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madrilena
Klammeraffe

Alter: 87
Beiträge: 647



Beitrag29.01.2013 09:44
neue version worauf noch warten
von madrilena
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Neue Version »

Guten Morgen liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter an der Front der Schriftstellerei Endlich kann ich wieder regelmäßiger hier im Forum von DSF sein, was mir sehr wichtig ist, aber persönliche Dinge haben es in letzter Zeit nicht erlaubt. Bin auch sehr gespannt, was mittlerweile von vielen, mir jetzt schon bekannten Kollegen/innen hier in der Zwischenzeit veröffentlicht worden ist.

Dank Eurer Kommentare und der Schreibwerkstatt Gruppe 95 und meines Wunsches, das Schreiben doch nicht aufzugeben, habe ich mich entschlossen, meinen fünften Roman einfach anders anzugehen, das Thema zu ändern und dennoch Teile von den 130 bereits geschriebenen Seiten zu verwenden, aber nur sehr ausschnittsweise. Ich bin mit meiner Idee, wochenlang durch die Wüste zu wandern, einfach nicht hingekommen. Meine Begeisterung für diese Landschaft ist zwar nach wie vor riesig, aber so etwas muss man eben auch wochenlang durchgemacht und nicht nur tagelang die besten Seiten kennen gelernt haben. Es fehlte einfach die Spannung. Wie gesagt, ich habe neu, ganz neu angefangen - vielleicht gelingt es, vielleicht nicht.
An Eure Meinung ist mir immens viel gelegen.
Hier das erste Kapitel:

1.
Vieles kommt zu spät. Aber manches tatsächlich auch zu früh. 6.16! Pünktlich auf die Minute schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren vertrauten Klang in den beginnenden Morgen. Der Ton ließ die Luft vibrieren, löschte alle anderen Geräusche aus und beendete die Nacht. Die viel zu kurze Nacht… Noch bewegten sich die Bilder des Traumes am Rande des Vergessens. Da war etwas angenehm Weiches, etwas wie Glück. Sie konnte es nicht genau fassen, es schreckte vor dem Zugriff realer Worte und Benennungen zurück. Doch das Gefühl von Leichtigkeit und Beschwingtsein blieb. Sie räkelte sich zufrieden, genoss die Wärme des Bettes, ein Lächeln auf den Lippen. Durch die geschlossenen Vorhänge drang erstes Morgenlicht.
Alles war noch so unverbraucht, viel versprechend, ungewiss. Sie drehte sich auf die Seite. Das Bett neben ihr war leer. Sie strich über das weiße Laken, ihre Hand suchte die warme Kuhle in Lukas Kissen – vergebens. Er hatte nicht neben ihr geschlafen, war nicht mit ihr aufgewacht, es gab nicht mehr sein erstes, noch verschlafenes Guten-Morgen-Lächeln. Nie mehr.
Er war nicht tot, aber er lebte auch nicht. Der Autounfall – vor vier Jahren. Er war doch erst 50 Jahre alt. Und jetzt? Eingeschlossen in gefühllose Körperlichkeit. Versunken in geistiger Dunkelheit. Erinnerungen an monatelange Krankenhausaufenthalte. Untersuchungen, die Hoffnungen weckten und zerstörten. Bis zum unerbittlichen Urteil: „Austherapiert“. Nur ein Wort – das eine unerträgliche Endgültigkeit umschloss.  
Sie griff nach der Fotografie auf ihrem Nachttisch – ein strahlender, ein so lebendiger Lukas. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht. Die Kälte des Glases drang über die Fingerkuppe bis ins Herz. Das eben noch empfundene Gefühl von Lebendigkeit zerbrach an der Wirklichkeit – heute war Montag, der Besuchstag im Pflegeheim. Dreimal in der Woche – ein  Korsett, das sie immer enger einschnürte. Wie ein Schatten lag es über ihrem Tag, den Wochen und Monaten, die ihren Namen verloren hatten – seit vier Jahren. Lukas erkannte sie nicht und doch lebte noch lange Zeit die Hoffnung weiter. Heute spürte sie mit Erschrecken, wie fern, wie fremd ihr der Mensch war, der einmal ihr Leben gewesen und der jetzt hilflos an ein leeres Dasein gefesselt war.
Und sie?  Sie fühlte sich – trotz allem – oft noch so jung, wollte noch Wagnis, Leidenschaften, Abenteuer. Wenn sie sich dieser Wünsche bewusst wurde, trat ihr wie ein übermächtiges, dunkles Gespenst das schlechte Gewissen in den Weg, und sie tauchte wieder ab in die beengende Zwangsjacke der Gegenwart.



_________________
Bücher im Alkyon Irmgard Keil Verlag/Marbach "Schatten umarmen" Kranichsteiner Literaturverlag.
1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
4."leben" ISBN 10:3934136656
Erhältlich bei Amazon über buchimport Peter Reimer + in Buchhandlungen
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Vogel
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 436

Goldene Neonzeit


Beitrag29.01.2013 22:52
Re: neue version worauf noch warten
von Vogel
Antworten mit Zitat

Hallo Madrilena,

zunächst mal bin ich nicht der Meinung, dass man tatsächlich Wochen in der Wüste verbracht haben müsste, um darüber zu schreiben. Dann könnte es ja auch keine Bücher über interplanetare Reisen geben oder historische Romane. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es schwer ist, vor allem, wenn nicht eine parallele Handlung statt findet, die die Story voran bringt. Bei meinem Manuskript stand ich vor einem ähnlichen Problem, weil es einen Abschnitt gibt, wo die Protagonisten einfach abwarten müssen. Ich wollte diese lähmende Zeit in einer absurden Situation gerne ausführlich beschreiben, stand aber vor dem Problem, dass Untätigkeit für den Leser schnell langweilig wird. Aber egal, jetzt zu Deinem Text:

Der Anfang ist sehr vielversprechend. Ich denke, dass Du ein relevantes Thema angegangen bist. Das Dilemma zwischen Loyalität zu einem Pflegebedürftigen und dem eigenen Wunsch nach Freiheit und Unbeschwertheit kann Menschen in große Konflikte stürzen. Und weil niemand zugeben möchte, dass er die hilflose, schicksalsgebeutelte Person satt hat, die ja nichts dafür kann, ist das Thema sicherlich tabuisiert. Bei einem Apalliker wird es dann noch komplizierter. Ich bin schon sehr gespannt, wie die Wüste dann mit reinspielt. Meine Phantasie sagt natürlich, dass die Protagonistin sich aus ihrem Korsett verabschiedet und in ein Abenteuer aufbricht. Mal sehen.
Für meinen Geschmack ist Dein Text aber etwas zu abstrakt. Das zeigt sich zum Einen in der Menge an Hintergrundinformationen. Obwohl man andererseits sagen kann, dass es Dir sehr gut gelungen ist, schnell das relevante Setting auszubreiten. Zum Andern zeigt es sich in für meinen Geschmack zu vielen "sperrigen" Substantiven ("Benennungen", "Beschwingtsein", "Körperlichkeit" u.ä.). Es gibt natürlich auch konkrete Beschreibungen, wie die Fingerkuppe am Glas des Bildes, aber es ist doch ganz schön viel Information. Es dauert mir auch zu lange, bis ein Mensch auftaucht, um als Anfang wirklich packend zu sein. Auch bis überhaupt etwas passiert (nämlich das Glockenklingen) vergehen 2,5 abstrakte Sätze.

Zitat:
Vieles kommt zu spät. Aber manches tatsächlich auch zu früh. 6.16! Pünktlich auf die Minute schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren vertrauten Klang in den beginnenden Morgen.


Vielleicht erklärt es sich später, aber für mich ist erst mal nicht klar, was da jetzt zu spät und was zu früh passiert. Die Glocken sind ja offenbar pünktlich (bimmelt der Dom tatsächlich um 6:16? Wieso? Muss ich mal drauf achten, ich glaube, den kann ich bei gutem Wind von hier hören).

Zitat:
Sie konnte es nicht genau fassen, es schreckte vor dem Zugriff realer Worte und Benennungen zurück.

Das ist so ein abstrakter und (für mich) sperriger Satz. Was sind reale Worte im Gegensatz zu irrealen und was ist der Unterschied zwischen ihnen und Benennungen?

Zitat:
Alles war noch so unverbraucht, viel versprechend, ungewiss.

Kleinigkeit: für mich verliert der Satz durch das "so" an Eindringlichkeit.

Zitat:
Sie strich über das weiße Laken, ihre Hand suchte die warme Kuhle in Lukas Kissen – vergebens.

Sorry, ich finde das etwas klischeeartig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das nach 4 Jahren immer noch passiert.

Zitat:
Er hatte nicht neben ihr geschlafen, war nicht mit ihr aufgewacht, es gab nicht mehr sein erstes, noch verschlafenes Guten-Morgen-Lächeln. Nie mehr.

Das finde ich sehr eindrucksvoll geschrieben.


Zitat:
Der Autounfall – vor vier Jahren. Er war doch erst 50 Jahre alt. Und jetzt?

Warum machst Du an dieser Stelle keinen richtigen Satz? Für mich klingt der Telegrammstil hier befremdlich. Das "doch" klingt wiederum sehr umgangsprachlich, genau wie das "und jetzt".

Zitat:
Eingeschlossen in gefühllose Körperlichkeit. Versunken in geistiger Dunkelheit. Erinnerungen an monatelange Krankenhausaufenthalte. Untersuchungen, die Hoffnungen weckten und zerstörten. Bis zum unerbittlichen Urteil: „Austherapiert“. Nur ein Wort – das eine unerträgliche Endgültigkeit umschloss.

Hier passt der Telegrammstil hingegen super.



Zitat:
Heute spürte sie mit Erschrecken, wie fern, wie fremd ihr der Mensch war, der einmal ihr Leben gewesen und der jetzt hilflos an ein leeres Dasein gefesselt war.

Warum fühlt sie das gerade heute? Wieso jetzt, wo sie ihn doch gar nicht sieht?

Also noch mal zusammenfassend: das Thema finde ich super und an einigen Stellen kommt man auch schon sehr nah an die Gefühle und den Konflikt dieser Frau heran. Aber ich persönlich würde mir mehr Präsenz der Protagonistin wünschen, ein Name wäre auch schön, und gerade für einen Anfang würde ich mehr Bilder und weniger Infos wünschen. Aber bitte, das ist ganz und gar subjektiv.

Gruß
Vogel


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madrilena
Klammeraffe

Alter: 87
Beiträge: 647



Beitrag29.01.2013 23:42

von madrilena
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Hallo Vogel - vielen Dank für Deine intensive Betrachtung meines Textes. Einige Deiner Vorschläge werde ich gern übernehmen, aber manches bleibt auch stehen, weil ich ab und an den Telegrammstil einfach gut finde.
Mit dem "so" "doch" etc. hast Du natürlich völlig Recht.

Warum sie sich gerade heute an all das erinnert?  Manches braucht vielleicht keine genaue Erklärung - mein Mann ist jetzt schon jahrelang tot und dennoch gibt es Augenblicke, wo ich - völlig ohne scheinbaren Zusammenhang - fast wie in der Gegenwart an ihn denke.

Den Namen hatte ich erst im Text, dann wollte ich ihn vom ganz Persönlichen lösen und habe ihn rausgenommen, sozusagen eine Art Prolog.
Die Worte "Körperlichkeit, Beschwingtsein" etc. muss ich mir nochmals durch den Kopf gehen lassen.
Ich stelle morgen der übermorgen das nächste Kapitel ein, das genau auf das Leben von Lisa eingeht. Ich möchte das erst einmal abwechselnd machen: Lisas Leben - Lukas' Nichtleben.  

Übrigens, der Dom läutet tatsächlich um 6 Uhr 16 zum ersten Mal, habe mich extra beim Küster erkundigt.

Wenn Du in der Nähe wohnst, ich lese am Weltfrauentag, dem 8. März um 15 Uhr 30 (blöde Zeit) in der Frankenhöhe aus "leben". Würde mich sehr über Dein Kommen freuen.

Was du über Dein eigenes Schreiben gesagt hast, kann ich nur zu gut verstehen, und das ist auch der Grund, warum mir das DSF so wichtig ist, weil wir alle - das glaube ich zumindet - die einzelnen Gemütsverfassungen der anderen in bezug aufs Schreiben gut nachvollziehen können.
LG madrilena


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1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
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3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
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jürg
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 163



Beitrag30.01.2013 15:49

von jürg
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Hallo madrilena,

ich finde die Situation eigentlich gut beschrieben. Ein Pflegebedürftiger und eine Angehörige die durch ein Eheversprechen zusammengehören, aber intellektuell, körperlich und seelisch nicht mehr zusammenpassen. Ich finde das sehr spannend. Vielleicht könnte da eine Situation helfen, die das Thema nochmals anfeuert und vom eingerichteten Alltagstrott mit Besuchstagen abweicht. zB. ein Brief von der Bank, der über das erreichte Sparziel für eine sehr lange geplante gemeinsame Reise informiert oder das Glückwunschschreiben zum 50 sten des Mannes mit einer unglücklichen Formulierung (weiterhin gute Gesundheit) Das macht die Situation noch bildlicher.

Mit dem Anfangssatz habe ich mich aber schwer getan.
Vieles kommt zu spät. Aber manches tatsächlich auch zu früh. 6.16! Pünktlich auf die Minute
Wenn die Uhr pünktlich schlägt, ist sie weder zu früh noch zu spät!

Gruß jürg
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sinuhe
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Alter: 62
Beiträge: 68
Wohnort: Rheinland


Beitrag30.01.2013 19:48

von sinuhe
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Hallo Madrilena,

ein Romanbeginn mit dem AT:
Zitat:
    Worauf noch warten   

Da bin ich gespannt, was mich erwartet.

Zitat:
   Vieles kommt zu spät. Aber manches tatsächlich auch zu früh. 6.16! Pünktlich auf die Minute schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren vertrauten Klang in den beginnenden Morgen. Der Ton ließ die Luft vibrieren, löschte alle anderen Geräusche aus und beendete die Nacht. Die viel zu kurze Nacht…     

Ist gut formuliert, klingt aber – in meinen Ohren – langweilig. Ich persönlich würde mit mehr Geschwindigkeit in die Geschichte starten. Bei einem zu bedächtigen Anfang droht die Gefahr, unentschlossene Leser bereits nach ein paar Zeilen wieder zu verlieren.

Weshalb in Mainz die Glocken des Doms ausgerechnet um 6.16 läuten (bei uns in Köln um 6.00), scheint eine lokale Besonderheit zu sein.

Zitat:
    Noch bewegten sich die Bilder des Traumes am Rande des Vergessens. Da war etwas angenehm Weiches, etwas wie Glück. Sie konnte es nicht genau fassen, es schreckte vor dem Zugriff realer Worte und Benennungen zurück. Doch das Gefühl von Leichtigkeit und Beschwingtsein blieb. Sie räkelte sich zufrieden, genoss die Wärme des Bettes, ein Lächeln auf den Lippen. Durch die geschlossenen Vorhänge drang erstes Morgenlicht.    

Das zweite es (es schreckte … ) würde ich umformulieren bzw. in ein Substantiv verwandeln. Zum einen wg. der Dopplung, zum anderen weil zu viel „Es“ an Stephen King erinnert.

Zitat:
    Alles war noch so unverbraucht, viel versprechend, ungewiss. Sie drehte sich auf die Seite. Das Bett neben ihr war leer. Sie strich über das weiße Laken, ihre Hand suchte die warme Kuhle in Lukas Kissen – vergebens. Er hatte nicht neben ihr geschlafen, war nicht mit ihr aufgewacht, es gab nicht mehr sein erstes, noch verschlafenes Guten-Morgen-Lächeln. Nie mehr.    

war noch so unverbraucht: wirkte noch
war leer: blieb leer
.., es gab nicht mehr: sie würde nie mehr sein … sehen/ zu Gesicht bekommen u.ä.
2x noch

Zitat:
   Er war nicht tot, aber er lebte auch nicht. Der Autounfall – vor vier Jahren. Er war doch erst 50 Jahre alt. Und jetzt? Eingeschlossen in gefühllose Körperlichkeit. Versunken in geistiger Dunkelheit. Erinnerungen an monatelange Krankenhausaufenthalte. Untersuchungen, die Hoffnungen weckten und zerstörten. Bis zum unerbittlichen Urteil: „Austherapiert“. Nur ein Wort – das eine unerträgliche Endgültigkeit umschloss.     

Jetzt werden es zu viele war
Kurze Zahlen würde ich ausschreiben: fünfzig (Geschmackssache)
Wer hat die Erinnerungen: sie oder er?
umschloss oder einschloss?

Zitat:
    Sie griff nach der Fotografie auf ihrem Nachttisch – ein strahlender, ein so lebendiger Lukas. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht. Die Kälte des Glases drang über die Fingerkuppe bis ins Herz. Das eben noch empfundene Gefühl von Lebendigkeit zerbrach an der Wirklichkeit – heute war Montag, der Besuchstag im Pflegeheim. Dreimal in der Woche – ein Korsett, das sie immer enger einschnürte. Wie ein Schatten lag es über ihrem Tag, den Wochen und Monaten, die ihren Namen verloren hatten – seit vier Jahren. Lukas erkannte sie nicht und doch lebte noch lange Zeit die Hoffnung weiter. Heute spürte sie mit Erschrecken, wie fern, wie fremd ihr der Mensch war, der einmal ihr Leben gewesen und der jetzt hilflos an ein leeres Dasein gefesselt war.    

bis in ihr Herz
sehr viele Gedankenstriche
.. und trotzdem lebte die Hoffnung (worauf? Auf seine Genesung) lange Zeit weiter.
geworden war
Zu häufig: war

Zitat:
    Und sie? Sie fühlte sich – trotz allem – oft noch so jung, wollte noch Wagnis, Leidenschaften, Abenteuer. Wenn sie sich dieser Wünsche bewusst wurde, trat ihr wie ein übermächtiges, dunkles Gespenst das schlechte Gewissen in den Weg, und sie tauchte wieder ab in die beengende Zwangsjacke der Gegenwart.   

oft (noch) so jung
die Gedankenstriche im ersten Satz sind mMn überflüssig
wollte (noch) Wagnis, … spüren.

Frau verliert ihren Mann bei einem Autounfall. Bzw. der dämmert seitdem in einem Pflegeheim im Wachkoma vor sich hin. Sie hofft lange Zeit auf seine Gesundung, stellt aber resigniert fest, dass keine Hoffnung mehr besteht. Sie besucht ihn weiterhin regelmäßig; empfindet diese Verpflichtung jetzt allerdings als Belastung. Wie soll es weitergehen? Er wird mit 90%-iger Wahrscheinlichkeit nicht mehr aufwachen. Sie will aber irgendwie „unbeschwert“ weiterleben.

Traurige Story. Kenne ein ähnliche Begebenheit aus dem Bekanntenkreis. Vermute, dass die (bisher namenlose) Prota einen anderen Mann kennenlernen wird, sich neu verliebt und in Gewissensbisse verfällt, wie sie sich verhalten soll. Der alte Mann tut ihr den Gefallen und stirbt. Nach der Beerdigung ist sie endlich frei, ein neues Leben zu beginnen.
Der AT Worauf noch warten? deutet auf jeden Fall in diese Richtung hin.

Madrilena, der Text ist flüssig geschrieben. Kann man in einem Rutsch, ohne an irgendeiner Stelle zu stocken, durchlesen. Evtl einige Hilfsverben (war) auswechseln und auf die Anhäufung der Gedankenstriche achten.

Mir persönlich ist die Anfangssequenz zu melodramatisch formuliert. Bei aller Tragik des Schicksals, das du schilderst, würde ich nicht so sentimental beginnen. Evtl den Autounfall plastischer schildern oder die Prota auch was Böses (oder Banales: Mist, der Fernseher lief die ganze Nacht auf voller Lautstärke) denken lassen. Die Menschen sind ja nicht durchgängig gut und edelmütig. Bei diesem gefühlsbetonten Start befürchte ich, dass sich das Rührselige wie ein roter Faden durch die Kapitel durchziehen wird. Das wäre für mich (50, XY) eher nichts. Aber die Geschmäcker sind bekanntlich unterschiedlich. Mag sein, dass du mit diesem Ton bei der von dir angepeilten Zielgruppe voll ins Schwarze triffst.

Hoffe, du kannst mit einigen meiner Anmerkungen was anfangen.

Lg sinuhe


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Beim Schreiben ist es wie mit der Prostitution. Zuerst macht man es aus Liebe, dann für ein paar Freunde und schließlich für Geld. (Molière)
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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag30.01.2013 23:14

von madrilena
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Hallo Jürg - danke für Deine Antwort. Es kommen noch die Alltäglichkeiten, das war ja erst mal das erste kurze Kapitel, das eher so ein wenig die Aufgabe eines Prologs erfüllen soll. Ich habe übrigens den ersten Satz gestrichen - er gefiel mir einfach so, hat aber - und das haben mir auch Eure Zuschriften gezeigt, eher einen abtörnenden Effekt. Ich habe mir Deine und Sinuhes Vorschläge ausgedruckt und werde sie bei erster Gelgenheit entweder berücksichtigen oder erklären, warum ich doch lieber an meinem Text festhalten will.
Nochmals vielen Dank
LG madrilena


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Bücher im Alkyon Irmgard Keil Verlag/Marbach "Schatten umarmen" Kranichsteiner Literaturverlag.
1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
4."leben" ISBN 10:3934136656
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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag30.01.2013 23:19

von madrilena
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Hallo Sinuhe - welch eine tolle Mühe Du Dir gemacht hast - vielen herzlichen Dank. Auch Deine Argumente habe ich ausgedruckt, denn Eure Vorschläge und Anregungen will ich in Ruhe mit meinem Text vergleichen und dann entscheiden, was ich tun werde. Jedenfalls habe ich schon gleich angefangen, aber heute und auch morgen fehlt einfach die Zeit, obgleich es mich natürlich in allen zehn Fingern juckt, Einwände und Text sich gegenüber zu stellen. Geduld ist in dieser Hinsicht nicht gerade meine Stärke, dafür liebe ich das Schreiben viel zu sehr.
Nochmals ein herzliches Dankeschön und eine gute Nacht
LG madrilena


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2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
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Vogel
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Goldene Neonzeit


Beitrag31.01.2013 08:00

von Vogel
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Hallo Madrilena,


es tut mir leid, das mit Deinem Mann zu hören. Wenigstens gibt es das Schreiben, das die Trauer auch in etwas Produktives verwandeln kann.
Ich habe noch mal über den Telegrammstil nachgedacht: eigentlich mag ich den auch sehr und weiter unten habe ich ihn ja auch gelobt... Ich glaube, was mir nicht gefallen hat ist der Bindestrich ("Der Unfall - vor vier Jahren."). Zusammen mit dem folgenden "was jetzt" klingt das so nach einem Ausruf (fehlt nur noch ein "ah!" Rolling Eyes ), weniger nach Erinnerungsfetzen.

Gruß
Vogel


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madrilena
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Beitrag31.01.2013 10:18

von madrilena
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Guten Morgen Vogel - das konntest Du doch nicht wissen!
Ich stelle mal die verbesserte? Version dieses ersten Kapitels ein - ob der Anfang so geglückt ist, weiß ich nicht. Für mich sind die ersten Sätze eines Buches ausschlaggebend, ob ich es kaufe oder nicht. Bin mir ziemlich unsicher und wäre für Eure Beurteilung dankbar. Ich füge das Gedicht bei, aus dem ich den Buchtitel "geholt" habe. Übrigens mit Erlaubnis der Dichterin.
LG. madrilena

Aufbruch
nicht länger mehr
an diesem Ufer harren.
Kein Schiff in Sicht.
Auch morgen wird
der Fluss noch trübe sein.
Worauf noch warten?
Du musst schwimmen,
da drüben wird es Wege geben.


Anne Heitmann
„… auch wenn ich leise bin“


1.
Schon?  'Wie schade, dass ich das Geläute nicht wie einen Wecker einfach ausmachen kann’, dachte Lisa
6.16! Pünktlich wie jeden Morgen schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren Weckruf in den beginnenden Morgen. Der Ton ließ die Luft vibrieren, löschte alle anderen Geräusche aus und beendete die Nacht.
Die viel zu kurze Nacht…
Noch bewegten sich die Bilder des Traumes am Rande des Vergessens. Da war etwas angenehm Weiches, etwas wie Glück. Sie konnte dieses Schwebende nicht genau fassen, es schreckte vor dem Zugriff der Wirklichkeit zurück. Doch das Gefühl von beschwingter Leichtigkeit blieb. Lisa räkelte sich zufrieden, genoss die Wärme des Bettes, ein Lächeln auf den Lippen. Durch die geschlossenen Vorhänge drang erstes Morgenlicht.
Alles wirkte noch unverbraucht, viel versprechend, ungewiss. Sie drehte sich auf die Seite. Das Bett neben ihr war leer. Sie strich über das weiße Laken, ihre Hand suchte die warme Kuhle in Lukas Kissen – vergebens. Er hatte nicht neben ihr geschlafen, war nicht mit ihr aufgewacht, es gab nicht mehr sein erstes, noch verschlafenes Guten-Morgen-Lächeln. Nie mehr.
Er war nicht tot, aber er lebte auch nicht. Der Autounfall vor vier Jahren. Er war doch erst fünfzig Jahre alt. Und nun...? Eingeschlossen in gefühllose Körperlichkeit. Versunken in geistiger Dunkelheit.
Zuerst monatelange Krankenhausaufenthalte, Untersuchungen, die Hoffnungen weckten und zerstörten. Bis zum unerbittlichen Urteil: „Austherapiert“. Nur ein Wort, das eine unerträgliche Endgültigkeit umschloss.  
Sie griff nach der Fotografie auf ihrem Nachttisch. Ein strahlender, ein so lebendiger Lukas. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht. Die Kälte des Glases drang über die Fingerkuppe bis ins Herz. Das eben noch empfundene Gefühl von Lebendigkeit zerbrach an der Realität, heute war Montag, der Besuchstag im Pflegeheim. Dreimal in der Woche!  Ein  Korsett, das sie immer enger einschnürte. Wie ein Schatten lag es über ihrem Tag, den Wochen und Monaten, die ihren Namen verloren hatten – seit vier Jahren. Lukas erkannte sie nicht und doch lebte noch lange Zeit die Hoffnung auf ein Wunder weiter. Wieder spürte sie mit Erschrecken, wie fern, wie fremd ihr der Mensch war, der einmal ihr Leben gewesen und der jetzt hilflos an ein leeres Dasein gefesselt war.
Und sie?  Sie fühlte sich trotz allem oft so jung, wollte noch Wagnis, Leidenschaften, Abenteuer. Wenn sie sich dieser Wünsche bewusst wurde, trat ihr wie ein übermächtiges, dunkles Gespenst das schlechte Gewissen in den Weg, und sie tauchte wieder ab in die beengende Zwangsjacke der Gegenwart.


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Beitrag31.01.2013 17:17

von madrilena
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Und so soll es weitergehen:

2.
Plötzlich kehrte die Müdigkeit wieder. ‚Komm Lisa, steh auf, nicht wieder diese Überlegungen’. Manchmal musste sie so mit sich reden, um in die Gegenwart zurückzukehren. Sie stellte die Fotografie auf den Nachttisch. Angelte nach ihren Schuhen. Fuhr sich mit beiden Händen durch’s Haar. Starrte in den dem Bett gegenüber angebrachten Spiegel.
Jeden Morgen dasselbe. Jeden Morgen konfrontierte sie dieser Spiegel unbarmherzig damit, dass die Zeit verging und dass sie Spuren von zweiundfünfzig Jahren Leben in ihr Gesicht gegraben hatte. Einen kurzen Augenblick lang war es ihr dann unmöglich, die Erscheinung, die dort wie von einer Fremden auftauchte, mit der Vorstellung zusammenzubringen, die sie von sich selbst hatte.
Entschlossen wandte sie sich ab.
Ging mit klopfendem Herzen an der verschlossenen Tür vorbei, unter der verlockend ein Lichtstrahl schimmerte. Soll sie hineingehen?’ Zögern... dann ging sie doch weiter, lief die Wendeltreppe hinunter und betrat die Küche. Sie kochte sich einen Tee. Dazu einige Stücke Ingwer und ein wenig Kaffeesahne. Bestrich zwei Scheiben Knäckebrot mit Frischkäse und Marmelade. Trug Teller und Tasse vorsichtig ins Wohnzimmer. Sie setzte sich mit angezogenen Beinen auf ihre gemütliche Ottomane und dachte ein wenig spöttisch: ‚Die hab ich auch nur gekauft, weil mir der altmodische Name so gut gefällt.’
Gleichzeitig verdrängte sie das Bild von Lukas, der beim Frühstück ihr gegenüber gesessen hatte. War das erst vier Jahre her? War es schon vier Jahre her?
Ihr Blick wanderte zu ihren vielen Pflanzen. Auf dem Kupfertisch eine lila blühende Calla, die üppig sich ausbreitende Anturie. Daneben ihre zwanzigjährige Dieffenbachia, die schon die Zimmerdecke berührte.
Sie sprach mit ihren Pflanzen. Eines Tages kam Caroline hinzu und schaute sie halb skeptisch und halb belustigt an:
„Sag mal, ist das die Folge vom Alleinleben?“
„Nein. Aber glaubst du nicht auch, dass Pflanzen eine Seele haben? Vielleicht können sie fühlen, wenn ich mit ihnen spreche“, was ihr von ihrer Tochter nur ein Achselzucken eingetragen hatte. Jetzt dachte sie entsetzt: 'Sollte Lukas weniger fühlen als ihre Pflanzen?'
Sie stellte den Teller auf den Couchtisch, stand auf, trat an eines der großen Fenster und spürte warm und lebendig die Morgensonne, die ihr Gesicht streifte.
Ihr umherschweifender Blick verweilte auf dem Dom. Ein Bild, immer wechselnd, je nach Tages- oder Jahreszeiten von Sonnenlicht überglänzt, in Regenwolken gehüllt.
Sie hatte nie in diese Stadt ziehen wollen. Lukas war es, der wollte. Sie hatte gemeutert:  „Die Stadt ist doch so was von kleinbürgerlich, sogar spießig.’ Lukas wollte sie damals beruhigen: ‘Lern sie doch erst mal kennen. Hier ist es schließlich auch nicht sehr weltstädtisch oder? Außerdem denke an Caroline. Drei Jahre vor dem Abitur, da müssen wir ihr die tägliche Fahrerei ersparen.“ Er hatte sie zärtlich angeschaut mit seinem verführerischen Lächeln und noch hinzugefügt: „Dein Reisebüro ist doch auch ganz in der Nähe.“
Sie wusste, dass er Recht hatte, dennoch begehrte sie trotzig auf:
‚Aber ich lieb dieses kleine Dorf, unser Haus und unseren Garten'“ Und in Gedanken hinzugefügt: ‘Ich liebe mein Leben im eigenen Haus, in einer Umgebung, wo ich jeden Weg kenne, wo mein Lieblingsbaum steht, den ich  manchmal umarme, weil ich mir einbilde, dass er mir Kraft spendet.’
Heute war sie glücklich über seine damalige Hartnäckigkeit. Ihr Traum von einer gemeinsamen Zukunft wäre auch dort auf grausame Weise durch den Unfall von Lukas unerfüllt geblieben.

Mainz kleinbürgerlich? Spießig? Als sie anfing, die Stadt zu durchstreifen, schämte sie sich bisweilen dieser voreiligen Beurteilung. Sie entdeckte  ihren  ganz besonderen Charme – traditionell und gleichzeitig modern, weitläufig die Anlagen, eng die Gässchen der Altstadt. Und unter den Straßen das andere Mainz, die unzähligen, ehemals römischen Zeugnisse vergangenen Lebens. Eine versunkene Welt, heute wieder lebendig und zugänglich.
Neugierig gemacht durch ihre berufliche Erfahrungen als Reiseleiterin und Fotografin hatte Lisa angefangen, die Gegenwart und Vergangenheit von Mainz zu erkunden.
Als Caroline auf die Welt kam, stellte sie ihre Wünsche als Reiseleiterin zurück. Da war ja Gott sei Dank noch das Fotografieren, das sie  begeisterte. Wie verführerisch - scheinbar Unwesentliches sichtbar zu machen, mit Licht, Schatten und Farben zu spielen, um Bilder zu komponieren, die in Ausstellungen und als Illustrationen in Büchern Aufmerksamkeit erregten. Wie oft hatte sie gedacht: ‘Wenn ich doch nur jedes Licht einfangen könnte, und gespürt, dass sie Unmögliches wollte, denn Licht ließ sich nicht fotografieren, nur seine Wirkung.
So machte sie sich häufig schon frühmorgens auf den Weg in die umliegenden Felder. Berauscht von der lustvollen Empfindung, die ein klarer, hoher Himmel in ihr auslöste. Dieses erste Glühen, wenn der Tag stärker wird als die Nacht. Die frühe Morgenluft, noch nicht ein- oder ausgeatmet, so, als gehörte sie ihr - ihr ganz allein.
Begeistert hatte sie Lukas erklärt: ‘Ein Fotograf darf morgens nicht lange schlafen, die Beleuchtung ist in den frühen Morgenstunden einzigartig.’ Lachend hatte er gefragt: „Und wann holst du den Schlaf nach.“ Schmerzhaft die Erinnerung an die Zärtlichkeit, als sie, an ihn geschmiegt, geflüstert hatte: ‘In einer ausgedehnten Siesta! Hast Du Lust?’
 


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Bücher im Alkyon Irmgard Keil Verlag/Marbach "Schatten umarmen" Kranichsteiner Literaturverlag.
1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
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sinuhe
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Beitrag31.01.2013 17:29

von sinuhe
Antworten mit Zitat

Hallo Madrilena,

du hast den Beginn ja ratzfatz überarbeitet. Kompliment!!

Ich konzentriere mich jetzt ausschließlich auf die drei längeren Anfangssätze.
Zitat:
   Schon? 'Wie schade, dass ich das Geläute nicht wie einen Wecker einfach ausmachen kann’, dachte Lisa
6.16! Pünktlich wie jeden Morgen schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren Weckruf in den beginnenden Morgen. Der Ton ließ die Luft vibrieren, löschte alle anderen Geräusche aus und beendete die Nacht.    

- Gedanken würde ICH kursivieren. Anstatt einfacher Anführungszeichen. Ist aber pure Geschmackssache. Zudem ist mir nicht klar, weshalb das Adverb (schon) sich außerhalb des Gedankens befindet.
- Nach Lisa fehlt der Punkt.
- 2x dass/ das kurz hintereinander. Liest sich mMn im allerersten Satz etwas holprig.
- Die Dopplung Wecker & Weckruf solltest du vermeiden.

Den Einstieg mit einem Gedanken finde ich generell gut. Noch besser wäre natürlich direkte Rede. Da die Prota allerdings alleine im Bett liegt, fehlt ihr dafür der Ansprechpartner. Der Gedanke ist aber zu zahm. In so formvollendetem Schriftdeutsch denkt kein Mensch. ICH würde das drastischer formulieren; bspw.:
6.16 … DING .. DONG. Muss das Drecksding jeden Morgen so früh läuten? In mir keimten für einen kurzen Moment Mordgedanken auf, und ich verspürte unbändige Lust, den nervigen Glöckner zu erwürgen.

Würde – zugegebenermaßen – nicht zur Diktion deiner Geschichte passen. Von daher ist es okay, wie du es nun abgewandelt hast. Evtl denkst du darüber nach:
( ) die Uhrzeit (6.16) ganz nach vorne zu ziehen
( ) den Gedanken eine Spur genervter klingen zu lassen.

Wünsche dir viel Freude beim Verfassen des Romans!

Lg sinuhe


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Beim Schreiben ist es wie mit der Prostitution. Zuerst macht man es aus Liebe, dann für ein paar Freunde und schließlich für Geld. (Molière)
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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag31.01.2013 18:45

von madrilena
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Hallo Sinuhe - du hast mir aber auch prompt geantwortet, vielen Dank. Du hast schon Recht, man denkt vielleicht anders, aber im Context zu meinem Roman passt diese Sprache vorläufig nicht. Die anderen Tipps werde ich beherzigen, muss jetzt ert mal zu meinem Vortrag über Zubin Mehta, aber danach habe ich dann bestimmt noch Lust, ein bisschen weiter zu schreiben, zumindest zu verbessern.
LG.
Madrilena


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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag02.02.2013 14:28

von madrilena
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Habe eben gemerkt, dass  ich einen Denkfehler gemacht habe. Die letzte Passage (Als Caroline auf die Welt kam) passt da überhaupt nicht rein, denkt sie Euch bitte gestrichen. Der Anschlusstext muss natürlich anders sein, sie ziehen ja nach Mainz, weil Caro kurz vor dem Abitur steht. Ganz schön blöd von mir.
madrilena


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Gamone
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G
Beitrag02.02.2013 15:27

von Gamone
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Hallo Madrilena,

ich finde Deinen Text wunderschön!

Die erste Version des Beginns empfinde ich sehr schwermütig, fast erdrückend, weil ich mir die Situation sehr gut vorstellen kann und mich mittendrin wieder finde.
Die Zweite ist etwas leichter. Was ihr aber keinen Abbruch tut. Sehr gut nachzuvollziehen.

Der Widerspruch zwischen "Ich liebe Dich und bleibe Dir loyal bis zum Ende!" und "Ich will leben!" ist Dir gut gelungen.

Da freue ich mich schon auf die Fortsetzung!


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Gut ist besser als schlecht!
*H.S.*

***

... du solltest öfters vom Dach springen ...
*Lapidar*
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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag02.02.2013 21:52

von madrilena
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Danke Gamone für Deine Rückmeldung.

Ich hoffe, ich habe jetzt die Kurve bekommen zum vorherigen Text. Deshalb möchte ich ihn nochmals hier reinstellen - geändert, erweitert, hoffentlich verbessert.
Wie immer - Kritik hochwillkommen.
Gruß madrilena

2.
Plötzlich kehrte die Müdigkeit wieder. ‚Komm Lisa, steh auf, nicht wieder diese Überlegungen’. Manchmal musste sie so mit sich reden, um in die Gegenwart zurückzukehren. Sie stellte die Fotografie auf den Nachttisch. Angelte nach ihren Schuhen. Fuhr sich mit beiden Händen durch’s Haar. Starrte in den dem Bett gegenüber angebrachten Spiegel.
Jeden Morgen dasselbe. Jeden Morgen konfrontierte sie dieser Spiegel unbarmherzig damit, dass die Zeit verging und dass sie Spuren von zweiundfünfzig Jahren Leben in ihr Gesicht gegraben hatte. Einen kurzen Augenblick lang war es ihr dann unmöglich, die Erscheinung, die dort wie von einer Fremden auftauchte, mit der Vorstellung zusammenzubringen, die sie von sich selbst hatte.
Entschlossen wandte sie sich ab.
Ging mit klopfendem Herzen an der verschlossenen Tür vorbei, unter der verlockend ein Lichtstrahl schimmerte. Soll sie hineingehen?’ Zögern... dann ging sie doch weiter. Lief die Wendeltreppe hinunter und betrat die Küche. Sie kochte sich einen Tee. Dazu einige Stücke Ingwer und ein wenig Kaffeesahne. Bestrich zwei Scheiben Knäckebrot mit Frischkäse und Marmelade. Trug Teller und Tasse vorsichtig ins Wohnzimmer. Sie setzte sich mit angezogenen Beinen auf ihre gemütliche Ottomane und dachte ein wenig spöttisch: ‚Die hab ich auch nur gekauft, weil mir der altmodische Name so gut gefällt.’
Gleichzeitig verdrängte sie das Bild von Lukas, der beim Frühstück ihr gegenüber gesessen hatte. War das erst vier Jahre her? War es schon vier Jahre her?
Ihr Blick wanderte zu ihren vielen Pflanzen. Auf dem Kupfertisch eine lila blühende Calla, die üppig sich ausbreitende Anturie,. Daneben ihre zwanzigjährige Dieffenbachia, die schon die Zimmerdecke berührte.
Sie sprach mit ihren Pflanzen. Eines Tages kam Caroline hinzu und schaute sie halb skeptisch und halb belustigt an:
„Sag mal, ist das die Folge vom Alleinleben?“
„Nein. Aber glaubst du nicht auch, dass Pflanzen eine Seele haben? Vielleicht können sie fühlen, wenn ich mit ihnen spreche“, was ihr von ihrer Tochter nur ein Achselzucken eingetragen hatte. Jetzt dachte sie entsetzt: 'Sollte Lukas weniger fühlen als ihre Pflanzen?'
Sie stellte den Teller auf den Couchtisch, stand auf, trat an eines der großen Fenster und spürte warm und lebendig die Morgensonne, die ihr Gesicht streifte.
Ihr umherschweifender Blick verweilte auf dem Dom. Ein Bild, immer wechselnd, je nach Tages- oder Jahreszeiten von Sonnenlicht überglänzt, in Regenwolken gehüllt.
Sie hatte nie in diese Stadt ziehen wollen. Lukas war es, der wollte. Sie meuterte:  „Die Stadt ist doch so was von kleinbürgerlich, sogar spießig.’ Lukas wollte sie damals beruhigen: ‘Lern sie doch erst mal kennen. Hier ist es ja auch nicht sehr weltstädtisch oder? Außerdem sollten wir an Caroline denken. Drei Jahre vor dem Abitur, da müssen wir ihr die tägliche Fahrerei ersparen.“ Er hatte sie zärtlich  mit seinem verführerischen Lächeln angeschaut und noch hinzugefügt: „Dein Reisebüro ist doch auch ganz in der Nähe.“
Sie wusste, dass er Recht hatte, dennoch begehrte sie trotzig auf:
‚Aber ich lieb dieses kleine Dorf, unser Haus und unseren Garten'“ Und in Gedanken hinzugefügt: ‘Ich liebe mein Leben im eigenen Haus, in einer Umgebung, wo ich jeden Weg kenne, wo mein Lieblingsbaum steht, den ich  manchmal umarme, weil ich mir einbilde, dass er mir Kraft spendet.’
Heute war sie glücklich über seine damalige Hartnäckigkeit. Ihr Traum von einer gemeinsamen Zukunft wäre auch dort auf grausame Weise durch den Unfall von Lukas unerfüllt geblieben.

3
Mainz kleinbürgerlich? Spießig? Als sie anfing, die Stadt zu durchstreifen, schämte sie sich bisweilen dieser voreiligen Beurteilung. Sie entdeckte  ihren  ganz besonderen Charme – traditionell und gleichzeitig modern, weitläufig die Anlagen, eng die Gässchen der Altstadt.
Und unter den Straßen das andere Mainz, die unzähligen, ehemals römischen Zeugnisse vergangenen Lebens. Eine versunkene Welt, heute wieder lebendig und zugänglich.
Neugierig gemacht durch ihre berufliche Erfahrungen als Reiseleiterin und Fotografin hatte Lisa angefangen, die Gegenwart und Vergangenheit von Mainz zu erkunden.
Sie wandte sich wieder ins Zimmer zurück, ging zum Musikschrank, griff wahllos nach einer CD - las Johannes Brahms, 1. Klavierkonzert und entschied sich für das Adagio, das Brahms nach eigenen Aussagen als sanftes Porträt von Clara Schumann musikalisch gemalt hatte. Noch war es zu früh für den Besuch bei Lukas. Sie brauchte an den Tagen, da sie ins Pflegeheim ging, immer erst einmal  Zeit für sich. So gab sie sich den Tönen der Musik  und wieder ihrer Erinnerung hin.
Wie aufregend und neu erschienen ihr die Anfangsjahre in Mainz. ‘Kein Wunder, jetzt konnte ich endlich mühelos Familie und Beruf bewältigen. Sie lächelte, als sie sich in diese Jahre zurückversetzte. Caroline die Abiturientin, Lukas der Professor und sie die  Reiseleiterin - alle drei konnten damals ihren Weg gehen und blieben dennoch eng verbunden.  
Das war nicht immer so gewesen. Manchmal dachte sie schon: ‘Wie oft musste ich mich zwischen Reisen und Fotografieren entscheiden. Immer wieder gab es lange Pausen zwischen beidem, doch meistens habe ich rasch von einem zum anderen zurückfinden können.’
Das erste Mal hatte sie ihren Beruf als Reiseleiterin zurückgestellt, als Caroline auf die Welt kam. Und es dennoch nicht bedauert,  denn da war neben der Aufregung der ersten Muttererfahrungen  noch die Fotografie.  Wie verführerisch - scheinbar Unwesentliches sichtbar zu machen, mit Licht, Schatten und Farben zu spielen, um Bilder zu komponieren, die in Ausstellungen und als Illustrationen in Büchern Aufmerksamkeit erregten. Wie oft hatte sie gedacht: ‘Wenn ich doch nur jedes Licht einfangen könnte, und gespürt, dass sie Unmögliches wollte, denn Licht ließ sich nicht fotografieren, nur seine Wirkung.
So hatte sie sich häufig schon frühmorgens, nachdem Caroline versorgt und Lukas geweckt worden war,  auf den Weg in die umliegenden Felder gemacht. Berauscht von der lustvollen Empfindung, die ein klarer, hoher Himmel in ihr auslöste. Dieses erste Glühen, wenn der Tag stärker wird als die Nacht. Die frühe Morgenluft, noch nicht ein- oder ausgeatmet, so, als gehörte sie ihr - ihr ganz allein.
Begeistert hatte sie Lukas erklärt: ‘Ein Fotograf darf morgens nicht lange schlafen, die Beleuchtung ist in den frühen Morgenstunden einzigartig.’ Sie hört noch heute seine scherzhaft hingeworfene Frage: „Und wann holst du den Schlaf nach.“ Schmerzhaft die Erinnerung an die Zärtlichkeit, als sie, an ihn geschmiegt, geflüstert hatte: ‘In einer ausgedehnten Siesta! Hast Du Lust?’
Wie viel erfüllte Sehnsucht - damals.  
Wann hatte sie gemerkt, dass Ihr Reisen wieder wichtiger als die Fotografie geworden war? In jenem Jahr - als Caroline in den Kindergarten kam?  
Im Stillen hatte sie erwartet, dass Lukas vielleicht dagegen protestieren würde, schließlich verlangte Caroline sehr viel Aufmerksamkeit. Aber waren sie sich nicht von Anfang an einig  gewesen, dass sie Beide für das Kind da sein wollten? Zuerst war dies allerdings eine theoretische Abmachung, denn es war sie, Lisa, gewesen, die ihr Leben geändert hatte. Lukas genoss seine berufliche Laufbahn erst als Dozent, später als Professor an der juristischen Fakultät in Frankfurt.  
Doch ab jetzt wurde es anders, zwei bis drei Reisen pro Jahr, keine länger als höchstens zwei Wochen und sie hatte nie das Gefühl, dass Caroline dadurch vernachlässigt würde, da sie in Lukas einen wunderbaren Vater hatte, der nun doch ihre gegenseitige, damalige Absprache voller Liebe erfüllte.
Reiseleiterin? Die Bezeichnung hatte sie schon immer gestört, auch wenn sie deren Aufgaben wahrnahm. Sie wollte viel lieber Mitreisende in einem Kreis interessierter Menschen sein. Mit ihnen erlebte sie neue Welten, lernte andere Kulturen kennen, ließ sich berühren von Schönheit, spürte der Wildheit oder Genügsamkeit von Landschaften nach. Oder genoss große Städte, ihre Opernhäuser und Marktplätze, ihre Eigenarten, ihre Hässlichkeit und Einmaligkeit.
Es wurde eine ganz besondere Gruppe, die mit ihr entschied, wohin und wie lange eine Reise gehen sollte und die nicht in die typischen Touristikzentren wollte, sondern das Besondere suchte, das Ausgefallene.
Es waren auch meist dieselben dreizehn Teilnehmer, selten kamen neue hinzu, wie dieser Philipp Hochheimer, der vor einigen Monaten von ihrer Gruppe gehört hatte und seither jede Reise mitmachte, sei es nach Spanien oder Finnland, in die Provence oder nach Norwegen - er war scheinbar immer zufällig an ihrer Seite.
Während die letzten Töne des Adagio  verklangen, dachte sie: ‘Lukas Unfall hat alles, hat mein ganzes Leben verändert.’
Sie hatte gleich danach eine lange Pause eingelegt, doch als ihr bewusst wurde, dass ihr Mann nicht mehr zu ihr zurückkommen würde, entschied sie für sich, noch einmal ganz neu anzufangen. Mit Reisen und mit... Stein.
Nachdenklich stellte sie das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Während sie duschte und sich anzog, beschloss sie, sich morgen wieder einmal den ganzen langen Tag Zeit zu nehmen, um einzutauchen in ihre neue, ihre andere Welt, die sie in den vielen, den unzähligen Stunden des Wartens, Hoffens, der Verzweiflung und Trauer für sich entdeckt hatte.
Wieder ging sie, wie vor zwei Stunden, an der verschlossenen Tür vorbei. Morgen...





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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag03.02.2013 20:03

von madrilena
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Die Kapitel im Pflegeheim werde ich im Präsens schreiben. Dann heben sie sich besser vom übrigen Text ab.
Ob man das hier auch machen kann? Ich habe es in meinem letzten Buch bei den ganz wichtigen Kapiteln auch gemacht und ich glaube, es war richtig so.
Gruß madrilena

4.
An der Rezeption vom Marienstift  fragt man schon lange nicht mehr nach ihrem Namen. Sie nickt Elke, die heute Dienst hat, nur freundlich zu. Drückt auf den Knopf des Aufzugs und lässt sich in den 3. Stock bringen. Jedes Stockwerk hat einen anderen Teppichboden, damit die Menschen, die sich noch im Haus bewegen können, gleich erkennen, ob sie in diesem Stockwerk tatsächlich ihr Zimmer haben. Auf der Station, auf der Lukas liegt, ist der Teppich rot – so lebendig rot! An den Wänden hängen farbenfrohe Bilder, manchmal auch uralte Filmaufnahmen aus den 20ern des vorigen Jahrhunderts.  
Sie geht am Schwesternzimmer vorbei, wo Gertrud zerstreut von ihrem PC aufschaut und sie über die Brille hinweg mit einem Lächeln begrüßt.
„Was Neues“? Sie weiß, die Frage kann sie sich sparen, es ist eher die Routinebegrüßung, und dennoch schwingt immer ein ganz winziges Zipfelchen Hoffnung mit. Gertrud schüttelt traurig den Kopf – sie verstehen sich wirklich gut und brauchen in dieser Situation nicht viele Worte.
Lisa geht bis zum Ende des Ganges – Lukas hat das schönste Zimmer in diesem Stockwerk, wenigstens dafür wollte sie sorgen. Leise drückt sie die Klinke runter, tritt vorsichtig ein und weiß doch genau, dass sie nicht leise zu sein braucht – er hört und sieht sie ja doch nicht.
Und wenn er mich fühlt? Diese schreckliche, diese entsetzliche Unsicherheit.
Es riecht nach Desinfektionsmitteln und wieder erfüllt den Raum eine schummrige Dunkelheit, da die Vorhänge an den beiden großen Fenstern zugezogen sind. Wie oft hat sie schon darum gebeten, diese Vorhänge offen zu lassen. Licht soll Lukas umgeben, Sonnenstrahlen und Sternenleuchten ebenso wie Mondlicht sollen ungehindert  in diesen kleinen Lebensbereich fließen können. Sie zieht die Vorhänge zur Seite, öffnet ein Fenster weit, dreht sich um und tritt an das Bett ihres Mannes.
‚Meines Mannes’! , das war er doch schon so lange nicht mehr und gleichzeitig löst diese Feststellung wieder das nun schon wohlbekannte Schuldgefühl in ihr aus. Bis dass der Tod Euch scheidet! Hatten sie sich nicht genau das vor 26 Jahren geschworen?
An manchen Tagen wieder erwachende Hoffnung. Warum steigert sich die Frequenz seines Herzschlags, wenn sie ihm zärtlich über das Gesicht streicht? Dann hat sie das Empfinden, dass er doch spürt, wenn sie mit ihm leise spricht, wenn sie seine Lieblingsmusik auflegt – jedes Mal eine andere Klassik-CD mit Musik von Mahler und Tschaikowsky, aber auch Mozart und Beethoven. In solchen Stunden sitzt sie an seinem Bett, hält seine Hand, erzählt ihm von jenem Abend in der Alten Oper von Frankfurt, wo sie einst das Klavierkonzert von Tschaikowsky zusammen gehört haben. Erinnert ihn an die wunderbare Aufführung von Mahlers 5. Symphonie im Kloster Eberbach oder flüstert ihm den Text des Liedes „Urlicht“ aus Mahlers zweiter Symphonie ins Ohr. Vor allem die beiden letzten hoffnungsvollen  Zeilen:
Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!
Fragt sich gleichzeitig verzweifelt: „Welches Lichtlein wird er dir geben“.
Oft kann sie die Tränen nicht zurückhalten.
Aber auch manchmal nicht die Wut. Dann möchte sie ihn schütteln, möchte schreien, warum bist du damals nicht langsamer gefahren, warum hast du die Geschwindigkeit mehr geliebt als dein Leben. Du kanntest den Wetterbericht, warum Lukas, warum hast du uns allein gelassen? Fragen, die keine Antwort kannten.
Sie bleibt immer lange bei ihm, legt sich oft neben ihn ins Bett, umfasst ihn, schmiegt ihr Gesicht an seine Schulter. Will ihm ihre Nähe, ihre Wärme, ihre Lebendigkeit geben und spürt doch, dass sie nicht in das Zwischenreich seines Daseins dringen kann. Die Tür des Diesseits ist geschlossen und die des Jenseits noch nicht geöffnet. Wie soll sie ihn denn dann erreichen?
Sie erhebt sich, schließt das Fenster, flüstert leise: „Ich komme wieder. Übermorgen! Hab keine Angst!“ Möchte gehen und möchte bleiben und weiß, wie Verzweiflung schmeckt.


 


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Vogel
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 436

Goldene Neonzeit


Beitrag04.02.2013 19:30

von Vogel
Antworten mit Zitat

Hallo Madrilena,

freut mich, dass es weitergeht. Mir persönlich sind in Teil 2. und 3. zuviele Rückblenden und Exkurse. Ich musste mich da zum Teil schon etwas zwingen, weiterzulesen. Ich finde, im Gegenzug dazu ist Teil vier viel fesselnder. Mal unabhängig davon, ob er jetzt im Präsens geschrieben ist oder nicht spielt er in der Gegenwart, wogegen die vorherigen Teile sich schon mit Rückblicken befassen, bevor man so richtig in die aktuelle Situation und die Protagonistin eingestiegen ist. Mir ist klar, dass die Exkurse ja die Protagonistin einführen, beschreiben sollen, aber mir würde es besser gefallen, wenn ich diese Informationen beiläufiger bekäme. Zumal es sich ja um recht alltägliche Aspekte handelt, also nichts wo ich denke: ja, das will ich jetzt auf jeden Fall erst mal wissen, das ist mir jetzt wichtiger als der aktuelle Handlungsstrang.
So ähnlich geht es mir auch mit Deiner Sprache. Du drückst Dich sehr geschliffen und elegant aus, aber es klingt für mich auch immer sehr "verschriftet", sehr kopflastig. Ich glaube, ich würde von einer Sprache, die unauffälliger daher kommt, mehr gefangen.
Nun muss ich aber dazu sagen, dass ich ein junger (?, einst jedenfalls) Mann bin und wahrscheinlich nicht ganz der Zielgruppe entspreche.

Details:



Zitat:
Sie stellte die Fotografie auf den Nachttisch. Angelte nach ihren Schuhen. Fuhr sich mit beiden Händen durch’s Haar. Starrte in den dem Bett gegenüber angebrachten Spiegel.

Diese Aufzählung ohne Pronomen hat für mich etwas Atemloses, das mir nicht ganz zum Tempo der Handlungen passen will.

Zitat:
Einen kurzen Augenblick lang war es ihr dann unmöglich, die Erscheinung, die dort wie von einer Fremden auftauchte, mit der Vorstellung zusammenzubringen, die sie von sich selbst hatte.

"Wie eine Fremde" hätte ich geschrieben, dann hätte man das doppelte "von" vermieden. Außerdem würde ich ohnehin nicht "Erscheinung von" schreiben, "Spiegelbild von", ja, aber bei Erscheinung passt es finde ich nicht.


Zitat:
Gleichzeitig verdrängte sie das Bild von Lukas, der beim Frühstück ihr gegenüber gesessen hatte. War das erst vier Jahre her? War es schon vier Jahre her?

Plusquamperfekt finde ich unangebracht. Das Bild im Kopf zeigt ihn ja, wie er da sitzt, zeitlos. Das "erst"/"schon"-Spiel finde ich sehr gut.


Zitat:
Sie sprach mit ihren Pflanzen. Eines Tages kam Caroline hinzu und schaute sie halb skeptisch und halb belustigt an:
„Sag mal, ist das die Folge vom Alleinleben?“
„Nein. Aber glaubst du nicht auch, dass Pflanzen eine Seele haben? Vielleicht können sie fühlen, wenn ich mit ihnen spreche“, was ihr von ihrer Tochter nur ein Achselzucken eingetragen hatte. Jetzt dachte sie entsetzt: 'Sollte Lukas weniger fühlen als ihre Pflanzen?'

Diesen Abschnitt finde ich sehr verwirrend. Es ist quasi ein Rückblick, der in gegenwärtige Gedanken eingeschoben ist, aber nicht durch eine abgeschlossene Vergangenheitsform gekennzeichnet ist. Durch das "kam hinzu" klingt es eigentlich erst recht so, als käme C. zur aktuellen Situation hinzu (auch wenn ich verstanden habe, dass sie zum Mit-den-Pflanzensprechen dazu kam). Dann finde ich auch die Konstruktion seltsam, nach der zweiten wörtlichen Rede mit Komma und "was ihr...eingetragen hatte" fortzufahren. Als wäre die wörtliche Rede ein Substantiv. Und zuguterletzt hast Du geschrieben: 'Sollte Lukas weniger fühlen als ihre Pflanzen?´ Obwohl es in der direkten (Gedanken-)Rede natürlich "meine" heißen müsste.



Zitat:

Und unter den Straßen das andere Mainz, die unzähligen, ehemals römischen Zeugnisse vergangenen Lebens.

Sie sind doch immer noch römisch?!

Zitat:
Sie wandte sich wieder ins Zimmer zurück, ging zum Musikschrank, griff wahllos nach einer CD - las Johannes Brahms, 1. Klavierkonzert und entschied sich für das Adagio, das Brahms nach eigenen Aussagen als sanftes Porträt von Clara Schumann musikalisch gemalt hatte.

Musik scheint bei Lisa und Lukas eine große Rolle zu spielen. Dann finde ich es eher unrealistisch, dass sie wahllos danach greift.


Zitat:
‘Kein Wunder, jetzt konnte ich endlich mühelos Familie und Beruf bewältigen.

Oben wurde schon mal aufgeworfen, ob man wirklich so denkt, wie Du es Lisa in den Mund legst. Sicherlich ist es Geschmackssache, aber ich denke, so formuliert wirklich niemand in Gedanken. Übrigens fehlt das zweite Anführungszeichen.
  
Zitat:
Das war nicht immer so gewesen. Manchmal dachte sie schon: ‘Wie oft musste ich mich zwischen Reisen und Fotografieren entscheiden. Immer wieder gab es lange Pausen zwischen beidem, doch meistens habe ich rasch von einem zum anderen zurückfinden können.’

Ich würde denken, Reisen und Fotografieren müssten sich so gut ergänzen wie nur wenige andere Interessen? Und ich sehe einen Widerspruch zwischen "Das war nicht immer so" und "meistens habe ich rasch ... zurückfinden können".

Zitat:
‘Wenn ich doch nur jedes Licht einfangen könnte,

Hier fehlt wieder das zweite Anführungszeichen.

Zitat:
Dieses erste Glühen, wenn der Tag stärker wird als die Nacht. Die frühe Morgenluft, noch nicht ein- oder ausgeatmet, so, als gehörte sie ihr - ihr ganz allein.

Das finde ich sehr schön!

Zitat:
„Und wann holst du den Schlaf nach.“ Schmerzhaft die Erinnerung an die Zärtlichkeit, als sie, an ihn geschmiegt, geflüstert hatte: ‘In einer ausgedehnten Siesta! Hast Du Lust?’

Müsste da nicht ein Fragezeichen hinter seine Frage? Und müsste ihre Antwort nicht auch in richtige Gänsefüßchen?

Zitat:
Doch ab jetzt wurde es anders, zwei bis drei Reisen pro Jahr, keine länger als höchstens zwei Wochen und sie hatte nie das Gefühl, dass Caroline dadurch vernachlässigt würde, da sie in Lukas einen wunderbaren Vater hatte, der nun doch ihre gegenseitige, damalige Absprache voller Liebe erfüllte.

Ein sehr langer Satz.
 
Zitat:
Es waren auch meist dieselben dreizehn Teilnehmer, selten kamen neue hinzu, wie dieser Philipp Hochheimer, der vor einigen Monaten von ihrer Gruppe gehört hatte und seither jede Reise mitmachte, sei es nach Spanien oder Finnland, in die Provence oder nach Norwegen - er war scheinbar immer zufällig an ihrer Seite.

Die sind in "einigen Monaten" schon in Spanien, Finnland, der Provence und Norwegen gewesen? Nicht schlecht.
Dieser Philipp Hochheimer wird wohl noch eine Rolle spielen...


Zitat:
Mit Reisen und mit... Stein.

Jetzt bin ich neugierig. Entweder ist das eine spannende Andeutung, von der ich nicht ahne, worauf sie hindeutet. Oder ich habe irgendwas nicht verstanden. Okay, lese gerade noch mal den folgenden Abschnitt. Neue, andere Welt... der Steine? Hey, ich bin gespannt!


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madrilena
Klammeraffe

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Beitrag04.02.2013 20:21

von madrilena
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Hallo Vogel - vielen Dank für Deine geduldige Zerpflückung meines Textes, was ich wirklich toll finde. Ich werde mir das alles ausdrucken und dann Schritt für Schritt meinen Text daraufhin überprüfen. Weiß aber jetzt schon, dass ich viele Deiner Einwände berücksichtigen werde.
Dass ich oft ohne Subjekt schreibe "angelte nach ihren Schuhen etc. ist eine Eigenart meines Schreibens, die werde ich aber nicht unbedingt ändern.
Wie gesagt - ich prüfe nach und stelle dann den verbesserten Text nochmals rein. Dass er vielleicht zu viele Bezüge zur Vergangenheit hat, ist möglich. Weniger ist immer mehr.
Herzlichst
madrilena


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madrilena
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Beitrag05.02.2013 15:35

von madrilena
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Verbesserte Version von Kapitel 2 und 3. Kapitel 4 habe ich so gelassen, wie ich es hier schon reinstellte. Dank Vogel habe ich noch einmal einiges grundlegend verändert. Dennoch wäre ich weiterhin für Kritik dankbar, auch wenn ich Euch dann nicht mehr mit einer verbesserten Version langweilen möchte.
G madrilena

2.
Plötzlich kehrte die Müdigkeit wieder. ‚He Lisa, steh auf, nicht wieder diese Überlegungen’. Manchmal musste sie so mit sich reden, um in die Gegenwart zurückzukehren. Sie stellte die Fotografie auf den Nachttisch zurück. Angelte nach ihren Schuhen. Fuhr sich mit beiden Händen durch’s Haar. Starrte in den dem Bett gegenüber angebrachten Spiegel.
‘Jeden Morgen dasselbe. Jeden Morgen konfrontierst du mich damit, wie unbarmherzig die Zeit vergeht.’ Einen kurzen Augenblick lang war es ihr unmöglich, in dem Spiegelbild, das dort wie von einer Fremde auftauchte, sich selbst zu erkennen. Entschlossen wandte sie sich ab.
Ging mit klopfendem Herzen an der verschlossenen Tür vorbei, unter der verlockend ein Lichtstrahl schimmerte. Soll sie hineingehen?’ Zögern... dann ging sie doch weiter. Lief die Wendeltreppe hinunter und betrat die Küche. Sie kochte sich einen Tee. Dazu einige Stücke Ingwer und ein wenig Kaffeesahne. Bestrich zwei Scheiben Knäckebrot mit Frischkäse und Marmelade. Trug Teller und Tasse vorsichtig ins Wohnzimmer. Sie setzte sich mit angezogenen Beinen auf ihre gemütliche Ottomane und dachte ein wenig spöttisch: ‚Die hab ich auch nur gekauft, weil mir der altmodische Name so gut gefällt’.
Gleichzeitig verdrängte sie das Bild, wie Lukas Morgen für Morgen beim Frühstück ihr gegenüber gesessen hatte.  War das erst vier Jahre her? War es schon vier Jahre her?
Sie stellte den Teller auf den Couchtisch, stand auf, trat an eines der großen Fenster und spürte warm und lebendig die Morgensonne, die ihr Gesicht streifte.
Ihr umherschweifender Blick verweilte auf dem Dom. Ein Bild, immer wechselnd, je nach Tages- oder Jahreszeiten von Sonnenlicht überglänzt, in Regenwolken gehüllt.
Sie hatte nie in diese Stadt ziehen wollen. Lukas war es, der wollte. Sie meuterte:  „Die Stadt ist doch so was von kleinbürgerlich, sogar spießig“.  Lukas wollte sie damals beruhigen: „Lern sie doch erst mal kennen. Hier ist es ja auch nicht gerade weltstädtisch oder? Außerdem sollten wir an Caroline denken. Drei Jahre vor dem Abitur, da müssen wir ihr die tägliche Fahrerei ersparen.“ Er hatte sie mit seinem zärtlichen Lächeln angeschaut und noch hinzugefügt: „Dein Reisebüro ist doch auch ganz in der Nähe.“
Sie wusste, dass er Recht hatte, dennoch begehrte sie trotzig auf:
„Aber ich lieb dieses kleine Dorf, unser Haus und unseren Garten'“ Und in Gedanken hinzugefügt: ‘Ich liebe mein Leben im eigenen Haus, in einer Umgebung, wo ich jeden Weg kenne, wo mein Lieblingsbaum steht, den ich  manchmal umarme, weil ich mir einbilde, dass er mir Kraft spendet.’
Heute war sie glücklich über seine damalige Hartnäckigkeit. Ihr Traum von einer gemeinsamen Zukunft mit Lukas wäre auch dort auf grausame Weise unerfüllt geblieben.

3
Mainz kleinbürgerlich? Spießig? Als sie anfing, die Stadt zu durchstreifen, schämte sie sich bisweilen dieser voreiligen Beurteilung. Sie entdeckte  ihren  ganz besonderen Charme – traditionell und gleichzeitig modern, weitläufig die Anlagen, eng die Gässchen der Altstadt.
Und unter den Straßen das andere Mainz, die unzähligen römischen Zeugnisse vergangenen Lebens. Eine versunkene Welt, heute wieder lebendig und zugänglich.
Neugierig gemacht durch ihre berufliche Erfahrungen als Reiseleiterin hatte Lisa angefangen, die Gegenwart und Vergangenheit von Mainz zu erkunden.
Sie wandte sich wieder ins Zimmer zurück, ging zum Musikschrank, suchte  unter „S“ nach Schubert, fand das Adagio DV 897, legte die CD ein. Spürte die Intensität dieser Musik, sehnsüchtig und unfassbar traurig.
„Warum Lukas - warum? Unser Leben war doch so erfüllt, wir waren eine Familie, Lukas, eine glückliche Familie.“
Sie versank in Erinnerungen. Die Anfangsjahre ihrer Ehe, die Geburt Carolines. Damals gab sie ihren Beruf als Reiseleiterin auf, was ihr nicht schwer gefallen war. Sie hatte ja neben der Aufregung der ersten Muttererfahrungen noch ihre Fotografie. Es war so verführerisch - scheinbar Unwesentliches sichtbar zu machen, mit Licht, Schatten und Farben zu spielen,  Bilder zu komponieren. ‘Meine ersten Veröffentlichungen in Büchern und zwei Ausstellungen - was war ich stolz gewesen.’  Lächelte bei dem Gedanken daran, wie sie sich gewünscht hatte, jedes Licht einfangen zu können und erkennen musste, dass Licht sich nicht fotografieren ließ, nur seine Wirkung.
„Lukas, erinnerst du dich noch daran, wie ich mich schon frühmorgens, nachdem Caroline gefüttert war, auf den Weg in die umliegenden Felder gemacht habe? Dieser klare hohe Himmel, das erste Glühen, wenn der Tag stärker wird als die Nacht. Manchmal hatte ich das Empfinden, dieses Glücksgefühl nicht aushalten zu können.  Die frühe Morgenluft, noch nicht ein- oder ausgeatmet, so, als gehörte sie mir - mir ganz allein.“
Begeistert hatte sie Lukas erklärt: „Ein Fotograf darf morgens nicht lange schlafen, die Beleuchtung ist in den frühen Morgenstunden einzigartig.“ Sie hörte noch heute seine scherzhaft hingeworfene Frage: „Und wann holst du den Schlaf nach“? Schmerzhaft die Erinnerung an die Zärtlichkeit, als sie, an ihn geschmiegt, geflüstert hatte: „In einer ausgedehnten Siesta! Hast Du Lust?“
Wie viel erfüllte Sehnsucht - damals.  
Wann hatte sie gemerkt, dass Ihr Reisen wieder wichtig geworden war? In jenem Jahr, als Caroline in den Kindergarten kam?  
Im Stillen hatte sie erwartet, dass Lukas vielleicht dagegen protestieren würde, schließlich verlangte Caroline sehr viel Aufmerksamkeit. Aber waren sie sich nicht von Anfang an einig  gewesen, dass sie Beide für das Kind da sein wollten? Zuerst war dies allerdings eine theoretische Abmachung, denn es war sie, Lisa, gewesen, die ihr Leben geändert hatte. Lukas genoss seine berufliche Laufbahn erst als Dozent, später als Professor an der juristischen Fakultät in Frankfurt.  
Doch ab jetzt wurde es anders. Zwei Reisen pro Jahr. Keine länger als höchstens zwei Wochen, und sie hatte nie das Gefühl, dass Caroline dadurch vernachlässigt würde. Lukas war ein wunderbarer Vater, der sich an ihre gegenseitige Absprache hielt und viel Zeit mit Caroline verbrachte.
Und sie selbst war wieder Reiseleiterin! Was für ein sachlicher Begriff - Reiseleiterin. ‘Ich war und bin Mitreisende in einer superinteressanten Gruppe. Alles haben wir gemeinsam erlebt.  Neue Welten, andere Kulturen. Waren begeistert von fremder  Schönheit, berührt von der Wildheit oder Genügsamkeit unbekannter Landschaften. Sind stundenlang durch große Städte gestreift, bewunderten ihre Opernhäuser und Marktplätze, ihre Eigenarten, ihre Hässlichkeit und Einmaligkeit. Und zu Hause konnte ich Lukas davon erzählen’.
Sie ging in die Küche, überbrühte sich noch einen Kaffee, trank ihn am liebsten so heiß, dass sie sich manchmal die Zunge verbrannte. Ließ sich wieder auf der Ottomane nieder. Sprach mit Lukas, als säße er neben ihr, den Arm um ihre Schultern gelegt, aufmerksam zuhörend.
„Immer wolltest du etwas über meine Gruppe hören, meine so besondere Gruppe. Sie und ich entschieden gemeinsam, wohin die Reise gehen und wie lange sie dauern sollte. Es war ja nicht die typische Reisegruppe, die nur an Touristenzentren interessiert war. Nein, es musste stets was Besonderes sein. Damals waren wir 12 Leute, heute sind wir dreizehn, aber das weißt du nicht mehr.’“
Als sie vor knapp zwei Jahren wieder mit dem Reisen angefangen hatte, war noch  Philipp Hochheimer zu ihnen gestoßen. Und seither hat er  jede Reise mitgemacht. Zuerst nach Südspanien, ein halbes Jahr später in die Provence und im letzten Jahr hatte er sich auch für Norwegen angemeldet. Und scheinbar zufällig war er immer an ihrer Seite.
„Lukas, das heißt gar nichts. Nicht wahr, das weißt du?“ Was soll diese ängstliche Versicherung? Bedeutete sie, dass sie jetzt nie mehr, nie mehr Interesse an jemand anderm...?
Während die letzten Töne des Adagio  verklangen, dachte sie: „Trotzdem - seit ich weiß, dass du nie mehr zu mir zurückkehren wirst, habe ich mich entschieden, noch einmal ganz neu anzufangen. Mit Reisen und mit... Stein“.
Nachdenklich stellte sie das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Während sie duschte und sich anzog, beschloss sie, sich morgen wieder einmal den ganzen langen Tag Zeit zu nehmen, um einzutauchen in ihre neue, ihre andere Welt, die sie in den  unzähligen Stunden des Wartens, Hoffens, der Verzweiflung und Trauer für sich entdeckt hatte.
Wieder ging sie, wie vor zwei Stunden, an der verschlossenen Tür vorbei. Morgen...


_________________
Bücher im Alkyon Irmgard Keil Verlag/Marbach "Schatten umarmen" Kranichsteiner Literaturverlag.
1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
4."leben" ISBN 10:3934136656
Erhältlich bei Amazon über buchimport Peter Reimer + in Buchhandlungen
Schatten umarmen auch über Libri.
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Vogel
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 436

Goldene Neonzeit


Beitrag05.02.2013 22:14

von Vogel
Antworten mit Zitat

Deutlich flüssiger lesbar jetzt und deutlich mehr im hier und jetzt!

Gruß
Vogel


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madrilena
Klammeraffe

Alter: 87
Beiträge: 647



Beitrag10.02.2013 19:54

von madrilena
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Nachdem ich Kapitel 4 schon reingestellt hatte, hier mal das 5. Ich weiß, es ist viel Text, aber das Kapitel unterteilen, mag ich auch nicht.
Ich würde mich über Kritik freuen.
Gruß madrilena

5.
Langsam, wie in Zeitlupe, entglitt ihr der Meißel. Mit einem leisen Aufprall schlug er auf den Boden. Genervt bückte sie sich, suchte im Staub und zwischen kleinen Steinbrocken nach ihrem Werkzeug. Nachdem sie es gefunden hatte, wandte sie sich dem breiten drehbaren Bock zu, auf dem ihre letzte, mit einem Tuch bedeckte Arbeit stand. Ertastete durch den rauen Stoff den Stein, spürte unter ihren Händen die Rundungen und Linien der Frauengestalt, die seit Monaten nicht nur ihre Träume und Fantasien gefangen hielt, sondern auch oft genug half, die trostlosen Eindrücke der Tage im Pflegeheim ertragen zu können. .. Nirgendwo verbrachte sie so gern ihre Zeit wie hier, in diesem Raum im Obergeschoss ihrer Wohnung.
Manchmal dachte sie verwundert, wer mich hier sehen könnte! Sie stellte sich das Erstaunen der Menschen vor, die sie nur elegant und nach der letzten Mode gekleidet kannten. Aber diese Frau war sie nur außerhalb dieses Raumes. Hier war sie ungeschminkt, hatte die Haare hochgebunden. Trug am liebsten lange, bunte Gewänder aus grobem Leinen und offene Sandalen an den nackten Füßen.
Diese Lisa, die kaum jemand kannte, diszipliniert beim Arbeiten und chaotisch zugleich: Werkzeuge, Fotos, Skizzen und erste Entwürfe in Ton stapelten sich auf Tischen. An einer der Wände stand ihr alter großer Schrank, in dem sie ihre allerersten Versuche aufbewahrte. Nichts konnte sie wegwerfen. Jede zerbrochene Vase, jeden misslungenen Beginn eines neuen in Ton geformten Gedankens hob sie auf, unfähig die Vorfreude und Aufregung, die in diesen Anfängen steckten, einfach zu entsorgen. Aber auch kleine gelungene Werke aus ihrer Anfangszeit hatten dort einen Ehrenplatz.
Diffuses Licht drang durch die bis zum Boden reichenden Fenster, füllte den Raum mit fremdartiger Unwirklichkeit und gab einer Frauenbüste, einem Kinderkopf, einem Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln durch Licht und Schatten eine scheinbare Lebendigkeit. Der Vogel war eine ihrer Lieblingsfiguren. Sich in die Luft erheben. Davonfliegen. Dem Strahlen der Sonne entgegen. Weit hinaus in einen niemals endenden blauen Sommerhimmel. Und das Jetzt vergessen.
Vorsichtig entfernte sie das Tuch, drehte den großen, auf Rädern stehenden Sockel von einer Seite zur anderen, um wieder einmal die tief gebeugte Gestalt aus jedem Blickwinkel betrachten zu können. Sanft strich sie über die Figur aus schwarzem Obsidian, dem spröden Lavagestein mit seinem leicht metallischen, gläsernen Glanz. Die Frau hatte die Beine angezogen, den Körper lang gestreckt, der leicht angehobene Kopf ruhte auf den Armen.
Entschlossen setzte sie auf dem ebenmäßigen, schmalen Rücken den Meißel an. ‚Halt! Will ich das wirklich? Vielleicht war es ja ein Zeichen, dass der Meißel  heruntergefallen war, vielleicht die  Aufforderung, nichts mehr zu ändern’.
Wieder fiel ihr das Gespräch ein, das sie vor Tagen mit Caroline geführt hatte und das heute der Grund war, dass sie Hand an ihre Kniende legen wollte.
Caroline war überraschend im Atelier aufgetaucht. Hatte, erstaunt auf die im Morgenlicht dunkel schimmernde Figur deutend,  gefragt: „Hast du absichtlich eine Yogaübung geschaffen?", und beinahe ehrfürchtig den schwarzen Stein berührt.
„Nein, warum? Ich habe keine Ahnung vom Yoga“. Verlegen hatte sie sich mit ihren staubigen Händen die Haare aus dem Gesicht gestrichen und neugierig hinzugefügt: „Sag schon, was bedeutet diese Übung?“
„Wir nehmen im Yoga diese Stellung eines Embryos im Mutterleib ein, um Demut, Urvertrauen und völliges Loslassen zu üben“.
Lisa wollte fragen: „Hast du es geschafft, hast du dieses Urvertrauen?“ Da sie ahnte, was die Antwort sein würde, hatte sie geschwiegen. Mehr als Feststellung denn als Frage meinte sie:
„Völliges Loslassen! Das gibt es nicht und ich weiß nicht, wie man so etwas üben kann. “
Behutsam hatte Caroline den Arm um die Mutter  gelegt.
„Ich weiß, und es geht mir genauso, es  ist so unvorstellbar. es bedeutet Sterben. Bedeutet etwas nicht Begreifbares.“
Lisa hätte so gern geantwortet: „Nicht begreifbar? Ist es das wirklich? Und wie ist es mit Lukas?“  Während sie sich einen Augenblick der Wärme der Umarmung Carolines hingegeben hatte, erfüllten sie quälend die seit so langer Zeit immer wieder unterdrückten Fragen: Hat er losgelassen?  Sein Geist, seine Seele vielleicht, aber sein Körper? Der schafft es nicht, klammert sich an das erbärmliche Dasein in der Dunkelheit des Niemandslandes. Doch sie hatte geschwiegen. Es war auch sinnlos, mit Caroline über diese Fragen zu sprechen. Seit dem Tag des Unfalls wich sie jedem Gespräch aus.
Sie hatte sofort nach dem Geschehen versucht, Caroline ganz dicht an alles heran zu lassen, was sie selbst dachte, fühlte, fürchtete. Bis sie merkte, dass Caroline seit damals, seit sie erfasst hatte, was geschehen war und wie weit weg ihr Vater mit einem Mal war, hinter einen Schutzwall von Hoffnung geflüchtet war. Sie wollte  nicht hinnehmen, was so offensichtlich war. Oder konnte sie es nicht? Hatte sie nicht erst in dieser Zeit mit Yoga angefangen und bedeutete das die Suche nach einem Weg, um an ihrer Fassungslosigkeit und Trauer nicht ersticken zu müssen? Ihr Vater – wie oft hatte sie durch die Reden ihrer Mitschülerinnen und später mit Kommilitonen gemerkt, wie unterschiedlich die einzelnen Verhältnisse zu den Eltern waren. Und welch eine wichtige Rolle er in ihrem Leben gespielt hat. Er war nicht wie andere Väter, die sich nur manchmal bewusst machten, dass sie eigentlich ein Kind hatten.  Sie und er hatten so viel Zeit als möglich miteinander verbracht. Die Tage oder Wochen, die Lisa unterwegs mit ihrer Reisegruppe war, hatte eine besonders enge Verbindung zwischen den Beiden geschaffen. Er war es, der ihr abends vorlas. Der in der Schule zu den Elternsprechtagen ging, wenn Lisa nicht da war. Der sie beim ersten Liebeskummer in den Arm genommen hatte. Er war der Mensch, dem ihr ganzes Vertrauen gehörte, mehr als der Mutter. Aber Lisa versuchte das zu verstehen. Das war der Preis, den sie zahlen musste, dafür, dass sie ihren Beruf nicht aufgeben wollte.
Obgleich sich Caroline gegen jedes Gespräch wehrte, hatte Lisa an jenem Tag gespürt, dass Caroline auch ohne Worte wusste, was ihre Mutter eigentlich sagen wollte. Sie hatte Lisa abrupt losgelassen, war erregt im Raum auf und ab gegangen, eine schmale Gestalt, ganz in Schwarz, so als hätte sie ein Gelübde abgelegt, dass sie erst wieder Farbe in ihr Leben lassen würde, wenn der Vater zu ihr zurückkehrte. Mit vor Erregung zitternder Stimme schrie sie: „Papa ist nicht tot. Es gibt nichts, was ich nicht über seinen Zustand recherchiert hätte“. Lisa wollte sie unterbrechen und sagen „ich auch“, aber sie hielt sich zurück und Caroline hatte noch hinzufügt: „Er wird wieder zurückkehren – er ist nur mal eine Weile in eine andere Welt gegangen, aber er kommt wieder“. So hoffnungsvoll diese Worte auch klangen, Lisa hatte gespürt, dass ihre Tochter zwar an ein Wunder glauben wollte und ihm doch zutiefst  misstraute.
Sie hatte sich dann sehr schnell verabschiedet – es glich eher einer Flucht, und Lisa hatte sie nicht zurückgehalten. Sie betrachtete noch lange nachdenklich ihre Skulptur betrachtet.
Demut? Nein, sie konnte keine demütige Haltung in ihr sehen. Embryo im Mutterleib – die Vorstellung von völligem Behütetsein und gleichzeitiger unwiderruflichen Trennung war gewiss schön, aber was war mit der jahrelangen gegenseitigen Abhängigkeit?’
Sie war einen Schritt zurückgetreten, um einen Abstand zwischen sich und der steinernen Frau zu schaffen. Und unsicher  überlegt: Wenn ich fähig bin, eine Figur zu schaffen, die das ausdrückt, was Caroline eben erklärt hat, könnte ich doch einfach einmal versuchen, selbst diese Stellung einzunehmen.
Sie erinnerte sich mit einem traurigen Lächeln daran, wie sie Steinreste und Staub ein wenig zur Seite geräumt, sich langsam auf dem Boden niedergelassen hatte – zuerst auf die Knie, danach den Körper ganz lang gemacht, den Kopf auf die Arme gelegt. Doch nichts geschah in ihr.  Sie hatte nur mit jeder Faser ihres Körpers die Härte des Fußbodens gespürt und sich auch nicht darüber gewundert, dass sie nichts von dem empfinden konnte, was Caroline angedeutet hatte. Natürlich war ihr klar, dass dies ganz sicher nicht beim ersten Mal möglich wäre, aber ihre Reaktion war so pragmatisch gewesen, sie hatte nur noch mühsam versucht, sich so schnell wie möglich zu erheben.
Heute war sie entschlossen, ihre Figur zu verletzen, so wie das Leben sie verletzt hatte. Sie war so verstrickt in Zweifel, in Entsetzen, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, dass sie keine Figur erschaffen konnte, die makellos und unverwundet war.
Entschlossen brachte sie jetzt mit leichten Schlägen dem Rücken dieser Frauengestalt eine tiefe Wunde bei. Vorsichtig, damit der Stein nicht splitterte. Während sie die Raspel ansetzte, fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, dieser Frauengestalt ihr Handeln zu erklären. ‚Solange ich nicht fähig bin, Unabänderliches zu akzeptieren, solange ich auch keinen Weg in die Zukunft finden kann, weil ich einfach nicht weiß, wie ich mit ihr umgehen soll, solange muss diese Verletzung ein Teil von dir sein’.
Während dieser Überlegungen strich sie wie tröstend über den Frauenkörper. Als Entschuldigung?  Sie wusste es nicht.
Das feuchte Sandpapier blieb auf dem Tisch liegen. Noch war die Zeit nicht gekommen, um ungewollte Einkerbungen oder Unebenheiten dieses Eingriffs  zu glätten und zu polieren.


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1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
4."leben" ISBN 10:3934136656
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Gamone
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Alter: 46
Beiträge: 360
Wohnort: NRW


G
Beitrag12.02.2013 14:35

von Gamone
Antworten mit Zitat

Hallo Madrilena!
Sehr gerne lese ich deine Texte und zu viel war das nu nicht.
Der Text gefällt mir weiterhin sehr gut, vor allem deine Schreibweise.

Ein paar fehlende Buchstaben sind mir aufgefallen:
 - Einen kurzen Augenblick lang war es ihr unmöglich, in dem Spiegelbild, das dort wie von einer Fremde auftauchte(…)  +n
 - Neugierig gemacht durch ihre berufliche Erfahrungen(…) +n
 - Bedeutete sie, dass sie jetzt nie mehr, nie mehr Interesse an jemand anderm...? anderem
 - „Ich weiß, und es geht mir genauso, es ist so unvorstellbar. es bedeutet Sterben. Bedeutet etwas nicht Begreifbares.“ Groß


Ich freue mich auf die Fortsetzung!


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Gut ist besser als schlecht!
*H.S.*

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