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Dieses Werk wurde für den kleinen Literaten nominiert Anfang Romanprojekt "Krieg"


 
 
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mlakva
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Beiträge: 8
Wohnort: Göttingen


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Beitrag31.01.2012 17:20
Anfang Romanprojekt "Krieg"
von mlakva
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Die Luft im Restaurant Mala Ana ist so von Rauch geschwängert, daß man sie in Scheiben schneiden könnte. Das Lokal ist voll mit diskutierenden Männern. Alte und junge stehen an der Bar, andere bevölkern die Tische. Viele trinken Bier, die meisten aber Šlivovic und Loza. Eigentlich sind alle betrunken. So betrunken, daß sie nicht einmal mehr auf Marija achten, die Kellnerin mit kurzem Rock und tiefem Ausschnitt, auf die sie sonst immer so gerne schauen. Gegessen wird nichts. Aus einer altertümlichen Musikbox klingen Schlager und Volksmusik. Das Mala Ana ist kein Luxusrestaurant, sondern eine Kneipe für Bauern und Arbeiter.
All das ist nichts besonderes, schließlich wird jeden Abend dort getrunken, geraucht, debattiert – und auch gegessen. Nur ist jetzt nicht Abend – jetzt ist Vormittag. Um die Häuser herum liegen die Wälder und Wiesen in tiefstem Frieden, außer dem Rattern einiger Mopeds erschüttert kein Laut die gewohnte Stille der bosnischen Kleinstadt Kupres. Die Frauen arbeiten auf den Feldern. Wer sollte es auch sonst tun? Schließlich sind die meisten Männer entweder in den Kneipen oder in Deutschland. Die Kinder sitzen in der Schule, wie es sich halt gehört an einem Wochentag. Und dennoch ist alles anders als sonst. Denn es ist Krieg, selbst wenn man bis jetzt noch wenig davon gemerkt hat.
Gegen Mittag donnert es. Die Betrunkenen im Mala Ana hören es nicht – aber es donnert trotzdem. Wer es hört: Das sind all anderen. Die auf den Feldern, die in den Häusern, die Ängstlichen, die Vorsichtigen. Es ist kein Gewitter, das das Grummeln verursacht. Dazu ist der Himmel zu blau und das Wetter zu gut. Die alten Männer – man sagt Dedo zu ihnen – wissen, was das ist. Es sind Explosionen, schießende Kanonen, die so ein Geräusch verursachen. Und über die Auswirkungen besteht nicht lange Zweifel. Denn wenig später hört man die Sirenen des Krankenwagens, der hektisch die Poliklinik in Richtung Südosten verläßt.
Ein Fićo rast in die Stadt – völlig überladen mit neun Leuten, darunter vier Kindern. Die Tschetniks kommen! So heißt der Alarmruf, der auf einmal die Stadt durchgellt. Er verbreitet sich wie ein Lauffeuer, sogar zu den Betrunkenen im Mala Ana. Panik greift um sich. Leute stürzen aus den Häusern. Mütter, Großmütter und Tanten laufen zur Schule und holen die Kinder ab. Es gibt wilde Diskussionen: Was wird passieren? Wohin soll man gehen? Die Fernsehbilder aus Vukovar vom letzten Herbst sind ebenso präsent wie die Erzählungen der Alten aus dem Zweiten Weltkrieg, als Kupres schon einmal durch Partisanen niedergebrannt worden war. Soll man bleiben, soll man Haus und Hof, Kühe, Schweine, Hühner, ja eigentlich alles, was man hat, im Stich lassen, um womöglich das nackte Leben zu retten? Die betrunkenen Männer fluchen schrecklich – Angst, Wut, Enttäuschung und Ratlosigkeit, alles mischt sich.
Vor der Polizeistation im Ortszentrum finden sich einige Männer zusammen. Allesamt bewaffnet: Mit Luftgewehren, Pistolen, einige sogar mit Kalaschnikows. In den Büros fallen Schüsse, ertönen Schreie. Dann tritt ein Mann vor die Tür. In zerrissener Uniform, an der Schulter blutend, aber mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht: Wir habe die Schweine kaltgemacht! Andere Polizisten, mangelhaft uniformiert, schleppen einen leichten Granatwerfer auf den Platz.
Die Diskussionen, das aufgeregte Schreien und Debattieren in der Stadt flauen nicht ab. In der Nähe der Kirche schlägt eine Granate ein – keine schwere, aber sie macht entsetzlichen Krach und schleudert Erdklumpen durch die Gegend. Sie verletzt niemanden, doch sie hat eine drastische Folge: Die ersten Menschen verlassen die Stadt. Bald formiert sich ein ganzer Zug, dem sich immer neue Leute anschließen. Es geht in Richtung des Tunnels. Der verspricht Sicherheit, und außerdem ist er die Verbindung zur nächsten größeren Stadt, in der wohl keine serbischen Truppen sein werden. Der Tunnel führt nach Bugojno.
Es gibt immer Leute, die sagen: So schlimm wird es wohl nicht, laßt uns abwarten! Die bleiben zurück. Es gibt jetzt niemanden mehr, der ihnen widersprechen würde – die Polizisten haben ihren Granatwerfer stehenlassen und sich als erste davongemacht, vom Bürgermeister und der Stadtverwaltung ist nichts zu bemerken. Und tatsächlich: Als am späten Nachmittag der Flüchtlingsstrom spärlicher wird, kehrt wieder Ruhe ein. Das Artilleriefeuer hat aufgehört, die Sonne scheint wie immer, es ist alles wie im Frieden. Nur daß drei tote serbische Polizisten in der Polizeistation liegen.

Die Nacht war ruhig. Kein Wunder, schließlich sind nur noch wenige Einwohner übriggeblieben. Vom Minarett schallt die Stimme des Muezzin, der per Lautsprecher die Gläubigen zum Gebet ruft. Welche Gläubigen? Es ist kaum noch jemand da. In der katholischen Kirche zelebriert der Priester eine Messe. Wer sagt also, die Führung des Ortes sei geflohen? Gut, die Beamten und Polizisten sind weg, aber die Geistlichen noch geblieben. In der Poliklinik werden die Verletzten des vergangenen Tages ebenso behandelt wie die Kranken, nur von weniger Schwestern und einem einzigen Arzt. Irgendwie scheint es weiterzugehen.
Aber der Krieg ist nicht aus der Welt. Er kommt wieder. Es ist niemand auf den Straßen, und auch die Kneipen, Restaurants und Cafés sind gähnend leer. In den Wohnungen laufen die Radios, wer einen hat, schaltet den Fernseher ein. Doch plötzlich ist Stille: Es gibt keinen Strom mehr. Die Ruhe vor dem Sturm.
Der kommt dann. Nicht dramatisch, mit Kanonengedröhn oder Geschrei. Es ist zunächst ein leises Grollen, dann beginnen die Tassen in den Schränken zu klappern. Aus Richtung Šuica rollen Panzer heran, Ungetüme mit langen Kanonen und einem roten Stern am Turm. Daneben laufen Soldaten, beladen mit Rucksäcken und Gewehren. Sie schießen nicht, doch allein ihr bloßer Anblick ist geeignet, Panik zu verbreiten. Wieder verlassen Männer, Frauen und Kinder den Ort in Richtung Tunnel, ein Zug voller Hektik, voller Angst. Was soll nur werden?
Die Soldaten besetzen Haus um Haus. Die meisten sind verlassen. Flüche und Parolen hallen durch den Ort. Ab und zu knallen Schüsse. Niemand weiß, warum. Ist es Übermut der Uniformierten, Frust, Angst? Feinde gibt es hier nicht mehr. Auf einmal Schreien. Marija aus dem Mala Ana läuft auf die Straße, hinter ihr drei Uniformierte. Im Eingang der Schule verliert sich ihre Spur. Nach und nach versammelt sich vor dem Kulturzentrum ein Häuflein Zivilisten – gedrängt, gestoßen, verhöhnt von den jugoslawischen Soldaten. Eine rohe Bande ist das inzwischen geworden. In vielen Häusern gab es Schnaps, und den zu trinken, das hilft ihnen bei ihrem Geschäft. Sie feiern ihren Sieg, und das nicht nur mit Šlivovic, Loza und Brandy, sondern auch mit Schüssen in die Luft, mit alten Partisanen- und neuen Schlagerliedern – und mit noch etwas anderem. Die letzten Frauen und Mädchen der Stadt werden es gleich erfahren.
Am Abend schließlich gleicht Kupres einem Chaos. Panzer stehen an den Ortsausgängen. Manches Haus brennt, und im Feuerschein taumeln betrunkene serbische Soldaten durch die Stadt. Vom Kirchturm herab hängen kopfüber die Leichen dreier Männer – mit dem Schild „Ustascha“ an den Füßen. Im Bach liegen Leichen: Geschändete Frauen, erschossene Männer, ein Kind mit eingeschlagenem Schädel. Die anderen Einwohner dagegen sind verschwunden: Zu Fuß, malträtiert von Gewehrkolben und Stiefeln, aber lebend durch den Tunnel nach Bugojno.

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Julian
Eselsohr

Alter: 31
Beiträge: 300



Beitrag31.01.2012 17:35

von Julian
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Moinsen, mlakva. smile

Ich bin eigentlich ein großer Freund von Literatur, die sich mit dem Krieg beschäftigt. Die Wahl der Thematik macht auch mich also so oder so zumindest einen Eindruck. Sprachlich weiß dein Text zu gefallen - mit der Ausnahme, dass die Darstellung sehr trocken wirkt. Extrem trocken. Wenn der Rest deiner Geschichte in der selben Form beschaffen ist, dann wirst du zumindest mich nicht bei der Stange halten können. Das liest sich wie ein Bericht. Gibt es in deinem Roman Figuren, die du dem Leser näher führst? Denn in diesem Abschnitt - der nicht gerade kurz ist - befindet sich der Lesende nur in einer außenstehenden, unbeteiligten Perspektive.

Grüße
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Rufina
Geschlecht:weiblichKlammeraffe


Beiträge: 693



Beitrag31.01.2012 17:46

von Rufina
Antworten mit Zitat

Hallo mlakva,

hast du nur gut recherchiert oder ist der Text in Teilen autobiografisch?

Mir fällt es noch etwas schwer den Anfang einzuordnen, weil mir erstens noch eine Person fehlt, in die ich mich hineinversetzen kann (das kann ja aber noch kommen) und ich zweitens keine Anhaltspunkte für die erzählte Zeit habe. Passiert das alles innerhalb von wenigen Stunden, Tagen oder Wochen?
Es kommt mir alles wie im Zeitraffer vor. Ich hatte kaum Zeit zum Verschnaufen. Aber vielleicht ist es auch genau das, was den Text für mich so authentisch macht. Irgendwann solltest du das Tempo aber runterfahren, sonst bist du auf Seite 20 ja schon fertig und auf Dauer würde ich als Leser das Tempo auch nicht durchhalten.

So, das waren jetzt nur mal ein paar Gedanken. Falls du noch detailliertere Kritik haben möchtest, einfach sagen. Ein paar Winzigkeiten hätte ich da noch, aber du hattest mich mit dem Text von der ersten bis zur letzten Zeile  Wink.
 
Viele Grüße
Rufina


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Noch sind wir zwar keine gefährdete Art, aber es ist nicht so, dass wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu werden. (Douglas Adams)
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lupus
Geschlecht:männlichBücherwurm

Alter: 56
Beiträge: 3914
Wohnort: wien



Beitrag31.01.2012 18:09

von lupus
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einige kleine Fehler sind drin, das eine oder andere könnte wohl gestrichen werden.

Aber:
diese zynische Distanziertheit, Abgebrühtheit?, das Satz-Stakkato, die Steigerung der Grauslichkeiten ohne Larmoyanz jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken und das passiert selten.

du hast hier eine ganz eigene Stimme entwickelt, ich seh (im Film wäre es so) Bilder und eine Stimme aus dem Off.

sehr gelungen

Letzt allerdings würd ich mir eine(n) Prota wünschen, der mich in das Setting mitnimmt und von der Allgemeinheit aufs Individuum einzoomt.

chapeau!

lgl


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lg Wolfgang

gott ist nicht tot noch nicht aber auf seinem rückzug vom schlachtfeld des krieges den er begonnen hat spielt er verbrannte erde mit meinem leben

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mlakva
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Beiträge: 8
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Beitrag31.01.2012 20:06

von mlakva
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Liebe Forumsmitglieder,
meinen Stil suche ich noch – ein zweites Buchprojekt, das ich vielleicht bei Gelegenheit einmal vorstellen werde, ist nicht so abgehackt und trocken geschrieben. Ich fand nur die Art und Weise des Schreibens irgendwie passend für einen Roman, der (fast) in der Gegenwart spielt. Und ich dachte mir, daß der Stakkato-Stil die Illusion vermeiden helfe, es handele sich um ein episch ausgreifendes Großwerk.

Zum Hintergrund: Das Ganze ist nicht autobiographisch. Als mit Südosteuropa befaßtem Historiker und in gewissem Sinn auch mit Sicherheitspolitik vertrautem Forscher sind mir Themenbereiche wie Jugoslawien, Krieg und Migration durchaus bekannt. Außerdem verfüge ich über Ortkenntnis, denn in den Gebieten, die beschrieben werden, bin ich gewesen – nicht einmal die Sprache war da ein Hinderungsgrund.
Im weiteren Verlauf spielt der Roman größtenteils nicht in Bosnien, sondern in Deutschland. Und im Verfolg werden auch Personen als Handlungsträger sichtbar.

Aber vielleicht poste ich einfach einmal die folgenden Abschnitte…

Mit vielem Dank für das freundliche Lesen

Mlakva
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mlakva
Geschlecht:männlichSchneckenpost
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Beiträge: 8
Wohnort: Göttingen


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Beitrag31.01.2012 20:09

von mlakva
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Der Fernseher läuft, wie immer. Mit Werbung, ebenfalls wie immer. Alle warten auf die Nachrichten – aber Werbung muß sein. Nur daß in diesem Fall die Welt der schönen Frauen und fotogenen Männer, die Deos und Duschgels ebenso anpreisen wie Waschmittel und Urlaubsreisen, nervenzerfetzend ist. Dedo sitzt vor dem Bildschirm und flucht. Er raucht eine Zigarette nach der anderen. Keine Filterzigaretten. Nein, die kann er sich nicht mehr leisten. Er dreht selbst, mit der erstaunlichen Perfektion, die ein passionierter Raucher nach einiger Zeit entwickelt. Und er trinkt Schnaps. Zwar nicht den seiner Heimat, den hat er sich schon vor vielen Jahren abgewöhnt. Er trinkt Weinbrand – Cognac, wie er immer sagt. Mariacron, manchmal auch andere Sorten. Es ist jeden Tag das gleiche: Des Morgens mit brummigem Schädel und in dürftiger Stimmung aufwachen, Streit mit der Frau, Kaffee trinken, rauchen, dann der Schnaps. Arbeit gibt es nicht: Die letzte hat ihm eine riesige Strafe eingebracht und eine Kürzung der Stütze. Aber was soll man machen? Wenn man nichts hat, muß man es auch schwarz probieren. Das Ganze hat ihn im letzten Jahr ein Viertel seines Körpergewichts gekostet. Aus einem stämmigen Mann ist ein Hänfling geworden. Und dann die Wohnung: Drei kleine Zimmer. Eigentlich nicht schlecht. Zwar ohne eigenes Bad, aber wenn man jahrelang auf Baustellen gearbeitet hat, ist das immerhin zu ertragen. Das Dumme ist nur, daß sich zu viele Leute darin tummeln: Die Frau, zwei erwachsene Söhne, zwei ebenso erwachsene Töchter, davon eine mit Baby, die uralte Mutter und seit neuestem noch Milena, zu allem Überfluß auch noch mit Kind. Da hilft nicht einmal die heilige Maria aus Medjugorje – es ist, um eine abgedroschene Phrase zu bemühen, einfach ein Kreuz. Und all diese Leute sitzen jetzt um den alten Fernseher herum.
Auf was warten sie? Auf die Nachrichten. Auf ein, wenn es hochkommt zwei Minuten, die von Interesse sind. Denn wer will schon wissen, wie die Inflationsrate war, was die Modemesse da und dort gezeigt hat oder wie das Wetter wird? Nein – sie warten auf einen kurzen Bericht aus ihrer Heimat, aus dem fernen Bosnien, aus dem Land, wo ein Krieg wütet, dem sie gerade noch so entkommen sind. Und dann wie an so vielen Tagen die Enttäuschung: Ein paar Sekunden Radovan Karadžić bei einer Pressekonferenz, ein Blick auf den Flughafen von Sarajevo, ein rollender serbischer Panzer irgendwo im Nichts von Zentralbosnien. Dann kommt schon der Sport. Immerhin gibt das Anlaß zur Diskussion, zur selben Art von Diskussion wie jeden Abend. Wo war das eben? Hast du die Straße erkannt? Verfluchte Verbrecher! Und die ewige Frage: Wieso kommen die nicht? Wo bleibt die Hilfe aus Deutschland und Amerika? Später klopft es an der Tür. Der alte Ivica aus dem kleinen Zimmer im ersten Stock. Wieder kreist der Mariacron, qualmen die Zigaretten, werden Geschichten aufgewärmt, die schon tausendmal erzählt wurden – vom Krieg,  vom Arbeitsamt, von den Kindern, vom Leben in Frieden, von Tito, von der Ustascha im Zweiten Weltkrieg …
Aber eigentlich sind es nur noch die beiden alten Männer, die dieses Gespräch führen. Die Alte sitzt teilnahmslos in ihrem Sessel, so wie schon seit Monaten. Die beiden Söhne verschwinden in die Stadt, man munkelt, der eine habe eine Freundin. Natürlich munkeln das nicht die Eltern: Die erfahren so etwas zuletzt. Die Mutter ist in der Küche und putzt. Sie putzt ständig, eigentlich eine Unmöglichkeit in der kleinen Wohnung. Tanja stillt ihr Baby, Milena leistet ihr Gesellschaft, die Kleine spielt. Dabei träumen sie – von einem ganz normalen Leben, von Arbeit, Geld, ihren Männern und ein bißchen Glück.

Jadranka geht durch die Straßen Göttingens. Ihr Weg ist weit, das Ziel ist wenig verlockend: Für ein paar Mark spülen in der Küche eines Italieners, schwarz natürlich. In der letzten Nacht hatte sie kaum schlafen können. Wie soll man auch schlafen zwischen Alten und noch Älteren, zwischen Müttern und schreienden Kindern, auf einer armseligen Matratze, die sonst unter dem Bett liegt? Arbeit bis spät in die Nacht, am nächsten Morgen um sechs aufstehen, denn Tellerspülen und Kochen sind nicht alles – das Restaurant will auch geputzt sein für die lustigen Gäste des nächsten Tages. Dazwischen grübelt sie über ihr Leben und ersinnt utopische Pläne, leidet unter der Verzweiflung wegen der Ausweglosigkeit, die sie umgibt, wegen der Chancenlosigkeit in einem fremden Land. Immer wieder denkt sie an die schreiende Marija, die in Kupres versuchte, der serbischen Soldateska zu entkommen und in einem Schuleingang endete. Immer wieder das Bild der besoffenen Soldaten: Wie sie ihr folgen, wie sie lachen, Hure brüllen, wie sie die Schnapsflasche in das Fenster werfen, daß es mit lautem Krach zerbirst. Wie sie sie einholen, wie sie der Schwarzbärtige mit einem Tritt niederstreckt, wie sie die Verzweifelte schlagen und mit Gewehrkolben malträtieren, wie sie ihre verschwitzten Hosen öffnen und sich auf sie legen. Wie das furchtbare Geschrei erklingt, das erst aufhört, als sie mit ihren Stiefeln wuchtvoll gegen Marias Schädel treten. Wer soll so etwas je vergessen? Und immer die bohrende Frage: Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte ihr doch nicht helfen?! Sie hätten mich doch auch noch umgebracht! Aber das hilft nichts. Jadrankas Gewissensbisse lassen sich nicht mit Argumenten bekämpfen, sie bleiben lange, sehr lange, vielleicht für immer.
Immer weiter den Berg hoch. Warum muß der Italiener auch so weit oben liegen? Aber immerhin – das gibt Gelegenheit zum Nachdenken. Und dazu, Grammatik zu wiederholen und Vokabeln zu lernen. Liegt Jadrankas Zukunft überhaupt in Bosnien, in Kroatien? Sie weiß es nicht. Jetzt ist sie in Deutschland, und es reicht: Wie kann ich mich hier bewegen, wenn ich nur ein paar Worte Deutsch spreche, nur Scheiße, Arbeit, Mark und Bus kenne? Das muß anders werden. Es ist ein Drang nach vorne, den Jadranka in sich trägt, geboren aus der verlorenen Perspektive, ein Drang, der sie dazu bewogen hat, gelegentlich zum ASTA zu gehen. Dort kann man Deutsch lernen, zusammen mit allen möglichen jungen Menschen aus aller Welt, für die Zukunft, für das Ende der Einsamkeit in Familie und Schwarzarbeit.
In der Stadt, da gibt es viele Menschen. Nicht nur solche, die ihr Leben und ihr Glück verloren haben wegen eines weit entfernten und doch so nahen Krieges. Da leben Studenten – komische in abgerissener Kleidung, die so tun als wäre Verachtung von Wohlstand eine Tugend und Armut ein Vergnügen. Ob die wohl wissen, was Armut und Abgerissenheit wirklich sind? Aber es gibt auch andere: Die Schicken, die sich sommers und winters in Wachsjacken hüllen, Jeans mit eleganten Hemden kombinieren, die zahllosen Kneipen bevölkern. Und die Studentinnen. Manche ebenso, fast zum Verwechseln, wie Männer angezogen, auch sie mit Wachsjacke und Jeans. Man sieht ihnen an, daß sie nicht im armen Bosnien leben – der Hintern ist manchmal reichlich dick. Aber sie sind interessant, strahlen einen Wohlstand aus, der durchaus erstrebenswert ist. Andererseits: Genau wie bei den Männern sehen auch viele Mädchen so aus, als hätten sie nichts zu beißen, schwarz gekleidet, verwahrlost – betonte Armut, die aber gar nicht wirklich da ist. Jedenfalls können alle die Nacht zum Tag machen, in den paar Diskotheken, in Bars und Klubs. Wie schön wäre es, auch dort zu sein!
Wie war es noch, vor ach so kurzer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war? Als alle in Stipe‘s Café gingen, wo tolle Musik spielte, wo man sich zeigte, wie man gerne sein wollte, aber auch so, wie man war. Wo Leute aus der Schule waren, wo man sich kannte, wo man reden konnte und sich verstand. Wo man kokett seine Schönheit ausspielen konnte, selbst um den Preis einer Ohrfeige – wie sie der enttäuschte Tomislav nach kurzem Techtelmechtel erbittert gab. Wo man nicht zum Bodensatz gehörte, sondern wo man seine Jeans, die Dedo aus Deutschland geschickt hatte, raffiniert zum Einsatz bringen konnte, zum Neid aller anderen, die jugoslawische Einheitskleidung trugen. Und nun? Ganz unten, am Rande der Gesellschaft. Jedenfalls der deutschen.

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Rufina
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Beitrag31.01.2012 20:33

von Rufina
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Obwohl die Protagonistin an den Studenten kein gutes Haar lässt, immer noch  Daumen hoch. Ich würde deinen Roman kaufen und lesen. Allerdings würde ich an deiner Stelle keine weiteren Romanteile im Prosa-Bereich einstellen zwecks Verlagssuche. Vielleicht wäre der AG-Bereich was?

Nochmal Grüße
Rufina


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mlakva
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Beitrag31.01.2012 21:43

von mlakva
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Hallo Rufina!

Als Neuling hier muß ich die - für alte Hasen hier vielleicht idiotische - Frage stellen: Warum nicht?
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Julian
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Beitrag31.01.2012 21:58

von Julian
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Eine AG ist ein geschlossener Bereich, in dem du in Ruhe an deinem Buch arbeiten kannst. Wenn du dein Buch der Öffentlichkeit vorstellst, kann es Probleme bei Verlagen geben, wenn sie das sehen. Wahrscheinlich dreht es sich dabei um rechtliche Fragen oder dergleichen?
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Rufina
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Beiträge: 693



Beitrag31.01.2012 22:35

von Rufina
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Ich denke es geht mehr um das Veröffentlichen im Internet an sich. Hier steht auch noch was dazu:

http://www.dsfo.de/fo/viewtopic.php?t=27025


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Phenolphthalein
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Beitrag02.02.2012 19:39

von Phenolphthalein
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Hallo mlakva!

zunächst möchte ich erwähnen, dass ich nur den ersten Teil gelesen habe.
Ohne mir die Kommentare der Anderen durchgelesen habe, kam ich allerdings auch zu Julians Einschätzung.
Der Text wirkte auf mich wie ein Bericht, und obwohl die Handluch sicherlich spannend ist, konnte sie mich deshalb nicht mitreißen (Auch der Grund, warum ich nicht weitergelesen habe).

Geschmäcker sind eben verschieden, wie du auch an anderen Komentaren sehen kannst.   Wink

Viele Grüße


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Nichts ist leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss.

-Arthur Schopenhauer
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mlakva
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Beitrag02.02.2012 23:00

von mlakva
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Ich will mich nicht hartleibig verteidigen - oder doch?

In der Tat sieht das Ganze wie ein Bericht aus, im Stakkato-Stil, wie schon bemerkt wurde. Ich hatte gehofft, auf diese Weise eine besondere Nähe zur Handlung konstruieren zu können. Und das schien mir notwendig zu sein, um Lebensnähe zu erhalten - die in den nächsten Abschnitten zwingend notwendig wird (wie ich halt so meine).

Aber ich will noch einmal darüber nachdenken...
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Nordlicht
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Beiträge: 3761



Beitrag02.02.2012 23:26

von Nordlicht
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Das funktioniert schon, aber nicht über tausende von Worten hinweg. Ich denke, wenn du dir den Stakkatostil für bestimmte Dinge wie Beschreibungen aufheben würdest, irgendwo einen Dialog reinschieben tätest, und an vielleicht dort, wo du Jadranka reinbringst, zu mehr show als tell wechselt und auch aus dem Stakkatotempo rausgehst, würde es als langer Text sehr an Lesbarkeit gewinnen. Ein Musikstück besteht ja auch aus verschiedenen Noten und wechselndem Tempo, das sollte bei einem längeren Text ebenso der Fall sein smile

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Weasel1988
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Beitrag07.02.2012 23:29

von Weasel1988
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mlakva hat Folgendes geschrieben:
Ich will mich nicht hartleibig verteidigen - oder doch?

In der Tat sieht das Ganze wie ein Bericht aus, im Stakkato-Stil, wie schon bemerkt wurde. Ich hatte gehofft, auf diese Weise eine besondere Nähe zur Handlung konstruieren zu können. Und das schien mir notwendig zu sein, um Lebensnähe zu erhalten - die in den nächsten Abschnitten zwingend notwendig wird (wie ich halt so meine).

Aber ich will noch einmal darüber nachdenken...


Ich muss jetzt mal einwerfen, dass ich es absolut klasse finde, genauso, wie du es geschrieben hast. Du beschreibst die Ereignisse auf eine ganz besondere Art, die mich direkt in das Geschehen hineinversetzt. Bitte weiter so!
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mlakva
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Beiträge: 8
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Beitrag09.02.2012 12:10

von mlakva
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Habe das ganze Projekt als E-Book bei www.neobooks.com eingestellt. Irgendwie muß man ja mal anfangen...

Darf ich hier Links einbauen? Wenn nicht, bitte ich die Moderatoren um Löschung oder Nachricht. Jedenfalls ist "Krieg" hier zu finden:

http://www.neobooks.com/werk/11187-krieg.html
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mlakva
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Beitrag31.01.2013 01:57

von mlakva
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Das Buch ist mittlerweile nicht mehr bei neobooks, sondern bei kindle erschienen: http://www.amazon.de/Krieg-Geschichte-Bosnien-Deutschland-ebook/dp/B00AU8G9XY/ref=sr_1_2?ie=UTF8&qid=1359590063&sr=8-2

Es gab einige kleine Änderungen. Außerdem ist über createspace eine Papierfassung in Arbeit.
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