ich als berechtigt und damit helfend an.
Auch wenn es mir nicht wirklich schmeckt, was Ihr alles gefunden habt. Selbst die Bemerkung von Gold sehe ich mittlerweile als durchaus berechtigt an.
Ich weiß selbst, wieviel Mühe es macht, einen fremden Text zu prüfen und Zeit dafür zu opfern. Ich werde ein paar Tage zu tun haben Laughing

Wie sollte ich vorgehen, wenn ich der Meinung bin, fertig zu sein? Ist es üblich, das überarbeitete Produkt hier wieder einzustellen?

Nocheinmal - danke für Eure freundliche Hilfe.
Christian
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Zauberstift
Geschlecht:weiblichHonigkuchenpferd

Alter: 44
Beiträge: 389



Beitrag08.11.2013 10:57

von Zauberstift
Antworten mit Zitat

das ist ganz unterschiedlich, je nachdem was du mit dem Text vorhast. Manche überarbeiten, manchen reicht das feedback. Wenn du einen überarbeiteten Text einstellen willst, gibt es die Funktion 'neue Version'.
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Christian Svensson
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 64
Beiträge: 24
Wohnort: Schwerin


Beitrag09.11.2013 18:25
Mit tränenden Augen
von Christian Svensson
pdf-Datei Antworten mit Zitat

habe ich mich von gut fünfhundert Worten getrennt Sad ...

--------------------------------------------------------------------

Creature


Realitätsverlust bezeichnet die Unfähigkeit eines Menschen, das eigene Handeln mit der Objektivität der realen Welt und der Denkweise seines Umfeldes in Einklang zu bringen.
Auslöser können traumatisierende Erlebnisse, Schock, Drogenmissbrauch, aber auch der Beginn schwerer psychischer Erkrankungen wie Schizophrenie und organische Psychose sein. Auch Gefangenschaft in gleichbleibender Dunkelheit, bestimmte Stoffwechselstörungen, Flüssigkeitsmangel oder allmähliches Verhungern bewirken unter anderem Realitätsverlust.
Aus der Wikipedia, 2013



»Christian, du solltest dir dringend eine Auszeit nehmen!« Dieter Arsen schaute mich an und ich wollte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht deuten.
Ich wusste selbst, dass ich überarbeitet war, aber was ging ihn das an? Die Tatsache, dass wir ab und zu unter Kollegen ein Bier zusammen tranken und beide aus Schwerin kamen, gab ihm noch lange nicht das Recht, Vaterstelle an mir zu vertreten.
»Stimmt etwas nicht mit meinem Lehrgang?« Ich wollte an ihm vorbei zu meinem Wagen, doch er hielt mich am Arm fest und schaute mir in die Augen.
»Nein, und das weißt du auch selbst. Ich meine es nur gut mit dir. Du bist völlig überarbeitet und wirkst ständig, als würde dich irgendetwas hetzen.«
Ein fünfzigjähriger Kahlkopf mit Hornbrille, der sich um mich sorgte. Wahrscheinlich wollte er nur meinen nächsten Lehrgang haben. Als selbständiger Dozent ist jeder Kollege ein Konkurrent und diese Konkurrenz tarnt sich mit den seltsamsten Methoden. Er fürchtete doch nur um seine Dozentenstelle, die er bald verlor, wenn ich meine Arbeit weiter so gut machte. »Nein, alles ist gut. Ich werde mich am Wochenende ausschlafen. Mehr ist nicht!« Ich blickte demonstrativ auf seine Hand, mit der er mich festhielt.
Er nahm die Hand von meinem Arm, aber nur, um mir seine Visitenkarte zu reichen. »Ich bin das Wochenende zu Hause in Schwerin. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ruf mich an.«
 Wortlos steckte ich die Karte in meine Hosentasche und ließ ihn im Gang stehen. Soweit kam es noch. Ich hatte alles im Griff.

Wer viel in der Nacht auf Deutschlands Autobahnen unterwegs ist, weiß, dass es nicht nur Geisterfahrer gibt. Dann, wenn die Scheinwerfer für lange Zeit einen Tunnel aus Licht in die Schwärze der Nacht graben und aus dem Radio sanftes Gedudel klingt, nimmt die Einsamkeit hinter dem Lenkrad seltsame, fast körperliche Formen an. Der Geisterfahrer sitzt dann nicht in dem entgegenkommenden Auto, sondern auf dem Beifahrersitz.
Während meiner Rückfahrt von Dortmund nach Schwerin führte ich eine angeregte Unterhaltung mit einem solchen Beifahrer. Tiefgründig, über Freud und Leid des Dozentenlebens und neidische Kollegen. Als ich in Bandenitz von der A24 abbog und das gelbe Licht der Straßenlaternen über den Platz neben mir huschte, sah ich nur Leere, wo mein Gesprächspartner hätte sitzen müssen.
Ich wusste, dass ich nervlich und körperlich an meinem Limit angekommen war und dringend einen Arzt brauchte. Aber welcher Psychologe würde verstehen, wie das Leben auf der Überholspur aussah, mit zu wenig Schlaf und dem verzweifelten Versuch, alles unter Kontrolle zu halten. Was es bedeutet, sich kopfüber auf jede Herausforderung zu stürzen und ein Leben wie im Cockpit eines Düsenjets zu führen. Gegen diese Droge ist Crack ein sanftes Beruhigungsmittel.
Der Rest der Donnerstagnacht bestand aus schlaflosem Herumwälzen in meinem Bett mit überreizten Nerven in einem Kopf, der nicht mehr abschalten wollte. Freitagvormittag erledigte ich die Büroarbeit und am Nachmittag packte ich einen kleinen Koffer. Kurz darauf warf ich ihn ins Auto und machte mich auf den Weg zum Meer. Kein Seelenklempner, sondern eine Wochenendauszeit an der Ostsee. Das passte noch in meinen aus allen Nähten platzenden Terminkalender. Siebzig Kilometer bis zur Küste. Einsamkeit, Natur und Meer würden mich wieder fit machen. Dachte ich und ich dachte falsch.
Börgerende-Rethwisch ist ein kleiner Küstenort an der Ostsee, ziemlich genau in der Mitte zwischen Warnemünde und Heiligendamm liegend. Wenige Häuser, eine Verbindungsstraße, die am Deich entlang läuft, und ein Campingplatz. Wer nahe der Stadt Rostock, aber doch in Ruhe einen naturverbundenen Urlaub machen will, ist an diesem Platz immer gut aufgehoben.
Ich freute mich auf zwei ruhige Tage an der herbstlichen See, während ich die Küstenstraße entlang fuhr und die Sonne im Wasser der Ostsee untergehen sah. Ich parkte meinen Wagen auf einem öffentlichen Parkplatz und steckte fünf Minuten später den Bartschlüssel in die Tür meiner alten Fischerkate. Der Rost hatte in meiner monatelangen Abwesenheit die Chance genutzt, sich in das Eisen des Schlosses zu fressen und ich musste kräftig drücken, bis sich die Tür mit einem lauten Quietschen öffnete. Staub rieselte aus der niedrigen Decke auf meinen Anorak und auf ein großes Spinnennetz, das sich im Türrahmen spannte. Die Luft roch nach einer Mischung aus Moder, Fäulnis und Fisch und erinnerte mich daran, dass es höchste Zeit war, die Hütte zu renovieren.
Ich warf meinen Rucksack auf den Tisch, riss die Fenster auf und warf noch einen Blick auf das Handydisplay, bevor ich es ausschaltete. Die Sturmwarnung für heute Nacht hätte ich nicht gebraucht, denn ich sah, wie die regenschweren Wolken am Himmel Fahrt aufnahmen.
Die ersten Böen bliesen mir ins Gesicht, als ich in Richtung Wasser lief. Die Herbsturlauber waren vor dem herannahenden Sturm geflohen und so gehörte mir der Strand allein. Der Wind stemmte sich mir entgegen, aber ich lachte ihn aus, während ich durch den Sand trabte und mit tiefen Atemzügen die salzige Meeresluft einsog. Mit ausgebreiteten Armen tobte ich die Dünen hinauf und hinunter wie ein Kind und schrie das Leben hinaus in den Wind.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als ich meinen Anorak wieder an den Haken im Korridor meines Hauses hängte. Müde vom Lauf gegen den immer mehr zunehmenden Sturm und das Gesicht nass von Schweiß und den Spritzern der Brandung. Erschöpft, aber bis zum Bersten gefüllt mit Endorphinen.
Eine heiße Dusche und zwei Heringe mit Bratkartoffeln später saß ich in meinem mottenzerfressenen Sessel mit Melvilles‘ »Moby Dick« auf den Knien. Der Wind draußen frischte immer mehr auf und ich machte mir Sorgen um das alte Haus. Schon vor Jahren hätte ich es dringend renovieren müssen und ich war mir nicht sicher, ob das verrottete Schilfdach diesen Herbst noch überstehen würde. An den alten Leitungsdrähten des Blitzableiters fraß der Rost und die letzten Gewitter mochte die Hütte nur überlebt haben, weil sie die Dünen nicht überragte.
Die hölzernen Läden vor den undichten Fenstern klapperten in ihren Verriegelungen gegen die Wand. So ähnlich musste es geklungen haben, wenn Kapitän Ahab mit seinem Holzbein über die Decksplanken der Pequod hinkte. „Klack, klack, …, klack, klack … Welches Monster mochte in dem Mann verborgen gewesen sein, dass ihn zwang, sein Leben und das der Besatzung der Jagd nach einem Pottwal zu opfern? Oder war Ahab wie ich gewesen? Jemand, der nicht mehr von seinem Lebensweg abspringen konnte, jemand, den seine eigenen Geister vorantrieben und dessen stumme Hilfeschreie niemand hörte? Während mir die Lider zufielen, versuchte ich mir vorzustellen, wie er wohl gewesen wäre, wenn er den Wal nicht gejagt hätte. Wenn er stärker gewesen wäre als seine Geister.
Das grelle Licht einer elektrischen Entladung stach wie Dolche durch meine geschlossenen Augenlider und riss mich aus dem Schlaf. Nur eine Sekunde später krachte der Donner und das Licht der Stehlampe neben meinem Sessel erlosch. Der Wind war zu einem ausgewachsenen Herbststurm geworden und die Gewalt, mit der er das Wasser der Ostsee gegen die Felsen am Strand schmetterte, spürte ich bis zu mir. Jeder Aufprall pflanzte sich als Vibration bis in die wurmstichigen Balken über mir fort. Staub und altes Schilf rieselten aus dem Gebälk und die hölzernen Fensterläden schlugen bei jeder Böe einen kakophonischen Takt an die Hauswand meiner Hütte.
Mit zitternden Händen tastete ich nach meinem Feuerzeug und einer Kerze umher. Als ich beides fand, flüchtete ich mich wieder in meinen Sessel, schlang mir die Decke um die Schultern und wartete zusammengekrümmt darauf, dass der Orkan weiterzog.
Die Finsternis der Mitternacht drückte gegen die undichten Butzenscheiben der Wohnstube und sickerte hinein, als wäre sie ein böser Geist. Die kleine Flamme auf dem Sideboard neben mir schuf eine winzige Insel aus schummriger Helligkeit. Jeder Luftzug ließ die Kerze flackern und erweckte dunkle Schatten an der Wand zum Leben. Der Sturm gewann immer mehr an Stärke und hämmerte jetzt Welle auf Welle gegen den Strand. Vor den Fenstern wütete die Natur mit der Gewalt eines zornigen Gottes. Furcht kroch mir den Rücken hinauf wie kalter Schleim.
Wo waren die Kraft und das Glücksgefühl, die mich am Strand dem Sturm trotzen ließen? Ich war nur noch ein Gefäß, bis zum Rand gefüllt mit Angst. Zusammengekrümmt saß ich in meiner Insel aus flackerndem Licht, während der Orkan an Türen und Fenstern rüttelte. Er kam, um mich zu holen.
Es ging zu Ende. Mein Lebensakku hatte unten am Strand noch einmal eine kurze Ladung erhalten, aber jetzt war es vorbei. Mein Unterbewusstsein kämpfte seit Wochen mit allem, was es hatte, gegen die schwarzen Wände der Depression. Tag für Tag rückten sie ein Stück näher. Ich stand vor der letzten Wand am Ende des Tunnels und meine Reise durch das Leben endete hier. Der Orkan draußen würde es mir abnehmen. Ein Dachsparren, der unter der Last brach oder eine Wand, die einstürzte. Ich könnte nach Hause gehen in die wohlige Wärme des Vergessens und würde nie mehr denken müssen. Was auch immer dort draußen oder in mir tobte, konnte mich haben, jetzt und hier.
SO NICHT!!
Ich erstarrte. Hatte ich geschrien? Etwas stieg empor aus den finstersten Abgründen meiner Seele, zornig und mit gefletschten Zähnen.
Jeden Anprall der Sturmböen an meine Hütte wiederholte es mit einem kraftvollen Schlag meines Herzens. Meine Verzweiflung hatte ein Monster geweckt und es fegte meine Angst hinweg, als sei sie ein Nichts.
Viele Jahrtausende alt, bäumte es sich auf gegen das Wüten der Krankheit in mir und gegen die Urgewalt draußen in der Dunkelheit. Jemand hatte auf den Startknopf des Golems gedrückt und er erwachte aus seinem Schlaf. Schweiß perlte auf meiner Stirn, aber er rührte nicht von der Angst und die Wärme meiner Muskeln kam nicht von einer Bewegung. Etwas gab Erinnerungen frei in mir auf Dinge, die so alt waren wie die Menschheit.
Achtlos rutschte die Decke von meinen Schultern, als ich mich mit der Geschmeidigkeit eines Tigers aus dem Sessel erhob. Der schleichende Gang, mit dem ich mich zum Fenster bewegte, war nicht meiner. Geduckt und sprungbereit schaute ich hinaus in das Chaos der Elemente und spürte keine Furcht. Die wirbelnde Schwärze da draußen war nicht mehr fremd und angsteinflößend, sondern nur noch kalt und vertraut. Was auch immer dort lauerte, ich war ihm schon einmal begegnet, vor tausenden Jahren - und hatte es besiegt.
Es waren nicht meine Gedanken, und ohne dass ich es wollte, flüsterte ich mit zitternden Lippen ein Wort: »Bruder.«
Die Antwort kam erwartet unerwartet.
„Ich bin da und werde es immer sein.“
Diese Stimme hatte mich begleitet, mein Leben lang. »Warum?«, fragte ich und nicht weit entfernt schlug ein Blitz in den Boden.
»Du hast Angst vor dem Werwolf im nächtlichen Wald, obwohl du weißt, dass er nur in der Legende existiert. Die leuchtenden Augen im dunklen Keller erschrecken dich zu Tode, gleichwohl du sicher bist, dass es nur eine Katze ist. Du würdest in einer finsteren Nacht nicht über einen Friedhof wandern, weil du dich vor Untoten fürchtest. Ich bringe dein Herz zum Hämmern, pumpe Adrenalin in dein Blut und mache dich bereit zu töten. Du wirst dich fortpflanzen, deine Gene weitergeben und deine Art erhalten. Dafür wurde ich geschaffen.“
Kalt und emotionslos klingt das Echo der Worte in mir.
„Ich bin der, der dich überleben lässt, wo andere scheitern. Ich bin das Danaergeschenk der Natur an deine Rasse und die mächtigste Waffe, die je erfunden wurde.«
»Wer bist du?«, frage ich wieder und es weiß, dass ich seinen Namen will.
»Du kennst die Antwort. Ich bin dein dunkler Bruder. Ihr Menschen habt mir viele Namen gegeben, doch für euch bin ich nur die Legende einer finsteren Vergangenheit. Ich bin älter als deine Rasse, und wenn ein Kind gezeugt wird, werde auch ich wiedergeboren. Ich diene und beschütze das junge Leben in den ersten Jahren, wenn es noch nicht denken kann und hilflos ist. Wie auch dich. Doch je älter du wurdest, umso stärker habt ihr meine Ketten geschmiedet. Ihr habt mich in ein Verlies gesperrt, das so dunkel und finster ist, dass du nicht mehr hineinschauen willst.«
»Aber ich bin doch frei! Ich trage keine Ketten!« Wie einen Schrei denke ich diese Worte und ein spöttisches Flüstern ist die Antwort.
»Oh doch. Du selbst hast mich gebunden. Jede deiner Ketten trägt einen Namen, eingebrannt mit dem heiligen Feuer der Moral. Da gibt es die ‚das tut man nicht‘- Kette, dann gibt es die ‚was sollen deine Freunde denken‘- Kette und ganz eng um deinen Hals liegt die ‚schäm dich‘- Kette.
Ihr beschreibt mich in Büchern, nennt mich ‚Das Tier‘ oder ‚Mr. Hyde‘. Schaust du in den Spiegel, erblickst du mich nicht mehr, denn du siehst nur noch das, was du sehen willst. Aber du irrst, denn ich bin noch immer da und warte auf meine Zeit.»

Hatte ich mich erkältet und jetzt Fieber? Ein gläserner Zentimeter bewahrte mein Gesicht vor dem Inferno der wütenden Naturgewalt draußen, doch nichts schützte mich vor dem Horror in meiner Seele. Aber warum hatte ich keine Angst mehr?
»Weil du mich brauchst. Befreie mich von meinen Ketten und ich gebe dir Macht und Lust, jenseits dessen, was du dir vorstellen kannst!«
Ein lauter Donnerschlag folgte und ich schrie gegen die Fensterscheibe: »Ich kann nicht!«
Orgiastische Lust peitsche durch meine Nervenbahnen. »Doch, du kannst. Wenn du es willst. Lass mich frei und ich rette dich!«
»Aber wovor?!« Meine Widerstandskraft erlosch. Sah so mein persönlicher Wahnsinn aus? Eine Stimme im Kopf, die Wahrheiten erzählt, die ich nicht wissen will? Ich schloss die Augen und wusste, dass ich sie nie wieder öffnen würde.
Draußen wurde es plötzlich still. Der Sturm hielt den Atem an wie ein sprungbereites Tier. Und dann stieg es empor, gnadenlos, unwiderstehlich, mächtig.
»SIEH MICH AN!«, donnerte der Befehl in meinem Kopf.
Irrationale Angst raubte mir den Atem und ich nässte mich ein vor Entsetzen. Ich jagte zur Haustür, riss sie auf und sprang mit einem riesigen Satz in den Rachen der Finsternis. Nur weg von hier! Gleißend hell raste ein Blitz in das Schilfdach meines Hauses und dem schmetternden Krachen folgte eine Sturmböe, die mich von den Füßen riss.
Das Dach fing sofort Feuer und Sekunden später fraßen die Flammen meine letzte Zuflucht. Fünfzig Meter schaffte ich noch, bevor ich zusammenbrach.
Es dauerte nicht lange, bis ich wieder zu mir kam. Passiert war mir nichts. Die Feuerwehr würde nur noch Asche und verkohlte Balken vorfinden, wenn sie eintraf. Ich zuckte die Schultern. Pech gehabt.
Der Sturm war weiter gezogen, und als der Tag graute, fand er mich auf einem Felsen am Wasser. Die Wellen rollten noch heftig an den Strand und nässten mir die Füße. Es störte mich nicht. Ein sanftes, rotes Glühen kündigte den neuen Tag an und die Vögel begannen zu zwitschern. Dann zeigte sich das erste Gleißen am Horizont, das Meer rötete sich und langsam, aber unaufhaltsam stieg der Feuerball hinter mir auf. Mit jeder Minute nahm die Kraft der Sonne zu, und als sie sich im Meer spiegelte und ihre Strahlen liebevoll meinen Rücken wärmten, wusste ich, was ich tun musste. Es war noch nicht zu spät für mich.

Ein vorwitziger Sonnenstrahl wollte mich wach kitzeln, aber ich kniff nur meine Augen zu. Ich hatte mir spätes Aufstehen verdient. Erst der Sturm am Meer und dann hatte ich auch noch geträumt, mein Haus sei abgebrannt. Ich sollte mir wirklich mehr Ruhe gönnen. Am besten ich, ich begann sofort damit und schlief noch zwei Stunden. Die Hütte hatte den Sturm überstanden und ich drehte mich beruhigt zur anderen Seite und zog die Decke höher. Es reichte, wenn ich heute Abend in Schwerin ankam. Von meinem Haus am Strand bis nach Hause fuhr ich mit dem Wagen eine Stunde. Ich würde bis Mittag im Bett bleiben und danach einen schönen Strandspaziergang machen, daran konnten mich auch die Schritte in der Stube nicht hindern.
Schritte? In meiner Hütte?
Entsetzt richtete ich mich auf - um sofort wieder zurückzusinken. Der Schmerz in meinem Gesicht war unbeschreiblich, aber nichts gegen die freundlichen Worte, die jetzt an mein Ohr drangen.
»Na, Christian, ein bisschen Geduld musst du schon haben. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die Brandwunden einigermaßen verheilt sind. Du hast unglaubliches Glück gehabt. Die Feuerwehr hat dich bewusstlos fünfzig Meter entfernt von der brennenden Fischerhütte gefunden. Keiner kann sich erklären, wie du da noch rechtzeitig herausgekommen bist.«
Ich hatte nur ein entsetztes Stöhnen. Dieter Arsen saß neben meinem Bett mit dem gleichen Ausdruck in seinem Gesicht wie vor zwei Tagen. Ich wusste jetzt, dass es Sorge war. »Wie kommst du hier her?«
Er grinste. »Erinnerst du dich, wie du meine Visitenkarte eingesteckt hast? Ich wurde aus dem Krankenhaus angerufen.« Dieter Arsen schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich unbegreiflich. Die Feuerwehrleute haben erzählt, dass es gewöhnlich nach einem Blitzeinschlag in so einer Hütte nur Sekunden dauert, bis alles in Flammen steht. Du must einen Schutzengel gehabt haben.«
Einen Schutzengel? Eine Erinnerung drängte sich in mein bewusstes Ich. Wie in Zeitlupe sah ich mich grundlos aus dem sicheren Haus in die Dunkelheit springen. Der Blitz hatte erst danach eingeschlagen.
„Vertraust du mir jetzt, Bruder?“
Ich schaute Dieter an, aber der hatte nichts gesagt ...
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dürüm
Wolf im Negligé

Alter: 46
Beiträge: 966
Wohnort: Cape Town
Das bronzene Eis am Stiel Das Bronzene Pfand
Der bronzene Spiegel - Lyrik Podcast-Sonderpreis
Vorlesbar I


Beitrag10.11.2013 00:05

von dürüm
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Nicht schlecht!

Kleiner (typischer) Überarbeitungsfehler.
Zuerst packt er einen kleinen Koffer und dann wirft er einen Rucksack auf den Tisch.
smile extra

Wahrscheinlich zehnmal gelesen und doch übersehen ...

gerne gelesen
Gruß
Kerem


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Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.
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Christian Svensson
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Beiträge: 24
Wohnort: Schwerin


Beitrag10.11.2013 02:55
Selektive Wahrnehmung
von Christian Svensson
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ich hasse es! Nicht zehnmal - zwanzigmal, mindestens ...

Danke Dir !
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