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Mathematik


 
 
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Trimak
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 62
Beiträge: 25
Wohnort: Hamburg


Beitrag19.08.2012 22:36
Mathematik
von Trimak
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo zusammen,

ich bitte sehr um Feedback und Kritik zu diesem Anfang eines meiner Projekte. Die Geschichte spielt in West-Berlin, kurz nach dem Mauerbau,  ist für Jugendliche ab 14 gedacht und hat eigentlich Naturwissenschaften und Mathematik zum Thema. (1200 Worte, etwa 8 Minuten).


Mathe

"Komm' runter!" brüllte der Typ. Er stand auf dem Rasen unter dem Badezimmerfenster.  "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich. Wir hatten einen Hauswart, Choleriker, der war jedesmal kurz vorm Hirnschlag, wenn er jemanden dabei ertappte, einen seiner  geliebten Halme zu knicken. Und der Typ stand jetzt mit beiden Füßen auf diesem heiligen Teppich und lud mich zu einer Prügelei ein.

Extrem langsam, als wäre ich die Zeitlupe höchst persönlich, und so umständlich, daß man allein vom zugucken einen hysterischen Anfall bekommen mußte,  öffnete ich das Fenster.

 "Hast du gerufen?" fragte ich zuckersüß nach unten.

Viel Wind war nicht mehr drin in seinen Segeln. Er hatte eine schöne rote Birne bekommen und war damit beschäftigt sich nicht die Haare auszureißen.

"Komm' r  komm' ... komm' runter", stotterte er, und winkte mir mit geballten Fäusten.

"Ich muß noch Mathe machen", sagte ich cool, "und dann kommt meine Mutter, da muß ich zu Hause sein. Keine Zeit."

Meine Tante, so ein Marilyn Monroe Typ, hatte mir als ich noch klein war Gute Nacht Geschichten  vorgelesen. Märchen, von Grimm und was weiß ich wie die alle heißen. Rumpelstilzchen war's. Der Typ da unten erinnerte mich an Rumpelstilzchen.

Mir gefiel es hier nicht. Eine Neubausiedlung. Ich mochte das alte, ausgetretene Treppenhaus lieber. Die hohen Räume, in denen ich aufgewachsen war, den Geruch des Mörtels, der hölzernen Dielen und das Klacken der alten Drehschalter, Pertinax, wenn man das Licht anknipste. Und mir fehlten meine Freunde. Sie fehlten mir am meißten. Das war zwar abzusehen, aber offenbar nicht so wichtig gewesen. Freunde kann man ersetzen, eine Neubauwohnung nicht. Eine bescheuerte Logik.

"Wenn'n ich dh dh dich k k k kriege! D d da dann k k riekstdu d d Dresche!" Eigentlich stottert der Typ gar nicht. Die Aufregung.

"Ja", sagte ich, "ich trage dich schon mal in meinen Terminkalender ein. Wann passt es denn? Vormittag oder Nachmittag?" Er drehte noch ein paar Pirouetten und ich schloß  das Fenster, schön langsam und sehr sorgfältig. Keine Ahnung was der von mir wollte. Er war kaum eine Woche nach uns eingezogen, einen Hausaufgang weiter, und ich hatte auf der Klopfstange gesessen und den Möbelpackern dabei zugesehen, wie sie die Umzugskisten in die Wohnung schleppten.

Er klingelte  bei den Nachbarn. Erst unten, im Erdgeschoß, dann in der nächsten Etage und so immer weiter die Etagen hoch und alle drückten artig den Türöffner.  Mütter. Sehr schön auch der Busfahrer, der sich von der Nachtschicht ausschlafen wollte und aus dem Bett gekrochen kam, weil er eine wichtige Post erwartete. Ich stellte mich ins Treppenhaus und hörte zu, wie der Typ von den Erwachsenen in verdammt winzige Teile zerlegt wurde. Sie hatten interessante Argumente.


Ein paar Tage später, ich kam von der Schule nach Hause, stand er an der Buddelkiste.

"Kommst du runter? Spielen?" fragte er.

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, sagte aber: " Ja, ich muß nur meine Sachen nach oben bringen."

Ich bin Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, wegen des Krieges, aber der war nur eine Ausrede. Meine Mutter wollte ein Kind, ihr Kind, selbstgemacht und nicht weglaufbar mit einem Verfallsdatum irgendwann nach ihrem. Es teilen? Mit einem Mann? Undenkbar. Insofern war der Krieg ganz praktisch. Er lieferte Männer die Unterhalt zahlten und Ausreden. Meine Mutter war berufstätig, darum konnte ich bis zum Abendessen frei über meine Zeit verfügen. Ich sprang schnell die Treppen hoch, stellte die Tasche in den Flur und ging wieder hinunter, zur Buddelkiste.

"Wie heißt du? fragte er.

"Emka Em," sagte ich, "Moritz Kasimir Michael. Und du?"

Er grinste: "Bescheuert."

"Wie?"

 "Nee, Paul", sagte er schnell.

Er schlug ein Spiel vor, das ich nicht kannte. Jeder baut eine Sandburg und zerstört dann die des andern mit gezielten Steinwürfen. Geht eine geschlossene Formation in Trümmer, ein Turm zum Beispiel oder eine Brücke, darf der erfolgreiche Werfer einen zweiten Wurf ausführen. Dies Spiel kam mir beschränkt vor, warum sollte ich ihm eine Burg zum zertrümmern bauen? Doch nahm ich an. So lagen wir uns in der Sommersonne stundenlang stumm gegenüber und erfanden und konstruierten Gänge, Wälle, Tunnel und Gräben, eine Geschichte, die allem eine Bedeutung zuwies und fingen kurz bevor die heimbefohlene Zeit anbrach damit an, uns gegenseitig unsere Bauwerke zu zerstören.

Binnen weniger Minuten waren alle Schöpfungen wieder gewöhnlicher Sand. Paul hatte mit seinen Würfen meine  Anlage genauso schnell zerlegt wie ich seine, einen eindeutigen Sieger gab es nicht. Aber er sah das anders.

"Arschloch", brummte er mit finstrer Miene und ging nach Hause.

Mit dem würde ich auskommen müssen, wieder wegziehen war nicht drin.

In der Schule saß ich neben Heinz. Ein feingliedriger Junge, mit bleichem, schmalem Gesicht, der gern lachte und einen durchtriebenen Humor besaß. Wir verstanden uns glänzend und teilten die Liebe zu Mathematik und Physik. Er brachte von zu Hause immer neue Formeln mit, aus denen wir mit wenigen Zeichen Welten konstruierten und dann hemmungslos darin herumtobten wie mächtige Götter. Leider gerieten wir damit unserer Mathelehrerin in die Quere, die uns mit akribischer Leidenschaft nachzuweisen trachtete, dass wir nicht wissen konnten, dass y ein Verhältnis von x ist. Das es faktisch unmöglich ist, dass kein Kind so etwas in der fünften Klasse wissen und verstehen kann. Schließlich setzte sie uns auseinander, jeden neben einen Idioten.

Wir trafen uns Nachmittags, zündeten tausende von Streichhölzern, untersuchten unendlich viele Pflanzen, Steine und Sande, experimentierten mit der Brennbarkeit von Insekten und ließen nichts unversucht, die Welt, die wir vorfanden, bis in ihre letzte Faser auseinanderzunehmen. Und gelegentlich einen Popel auf ihr zu verschmieren.

Eines Tages beobachteten wir Paul, wie er hektisch über das Geländer zum Parkplatz kletterte und dabei immer wieder zusammenzuckte als bekäme er einen kleinen elektrischen Schlag. Wir waren hinter Lehmsandbergen verborgen, verkaufbarer Aushub, der bei den Bauarbeiten zu den Neubauten angefallen und hier auf großen Halden deponiert war. Ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Erst lachten wir über Paul und seine albernen Bewegungen. Als er jedoch den Parkplatz überquert und das zweite Geländer überwunden hatte sahen wir, dass seine Hände bluteten. Auf dem Geländer war Blut.

Paul hatte sich hinter den Mülltonnen versteckt. Er kauerte da, wie ein verängstigtes Tier. Heinz, der feine kleine Heinz und ich, wir gingen sehr, sehr langsam. Traten aus den Lehmhaufen auf die Straße, gingen über den heißen Asphalt und  hörten dann ein leises, hässlich aggressives, sphärisches Klingen. Ein unbekanntes, märchenhaftes Geräusch, und ich sah mich um, denn ich hörte es als Folge, so wie das Klack eines Tischtennisballs auf einer Tischtenniskelle und dann das Klick, wenn er auf die Platte trifft.

Im Balkonfenster stand Pauls Vater und lud sein Luftgewehr. Das sphärische Klingen war entstanden, als ein Projektil vom Parkplatzgeländer abgeprallt war.

Wir sagten: "Hallo Paul. Kommst du mit? Spielen?"

Er verbarg seine Hände, die von blauen Flecken und kleinen blutigen Stellen übersät waren.

"Klar", sagte er tapfer.

Wir gingen zusammen über die Straße. Ich hörte das 'Tschpatt' des Druckluftkolbens und dann das leise schwirrende Sausen des kleinen Bleiprojektils. Verfehlt. Wir verschwanden, unerreichbar für die Flinte, hinter den Lehmwällen und spielten. Für Paul.

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gold
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Beitrag20.08.2012 09:14
berührende Geschichte
von gold
Antworten mit Zitat

guten Morgen, Trimak,

zunächst einmal so viel:
dies ist bereits die zweite Geschichte von Dir, die mir sehr gefällt. Außerdem weiß sie zu berühren und das sehr! Wink

Ich werde dir im weiteren Verlauf noch schreiben, was mir außerdem noch aufgefallen ist.

Liebe Grüße
Gold


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gold
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Beitrag20.08.2012 10:26
Re: Mathematik
von gold
Antworten mit Zitat

Trimak hat Folgendes geschrieben:
Hallo zusammen,

ich bitte sehr um Feedback und Kritik zu diesem Anfang eines meiner Projekte. Die Geschichte spielt in West-Berlin, kurz nach dem Mauerbau,  ist für Jugendliche ab 14 gedacht und hat eigentlich Naturwissenschaften und Mathematik zum Thema. (1200 Worte, etwa 8 Minuten).


Mathe

"Komm' runter!" brüllte der Typ. Er stand auf dem Rasen unter dem Badezimmerfenster.  "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich. Wir hatten einen Hauswart, Choleriker, der war jedesmal kurz vorm Hirnschlag, wenn er jemanden dabei ertappte, einen seiner  geliebten Halme zu knicken. Und der Typ stand jetzt mit beiden Füßen auf diesem heiligen Teppich und lud mich zu einer Prügelei ein.
Extrem langsam, als wäre ich die Zeitlupe höchst persönlich, und so umständlich, daß man allein vom zugucken einen hysterischen Anfall bekommen mußte,  öffnete ich das Fenster.

 "Hast du gerufen?" fragte ich zuckersüß nach unten.

Viel Wind war nicht mehr drin in seinen Segeln. Er hatte eine schöne rote Birne bekommen und war damit beschäftigt sich nicht die Haare auszureißen.

"Komm' r  komm' ... komm' runter", stotterte er, und winkte mir mit geballten Fäusten.
"Ich muß noch Mathe machen", sagte ich cool, "und dann kommt meine Mutter, da muß ich zu Hause sein. Keine Zeit."

Meine Tante, so ein Marilyn Monroe Typ, hatte mir als ich noch klein war Gute Nacht Geschichten  vorgelesen. Märchen, von Grimm und was weiß ich wie die alle heißen. Rumpelstilzchen war's. Der Typ da unten erinnerte mich an Rumpelstilzchen.

Mir gefiel es hier nicht. Eine Neubausiedlung. Ich mochte das alte, ausgetretene Treppenhaus lieber. Die hohen Räume, in denen ich aufgewachsen war, den Geruch des Mörtels, der hölzernen Dielen und das Klacken der alten Drehschalter, Pertinax, wenn man das Licht anknipste. Und mir fehlten meine Freunde. Sie fehlten mir am meißten. Das war zwar abzusehen, aber offenbar nicht so wichtig gewesen. Freunde kann man ersetzen, eine Neubauwohnung nicht. Eine bescheuerte Logik.

"Wenn'n ich dh dh dich k k k kriege! D d da dann k k riekstdu d d Dresche!" Eigentlich stottert der Typ gar nicht. Die Aufregung.

"Ja", sagte ich, "ich trage dich schon mal in meinen Terminkalender ein. Wann passt es denn? Vormittag oder Nachmittag?" Er drehte noch ein paar Pirouetten und ich schloß  das Fenster, schön langsam und sehr sorgfältig. Keine Ahnung was der von mir wollte. Er war kaum eine Woche nach uns eingezogen, einen Hausaufgang weiter, und ich hatte auf der Klopfstange gesessen und den Möbelpackern dabei zugesehen, wie sie die Umzugskisten in die Wohnung schleppten.

Er klingelte  bei den Nachbarn. Erst unten, im Erdgeschoß, dann in der nächsten Etage und so immer weiter die Etagen hoch und alle drückten artig den Türöffner.  Mütter. Sehr schön auch der Busfahrer, der sich von der Nachtschicht ausschlafen wollte und aus dem Bett gekrochen kam, weil er eine wichtige Post erwartete. Ich stellte mich ins Treppenhaus und hörte zu, wie der Typ von den Erwachsenen in verdammt winzige Teile zerlegt wurde. Sie hatten interessante Argumente.


Ein paar Tage später, ich kam von der Schule nach Hause, stand er an der Buddelkiste.

"Kommst du runter? Spielen?" fragte er.

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, sagte aber: " Ja, ich muß nur meine Sachen nach oben bringen."

Ich bin Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, wegen des Krieges, aber der war nur eine Ausrede. Meine Mutter wollte ein Kind, ihr Kind, selbstgemacht und nicht weglaufbar mit einem Verfallsdatum irgendwann nach ihrem. Es teilen? Mit einem Mann? Undenkbar. Insofern war der Krieg ganz praktisch. Er lieferte Männer die Unterhalt zahlten und Ausreden. Meine Mutter war berufstätig, darum konnte ich bis zum Abendessen frei über meine Zeit verfügen. Ich sprang schnell die Treppen hoch, stellte die Tasche in den Flur und ging wieder hinunter, zur Buddelkiste.

"Wie heißt du? fragte er.

"Emka Em," sagte ich, "Moritz Kasimir Michael. Und du?"

Er grinste: "Bescheuert."

"Wie?"

 "Nee, Paul", sagte er schnell.

Er schlug ein Spiel vor, das ich nicht kannte. Jeder baut eine Sandburg und zerstört dann die des andern mit gezielten Steinwürfen. Geht eine geschlossene Formation in Trümmer, ein Turm zum Beispiel oder eine Brücke, darf der erfolgreiche Werfer einen zweiten Wurf ausführen. Dies Spiel kam mir beschränkt vor, warum sollte ich ihm eine Burg zum zertrümmern bauen? Doch nahm ich an. So lagen wir uns in der Sommersonne stundenlang stumm gegenüber und erfanden und konstruierten Gänge, Wälle, Tunnel und Gräben, eine Geschichte, die allem eine Bedeutung zuwies und fingen kurz bevor die heimbefohlene Zeit anbrach damit an, uns gegenseitig unsere Bauwerke zu zerstören.

Binnen weniger Minuten waren alle Schöpfungen wieder gewöhnlicher Sand. Paul hatte mit seinen Würfen meine  Anlage genauso schnell zerlegt wie ich seine, einen eindeutigen Sieger gab es nicht. Aber er sah das anders.

"Arschloch", brummte er mit finstrer Miene und ging nach Hause.

Mit dem würde ich auskommen müssen, wieder wegziehen war nicht drin.

In der Schule saß ich neben Heinz. Ein feingliedriger Junge, mit bleichem, schmalem Gesicht, der gern lachte und einen durchtriebenen Humor besaß. Wir verstanden uns glänzend und teilten die Liebe zu Mathematik und Physik. Er brachte von zu Hause immer neue Formeln mit, aus denen wir mit wenigen Zeichen Welten konstruierten und dann hemmungslos darin herumtobten wie mächtige Götter. Leider gerieten wir damit unserer Mathelehrerin in die Quere, die uns mit akribischer Leidenschaft nachzuweisen trachtete, dass wir nicht wissen konnten, dass y ein Verhältnis von x ist. Das es faktisch unmöglich ist, dass kein Kind so etwas in der fünften Klasse wissen und verstehen kann. Schließlich setzte sie uns auseinander, jeden neben einen Idioten.

Wir trafen uns Nachmittags, zündeten tausende von Streichhölzern, untersuchten unendlich viele Pflanzen, Steine und Sande, experimentierten mit der Brennbarkeit von Insekten und ließen nichts unversucht, die Welt, die wir vorfanden, bis in ihre letzte Faser auseinanderzunehmen. Und gelegentlich einen Popel auf ihr zu verschmieren.

Eines Tages beobachteten wir Paul, wie er hektisch über das Geländer zum Parkplatz kletterte und dabei immer wieder zusammenzuckte als bekäme er einen kleinen elektrischen Schlag. Wir waren hinter Lehmsandbergen verborgen, verkaufbarer Aushub, der bei den Bauarbeiten zu den Neubauten angefallen und hier auf großen Halden deponiert war. Ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Erst lachten wir über Paul und seine albernen Bewegungen. Als er jedoch den Parkplatz überquert und das zweite Geländer überwunden hatte sahen wir, dass seine Hände bluteten. Auf dem Geländer war Blut.

Paul hatte sich hinter den Mülltonnen versteckt. Er kauerte da, wie ein verängstigtes Tier. Heinz, der feine kleine Heinz und ich, wir gingen sehr, sehr langsam. Traten aus den Lehmhaufen auf die Straße, gingen über den heißen Asphalt und  hörten dann ein leises, hässlich aggressives, sphärisches Klingen. Ein unbekanntes, märchenhaftes Geräusch, und ich sah mich um, denn ich hörte es als Folge, so wie das Klack eines Tischtennisballs auf einer Tischtenniskelle und dann das Klick, wenn er auf die Platte trifft.

Im Balkonfenster stand Pauls Vater und lud sein Luftgewehr. Das sphärische Klingen war entstanden, als ein Projektil vom Parkplatzgeländer abgeprallt war.

Wir sagten: "Hallo Paul. Kommst du mit? Spielen?"

Er verbarg seine Hände, die von blauen Flecken und kleinen blutigen Stellen übersät waren.

"Klar", sagte er tapfer.

Wir gingen zusammen über die Straße. Ich hörte das 'Tschpatt' des Druckluftkolbens und dann das leise schwirrende Sausen des kleinen Bleiprojektils. Verfehlt. Wir verschwanden, unerreichbar für die Flinte, hinter den Lehmwällen und spielten. Für Paul.



hallo Trimak,

es wird nicht deutlich, dass Paul und der Hauswart unterschiedliche Personen sind. Ich nahm zunächst an, dass der Hauswart sich mit dem MkM prügeln will. Das müsstest du anders formulieren.

Er winkte mir mit geballten Fäusten- damit winkt man nicht, denke ich, sondern er reckte die geballten Fäuste in meine Richtung...

Lg Gold


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Trimak
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Beitrag20.08.2012 12:21
Re: Mathematik
von Trimak
pdf-Datei Antworten mit Zitat

gold hat Folgendes geschrieben:


Mathe

"Komm' runter!" brüllte der Typ. Er stand auf dem Rasen unter dem Badezimmerfenster.  "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich.

Wir hatten einen Hauswart, Choleriker, der war jedesmal kurz vorm Hirnschlag, wenn er jemanden dabei ertappte, einen seiner  geliebten Halme zu knicken. Und der Typ stand jetzt mit beiden Füßen auf
dessen heiligen Teppich und lud mich zu einer Prügelei ein.

Extrem langsam, als wäre ich die Zeitlupe höchst persönlich, und so umständlich, daß man allein vom zugucken einen hysterischen Anfall bekommen mußte,  öffnete ich das Fenster.

 "Hast du gerufen?" fragte ich zuckersüß nach unten.

Viel Wind war nicht mehr drin in seinen Segeln. Er hatte eine schöne rote Birne bekommen und war damit beschäftigt sich nicht die Haare auszureißen.

"Komm' r  komm' ... komm' runter", stotterte er, und winkte mir mit geballten Fäusten.
"Ich muß noch Mathe machen", sagte ich cool, "und dann kommt meine Mutter, da muß ich zu Hause sein. Keine Zeit."

Meine Tante, so ein Marilyn Monroe Typ, hatte mir als ich noch klein war Gute Nacht Geschichten  vorgelesen. Märchen, von Grimm und was weiß ich wie die alle heißen. Rumpelstilzchen war's. Der Typ da unten erinnerte mich an Rumpelstilzchen.

Mir gefiel es hier nicht. Eine Neubausiedlung. Ich mochte das alte, ausgetretene Treppenhaus lieber. Die hohen Räume, in denen ich aufgewachsen war, den Geruch des Mörtels, der hölzernen Dielen und das Klacken der alten Drehschalter, Pertinax, wenn man das Licht anknipste. Und mir fehlten meine Freunde. Sie fehlten mir am meißten. Das war zwar abzusehen, aber offenbar nicht so wichtig gewesen. Freunde kann man ersetzen, eine Neubauwohnung nicht. Eine verrückte Logik.

"Wenn'n ich dh dh dich k k k kriege! D d da dann k k riekstdu d d Dresche!" Eigentlich stottert der Typ gar nicht. Die Aufregung.

"Ja", sagte ich, "ich trage dich schon mal in meinen Terminkalender ein. Wann passt es denn? Vormittag oder Nachmittag?" Er drehte noch ein paar Pirouetten und ich schloß  das Fenster, schön langsam und sehr sorgfältig. Keine Ahnung was der von mir wollte. Er war kaum eine Woche nach uns eingezogen, einen Hausaufgang weiter, und ich hatte auf der Klopfstange gesessen und den Möbelpackern dabei zugesehen, wie sie die Umzugskisten in die Wohnung schleppten.

Er klingelte  bei den Nachbarn. Erst unten, im Erdgeschoß, dann in der nächsten Etage und so immer weiter die Etagen hoch und alle drückten artig den Türöffner.  Mütter. Sehr schön auch der Busfahrer, der sich von der Nachtschicht ausschlafen wollte und aus dem Bett gekrochen kam, weil er eine wichtige Post erwartete. Ich stellte mich ins Treppenhaus und hörte zu, wie der Typ von den Erwachsenen in verdammt winzige Teile zerlegt wurde. Sie hatten interessante Argumente.


Ein paar Tage später, ich kam von der Schule nach Hause, stand er an der Buddelkiste.

"Kommst du runter? Spielen?" fragte er.

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, sagte aber: " Ja, ich muß nur meine Sachen nach oben bringen."

Ich bin Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, wegen des Krieges, aber der war nur eine Ausrede. Meine Mutter wollte ein Kind, ihr Kind, selbstgemacht und nicht weglaufbar mit einem Verfallsdatum irgendwann nach ihrem. Es teilen? Mit einem Mann? Undenkbar. Insofern war der Krieg ganz praktisch. Er lieferte Männer die Unterhalt zahlten und Ausreden. Meine Mutter war berufstätig, darum konnte ich bis zum Abendessen frei über meine Zeit verfügen. Ich sprang schnell die Treppen hoch, stellte die Tasche in den Flur und ging wieder hinunter, zur Buddelkiste.

"Wie heißt du? fragte er.

"Emka Em," sagte ich, "Moritz Kasimir Michael. Und du?"

Er grinste: "Bescheuert."

"Wie?"

 "Nee, Paul", sagte er schnell.

Er schlug ein Spiel vor, das ich nicht kannte. Jeder baut eine Sandburg und zerstört dann die des andern mit gezielten Steinwürfen. Geht eine geschlossene Formation in Trümmer, ein Turm zum Beispiel oder eine Brücke, darf der erfolgreiche Werfer einen zweiten Wurf ausführen. Dies Spiel kam mir beschränkt vor, warum sollte ich ihm eine Burg zum zertrümmern bauen? Doch nahm ich an. So lagen wir uns in der Sommersonne stundenlang stumm gegenüber und erfanden und konstruierten Gänge, Wälle, Tunnel und Gräben, eine Geschichte, die allem eine Bedeutung zuwies und fingen kurz bevor die heimbefohlene Zeit anbrach damit an, uns gegenseitig unsere Bauwerke zu zerstören.

Binnen weniger Minuten waren alle Schöpfungen wieder gewöhnlicher Sand. Paul hatte mit seinen Würfen meine  Anlage genauso schnell zerlegt wie ich seine, einen eindeutigen Sieger gab es nicht. Aber er sah das anders.

"Arschloch", brummte er mit finstrer Miene und ging nach Hause.

Mit dem würde ich auskommen müssen, wieder wegziehen war nicht drin.

In der Schule saß ich neben Heinz. Ein feingliedriger Junge, mit bleichem, schmalem Gesicht, der gern lachte und einen durchtriebenen Humor besaß. Wir verstanden uns glänzend und teilten die Liebe zur Mathematik und Physik. Er brachte von zu Hause immer neue Formeln mit, aus denen wir mit wenigen Zeichen Welten konstruierten und dann hemmungslos darin herumtobten wie mächtige Götter. Leider gerieten wir damit unserer Mathelehrerin in die Quere, die uns mit akribischer Leidenschaft nachzuweisen trachtete, dass wir nicht wissen konnten, dass y ein Verhältnis von x ist. Das es faktisch unmöglich ist, dass kein Kind so etwas in der fünften Klasse wissen und verstehen kann. Schließlich setzte sie uns auseinander, jeden neben einen Idioten.

Wir trafen uns Nachmittags, zündeten tausende von Streichhölzern, untersuchten unendlich viele Pflanzen, Steine und Sande, experimentierten mit der Brennbarkeit von Insekten und ließen nichts unversucht, die Welt, die wir vorfanden, bis in ihre letzte Faser auseinanderzunehmen. Und gelegentlich einen Popel auf ihr zu verschmieren.

Eines Tages beobachteten wir Paul, wie er hektisch über das Geländer zum Parkplatz kletterte und dabei immer wieder zusammenzuckte als bekäme er einen kleinen elektrischen Schlag. Wir waren hinter Lehmsandbergen verborgen, verkaufbarer Aushub, der bei den Bauarbeiten zu den Neubauten angefallen und hier auf großen Halden deponiert war. Ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Erst lachten wir über Paul und seine albernen Bewegungen. Als er jedoch den Parkplatz überquert und das zweite Geländer überwunden hatte sahen wir, dass seine Hände bluteten. Auf dem Geländer war Blut.

Paul hatte sich hinter den Mülltonnen versteckt. Er kauerte da, wie ein verängstigtes Tier. Heinz, der feine kleine Heinz und ich, wir gingen sehr, sehr langsam. Traten aus den Lehmhaufen auf die Straße, gingen über den heißen Asphalt und  hörten dann ein leises, hässlich aggressives, sphärisches Klingen. Ein unbekanntes, märchenhaftes Geräusch, und ich sah mich um, denn ich hörte es als Folge, so wie das Klack eines Tischtennisballs auf einer Tischtenniskelle und dann das Klick, wenn er auf die Platte trifft.

Im Balkonfenster stand Pauls Vater und lud sein Luftgewehr. Das sphärische Klingen war entstanden, als ein Projektil vom Parkplatzgeländer abgeprallt war.

Wir sagten: "Hallo Paul. Kommst du mit? Spielen?"

Er verbarg seine Hände, die von blauen Flecken und kleinen blutigen Stellen übersät waren.

"Klar", sagte er tapfer.

Wir gingen zusammen über die Straße. Ich hörte das 'Tschpatt' des Druckluftkolbens und dann das leise schwirrende Sausen des kleinen Bleiprojektils. Verfehlt. Wir verschwanden, unerreichbar für die Flinte, hinter den Lehmwällen und spielten. Für Paul.



Hallo gold,

vielen Dank für's Lesen,  das Kompliment und die guten Vorschläge.

Ich habe den ersten Absatz zerlegt und in dem Teil, in dem Bezug auf den Hauswart genommen wird, ein  "dessen" aus dem "diesem" gemacht. Ich möchte in dem Jargon bleiben, das MKM von 'dem Typen' redet.

Was das winken mit der Faust angeht, Jungen, die wissen wie man sich prügelt, winken ihren Gegner damit zum Kampf. Es sieht genauso aus wie das Heranwinken mit der Hand, nur das man es mit der gebalten Faust macht.

LG Trimak
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Beitrag20.08.2012 12:29
Re: Mathematik
von gold
Antworten mit Zitat

[quote="Trimak"][quote="gold"]

Mathe

"Komm' runter!" brüllte der Typ. Er stand auf dem Rasen unter dem Badezimmerfenster.  "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich.

Zitat:



Hallo Trimak,

ich würde es etwas sorgfältiger schreiben: z.B. [color=green]"streng verboten" war alle paar Meter zu lesen, womit das Betreten des Rasens gemeint war.

Lg gold


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Beitrag20.08.2012 12:30

von gold
Antworten mit Zitat

sorry für´s Durcheinanderbringen von Zitat und Anschreiben! Rolling Eyes

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Beitrag20.08.2012 12:41

von Trimak
pdf-Datei Antworten mit Zitat

gold hat Folgendes geschrieben:
sorry für´s Durcheinanderbringen von Zitat und Anschreiben! Rolling Eyes


Kein Problem  Wink . Im Schwung des Geschichtenerzählens achte ich nur selten auf die richtige Schreibweise. Leider. Ich sammle noch ein bisschen  und stelle die Korrektur dann ein.

LG Trimak
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Beitrag22.08.2012 00:28

von Trimak
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Eine etwas überarbeitete Version (ein paar Rechtschreibfehler weniger Smile      


Mathe

"Komm' runter!" brüllte der Typ. Er stand auf dem Rasen unter dem Badezimmerfenster. "Streng verboten!" war alle paar Meter gut zu lesen. Den Rasen zu betreten meine ich.

Wir hatten einen Hauswart, Choleriker, der war jedesmal kurz vorm Hirnschlag, wenn er jemanden dabei ertappte, einen seiner geliebten Halme zu knicken. Und der Typ stand jetzt mit beiden Füßen auf dessen heiligen Teppich und lud mich zu einer Prügelei ein.

Extrem langsam, als wäre ich die Zeitlupe höchst persönlich, und so umständlich, daß man allein vom Zugucken einen hysterischen Anfall bekommen mußte, öffnete ich das Fenster.

"Hast du gerufen?" fragte ich zuckersüß. Er hatte eine schöne rote Birne bekommen und war damit beschäftigt sich nicht die Haare auszureißen.

"Komm' r komm' ... komm' runter", stotterte er, und winkte mir mit geballten Fäusten.

"Ich muß noch Mathe machen", sagte ich cool, "und dann kommt meine Mutter, da muß ich zu Hause sein. Keine Zeit."

Meine Tante, so ein Marilyn Monroe Typ, hatte mir, als ich noch klein war, Gute Nacht Geschichten vorgelesen. Märchen, von Grimm und was weiß ich wie die alle hießen. Rumpelstilzchen war's. Der Typ da unten erinnerte mich an Rumpelstilzchen und mir gefiel es hier nicht. Eine Neubausiedlung. Ich mochte das alte, ausgetretene Treppenhaus lieber, die hohen Räume, in denen ich aufgewachsen war, den Geruch des Mörtels, der hölzernen Dielen und das Klacken der alten Drehschalter, wenn man das Licht anknipste. Per-ti-nax, wie das schon klingt. Und mir fehlten meine Freunde. Sie fehlten mir am meisten. Das war zwar abzusehen, aber offenbar nicht so wichtig gewesen. Freunde kann man ersetzen, eine Neubauwohnung nicht. Eine verrückte Logik.

"Wenn'n ich dh dh dich k k k kriege! Da da da dann k k riekstdu d d Dresche!" Eigentlich stottert der Typ gar nicht. Die Aufregung.

"Ja", sagte ich, "ich trage dich schon mal in meinen Terminkalender ein. Wann passt es denn? Vormittag oder Nachmittag?" Er drehte noch ein paar Pirouetten und ich schloß das Fenster, schön langsam und sehr sorgfältig. Keine Ahnung was der von mir wollte. Er war kaum eine Woche nach uns eingezogen, einen Hausaufgang weiter, und ich hatte auf der Klopfstange gesessen und den Möbelpackern dabei zugesehen, wie sie die Umzugskisten in die Wohnung schleppten.

Er klingelte bei den Nachbarn. Erst unten, im Erdgeschoß, dann in der nächsten Etage und immer so weiter, die Etagen hoch und alle drückten artig den Türöffner. Mütter. Sehr schön auch der Busfahrer, der sich von der Nachtschicht ausschlafen wollte und aus dem Bett gekrochen kam, weil er eine wichtige Post erwartete. Ich stellte mich ins Treppenhaus und hörte zu, wie der Typ von den Erwachsenen in verdammt winzige Teile zerlegt wurde.


Ein paar Tage später, ich kam von der Schule nach Hause, stand er an der Buddelkiste.

"Kommst du runter? Spielen?" fragte er.

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, sagte aber: " Ja, ich muß nur meine Sachen nach oben bringen."

 Meine Mutter war berufstätig, darum konnte ich bis zum Abendessen frei über meine Zeit verfügen. Ich sprang schnell die Treppen hoch, stellte die Tasche in den Flur und ging wieder hinunter, zur Buddelkiste.

"Wie heißt du? fragte er.

"Emka Em," sagte ich, "Moritz Kasimir Michael. Und du?"

Er grinste: "Bescheuert."

"Wie?"

"Nee, Paul", sagte er schnell.

Er schlug ein Spiel vor, das ich nicht kannte. Jeder baut eine Sandburg und zerstört dann die des andern mit gezielten Steinwürfen. Geht eine geschlossene Formation in Trümmer, ein Turm zum Beispiel oder eine Brücke, darf der erfolgreiche Werfer einen zweiten Wurf ausführen. Dies Spiel kam mir beschränkt vor Warum sollte ich ihm eine Burg zum zertrümmern bauen? Doch nahm ich an. So lagen wir uns in der Sommersonne stundenlang stumm gegenüber und erfanden und konstruierten Gänge, Wälle, Tunnel und Gräben, eine Geschichte, die allem eine Bedeutung zuwies, und fingen, kurz bevor die heimbefohlene Zeit anbrach, damit an, uns gegenseitig unsere Bauwerke zu zerstören.

Binnen weniger Minuten waren alle Schöpfungen wieder gewöhnlicher Sand. Paul hatte mit seinen Würfen meine Anlage genauso schnell zerlegt wie ich seine. Einen eindeutigen Sieger gab es nicht. Aber er sah das anders.

"Arschloch", brummte er mit finstrer Miene und ging nach Hause.

Mit dem würde ich auskommen müssen, wieder wegziehen war nicht drin.



In der Schule hatten sie mich neben Heinz gesetzt. Ein feingliedriger Junge, mit bleichem, schmalem Gesicht, der gern lachte und einen durchtriebenen Humor besaß. Wir verstanden uns glänzend und teilten die Liebe zu Mathematik und Physik. Er brachte von zu Hause immer neue Formeln mit, aus denen wir mit wenigen Zeichen Welten konstruierten und dann hemmungslos darin herumtobten wie mächtige Götter. Leider gerieten wir damit unserer Mathelehrerin in die Quere, die uns ausdauernd und mit akribischer Leidenschaft nachzuweisen trachtete, dass wir nicht wissen konnten, dass y ein Verhältnis von x ist. Das es faktisch unmöglich ist. Das kein Kind so etwas in der fünften Klasse wissen und verstehen kann. Schließlich setzte sie uns auseinander, jeden neben einen Idioten.

Wir trafen uns also Nachmittags, ein paar tausend Streichhölzer anzuzünden, untersuchten unendlich viele Pflanzen und waren von den unzähligen verschiedenen Blattformen bewegt, studierten die Muster auf  Steinen und die Formenvielfalt von Sandkörnern, experimentierten mit der Brennbarkeit von Insekten und ließen nichts unversucht, die Welt, die wir vorfanden, bis in ihre letzte Faser auseinanderzunehmen. Und gelegentlich einen Popel auf ihr zu verschmieren.



Eines Tages beobachteten wir Paul, wie er hektisch über das Geländer zum Parkplatz kletterte und dabei immer wieder zusammenzuckte als bekäme er einen kleinen elektrischen Schlag. Wir waren hinter Lehmsandbergen verborgen, verkaufbarer Aushub, der bei den Bauarbeiten zu den Neubauten angefallen und hier auf großen Halden deponiert war. Ein riesiger Abenteuerspielplatz.

Erst lachten wir über Paul und seine albernen Bewegungen. Als er jedoch den Parkplatz überquert und das zweite Geländer überwunden hatte sahen wir, dass seine Hände bluteten. Auf dem Geländer war Blut.

Paul hatte sich hinter den Mülltonnen versteckt. Er kauerte da, wie ein verängstigtes Tier. Heinz, der feine kleine Heinz und ich, wir gingen sehr, sehr langsam. Traten aus den Lehmhaufen auf die Straße, gingen über den heißen Asphalt und hörten dann ein leises, hässlich aggressives, sphärisches Klingen. Ein unbekanntes, märchenhaftes Geräusch, und ich sah mich um, denn ich hörte es als Folge, so wie das Klack eines Tischtennisballs auf einer Tischtenniskelle und dann das Klick, wenn er auf die Platte trifft.

Im Balkonfenster stand Pauls Vater und lud sein Luftgewehr. Das sphärische Klingen war entstanden, als ein Projektil vom Parkplatzgeländer abgeprallt war.

Wir sagten: "Hallo Paul. Kommst du mit? Spielen?"

Er verbarg seine Hände, die von blauen Flecken und kleinen blutigen Striemen übersät waren.

"Klar", sagte er tapfer.

Wir gingen zusammen über die Straße. Ich hörte das metallische 'Tschpatt' des Druckluftkolbens und dann das leise schwirrende Sausen des kleinen Bleiprojektils. Verfehlt. Wir verschwanden, unerreichbar für die Flinte, hinter den Lehmwällen und spielten. Für Paul.
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adelbo
Geschlecht:weiblichReißwolf


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Beitrag26.08.2012 12:09

von adelbo
Antworten mit Zitat

Ich habe nur die neue Version der Geschichte gelesen und finde sie gelungen.
Ein schöner, sehr feinfühlig geschriebener Text, der neugierig auf mehr macht. Wie geht es weiter?
Liebe Grüße
adelbo


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„Das ist der ganze Jammer: Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel.“

Bertrand Russell
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Trimak
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

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Wohnort: Hamburg


Beitrag26.08.2012 13:16

von Trimak
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@adelbo:
Vielen Dank für das Lob. Die Geschichte ist noch in Arbeit. Es wird ein Abenteuer, in dem sich die Protagonisten an den Naturwissenschaften orientieren. Das setzt eine bestimmte Denkweise voraus, mit der sie dann im Alltag andauernd in Konflikte geraten, weil diese Denkweise nicht besonders weit verbreitet ist.

LG Trimak
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madrilena
Klammeraffe

Alter: 87
Beiträge: 647



Beitrag27.08.2012 17:50

von madrilena
Antworten mit Zitat

Dieses Kapitel finde ich - vor allem auch als Anfang - sehr gelungen - auf die Fehler haben meine Vorschreiber schon hingewiesen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht und was ich vor allem ganz toll finde, ist, an eine Geschichte auf Basis der Naturwissenschaften herangehen zu wollen. Das macht neugierig.
madrilena


_________________
Bücher im Alkyon Irmgard Keil Verlag/Marbach "Schatten umarmen" Kranichsteiner Literaturverlag.
1. "den Himmel mit Händen fassen" ISBN
10:3934136303
2. "Schatten umarmen ISBN 10:3929265133
3. "...und die Zeit stand still" ISBN 10: 3934136311
4."leben" ISBN 10:3934136656
Erhältlich bei Amazon über buchimport Peter Reimer + in Buchhandlungen
Schatten umarmen auch über Libri.
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Trimak
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 62
Beiträge: 25
Wohnort: Hamburg


Beitrag31.08.2012 22:05

von Trimak
pdf-Datei Antworten mit Zitat

@madrilena  …freut mich, dass dir der Anfang gefällt. Eine Fortsetzung einzustellen wird allerdings noch etwas dauern.

LG Trimak
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Carter
Leseratte

Alter: 33
Beiträge: 123
Wohnort: Köln/Bonn(Arizona/Phoenix)


Beitrag01.09.2012 14:15
Re: Mathematik
von Carter
Antworten mit Zitat

Trimak hat Folgendes geschrieben:

 "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich.


Diesen Satz verstehe ich nicht, aber
sonst:
Du schreibst in Umgangsprache. Das gefällt mir.
Ich kann mich in die Hauptperson hineinversetzten, auch das gefällt mir.
Und mich erinnert diese Geschichte an das Buch: Vorstadtkrokodile(Weiß nicht warum Question ), auch das gefällt mir.


_________________
Die Fähigkeit des Schreibens ist grenzenlos, gerade weil es die Fähigkeit des Schreibens ist.
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Trimak
Geschlecht:männlichGänsefüßchen

Alter: 62
Beiträge: 25
Wohnort: Hamburg


Beitrag01.09.2012 15:06
Re: Mathematik
von Trimak
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Carter hat Folgendes geschrieben:
Trimak hat Folgendes geschrieben:

 "Streng Verboten!" stand alle paar Meter, den Rasen zu betreten meine ich.
Diesen Satz verstehe ich nicht

Ein Junge steht vor einem Neubauwohnblock unter einem Badezimmerfenster auf dem Rasen und schreit wütend die Herausforderung zu einer Prügelei hinauf.
Beides ist streng verboten: Streit, und auf dem heiligen Rasen des Hausmeisters zu stehen. Der Junge am Fenster schaut hinunter und sieht den Herausforderer
neben einem Verbotschild auf dem genau das steht: Streng verboten.
Zitat:
Du schreibst in Umgangsprache. Das gefällt mir.

Die Zielgruppe sind Jugendliche von heute, ich muß an ihrer Sprache bleiben, wenn ich will, dass sie wenigstens beim Vorlesen zuhören. Die, mit denen ich manchmal zu tun habe, würden einen 'literarischen Text' nicht einmal lesen, wenn sie Geld dafür bekämen.

Zitat:
Und mich erinnert diese Geschichte an das Buch: Vorstadtkrokodile

Meine Geschichte fängt in Berlin kurz nach dem Mauerbau an. Das Aufwachsen war damals so.

Gefällt mir, dass dir meine Geschichte gefällt  Very Happy

LG Trimak
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