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Traumtänzerin
Fähnchen Fieselschreib

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Beitrag30.09.2011 10:24

von Traumtänzerin
Antworten mit Zitat

Morgen MT,

bin gerade zwar auf dem Sprung, eine (vorerst) kurze Einschätzung wollte ich dir dennoch da lassen.

Deine Geschichte hat ein (für mich) überraschendes Ende. Und schockierend auf alle Fälle (siehe Sarah). Sprachlich haben mir die nachfolgenden Sarah-Teile um Meilen besser gefallen als "Kapitel" 1. Du hast es erneut geschafft, deinen Leser in eine Art "Sog" zu ziehen, die Worte wirkungsvoll eingesetzt. Mein Kompliment!!!

Vielleicht bzw. ganz sicher ist es eine Geschmacksfrage. Mir persönlich fehlt allerdings der Teil mit Sarahs "Untaten". Oder besser: eine Andeutung, damit die Stimmung/Spannung darüber nicht verloren geht (--> Auflösung im darauffolgenden Teil). Vorschlag auf die Schnelle: Die Umgebung (Autos) ausführlicher schildern.

LG,
Traumtänzerin


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Eine spitze Zunge ist in manchen Ländern schon unerlaubter Waffenbesitz.
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Dem wird befohlen, der sich selbst nicht gehorchen kann. (Nietzsche)
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kskreativ
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Beitrag30.09.2011 10:24

von kskreativ
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Die Geschichte ist gut geschrieben und nimmt den Leser gut mit. Der Schluss kommt mir etwas zu plötzlich. Die Diskrepanz mit den Zeiten wurde ja schon angemerkt. Hast du dich über den deutschen Strafvollzug mal informiert? Der Teil mit der Vergewaltigung ist ziemlich unrealistisch.
Da die Gefängnisse fast überall überfüllt sind, ist es sehr unwahrscheinlich, das eine neue Gefangene in eine Einzelzelle kommt, diese sind für gewalttätige Gefangene oder Gefangene auf Drogen reserviert. Meist sind es drei bis fünf Bett Zellen.
Selbstmord in der Zelle ist zwar möglich, wird aber sehr erschwert. Bei der Aufnahme in ein Gefängnis wird anhand von Befragungen und ärztlichen Untersuchungen bereits ein vorläufiges Gutachten erstellt, selbstmord- gefährdet oder nicht. Besteht Verdacht auf Selbstmordgefahr muss die/der Gefangene unter Bewachung Medikamente zur Ruhigstellung schlucken, schwere Fälle landen im Krankenflügel.


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C'est la vie. oder: Du würdest dich wundern, was man so alles überleben kann.
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Beitrag30.09.2011 11:08

von MT
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kskreativ hat Folgendes geschrieben:
Hast du dich über den deutschen Strafvollzug mal informiert?

Ja... Cool

kskreativ hat Folgendes geschrieben:
Der Teil mit der Vergewaltigung ist ziemlich unrealistisch.

Glaubst Du... Cool

Mal im Ernst: Nicht ohne Grund habe ich am Ende des Textes darauf hingewiesen, dass es sich hier um einen wahren Fall handelt. Im Rahmen künstlerischer Freiheit habe ich zwar ein wenig "ausgearbeitet" und Zusammenhänge geschaffen, die nicht zwingend zusammen waren. Doch das Ergebnis wie auch seine einzelnen Teilsegmente sind (leider) erschreckend real. Du hast in allem, was Du sagst, Recht. Es ist dennoch so.


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Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.

Siegfried Lenz
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Beitrag30.09.2011 11:17

von MT
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Moin TT!

Zitat:
Deine Geschichte hat ein (für mich) überraschendes Ende. Und schockierend auf alle Fälle (siehe Sarah). Sprachlich haben mir die nachfolgenden Sarah-Teile um Meilen besser gefallen als "Kapitel" 1. Du hast es erneut geschafft, deinen Leser in eine Art "Sog" zu ziehen, die Worte wirkungsvoll eingesetzt. Mein Kompliment!!!


Über Teil 1 hatten wir schon gesprochen; schön, wenn Dir die anderen Sarah-Teile besser gefallen haben. Teil 1 werde ich noch mal unter die Lupe nehmen.

Dass ein Sog entsteht, freut mich natürlich!

Zitat:
Vielleicht bzw. ganz sicher ist es eine Geschmacksfrage. Mir persönlich fehlt allerdings der Teil mit Sarahs "Untaten". Oder besser: eine Andeutung, damit die Stimmung/Spannung darüber nicht verloren geht (--> Auflösung im darauffolgenden Teil). Vorschlag auf die Schnelle: Die Umgebung (Autos) ausführlicher schildern.

Ja, das ist gewiss Geschmacksache. Ich habe mich bemüht, mich möglichst kurz zu fassen, der Text ist ohnehin (deutlich) länger geworden, als ich es geplant hatte. Du kennst andere Texte von mir, ein regelmäßiges Stilelement ist, dass ich in der Regel recht viel Wert auf Sinneswahrnehmungen lege (wie reichts, schmeckts, siehts aus, hört sich an, fühlt sich an...). Hier schien mir dieser Stil indes zu aufgesetzt, ich wollte mich mehr auf einen schnellen Fortgang der Handlung konzentrieren.

Doch sei gewiss, liebe TT, dass ich die "Auto-Szene" noch einmal genauer anschauen werde. Vielleicht könntest Du Deine Gedanken dazu noch ein klein wenig präzisieren? Embarassed Wäre sehr hilfreich für mich.


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Siegfried Lenz
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Beitrag30.09.2011 14:39

von MT
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Ich habe die "Ungereimtheit" im Tei VII korrigiert und glaube, jetzt kommt es besser an:

VII.

Sarah liegt auf der Pritsche in ihrer Zelle, die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Immer wieder hat sie in diesen nächsten Stunden das Bild vor Augen, das Bild von sich selbst, wie sie noch Jahre später schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, wie sie sich weinend und zitternd am ganzen Körper nächtelang in ihrer Wohnung einschließen wird, sich wegsperren wird von der Welt und sich in einer Ecke ihrer kleinen Küche auf den Boden kauern wird, die Knie ganz dicht an den Oberkörper gezogen.

Besser/Klarer?

LGMT


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Siegfried Lenz
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kskreativ
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Beitrag30.09.2011 15:05

von kskreativ
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Besser geschrieben, ja. Ich habe da nur etwas Probleme mit der Gefühlsverfassung von Sarah. Nach einem so traumatischen Erlebnis, wie die Einweisung in ein Gefängnis und dann noch eine Vergewaltigung, ist das Denken wohl mehr oder wenig ausgeschaltet. Die Person dürfte für die nächste Zeit eher in einem totalen Schockzustand sein.

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Traumtänzerin
Fähnchen Fieselschreib

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Beitrag30.09.2011 15:50

von Traumtänzerin
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Hi,

habe mir deine Geschichte jetzt noch einmal genau(er) durchgelesen. Und ich muss sagen...

1. dass die Auto-Umfeld-Szenerie doch (ich revidiere vorherige Aussage[n]) in ausreichendem Umfang geschildert ist. Ich hatte noch nicht die ganze Geschichte gelesen und dachte, die Hauptaussage deiner Geschichte läge bei den Autos--> zu hohe Strafe, wobei durch die darauffolgenden Kapitel (Vergewaltigung, Suizid) der eigentliche Vorgang des Straftatbestands in den Hintergrund rückt. Gerade dadurch, dass du die Szene nicht zu genau beschreibst, sondern wie "nebensächlich" in die Handlung einfließen lässt, wirkt der Text. Schließlich geht es - sofern ich mich nicht irre - in deinem Text um eben jenen krassen Gegensatz zwischen "Bagatelle"<->(zu) hohes Strafmaß.

2. mir leider das Kapitel VII nicht gefallen hat. Du schreibst mir zu plakativ. Das ist - wie immer - Geschmackssache, klar. Aber während ich die vorhergehenden Teile quasi "verschlungen" habe, hatte ich bei diesem enorm am Text zu kauen. Mir ist klar, dass du eine gewisse "Objektivität", eine nüchterne Nuance, in die Geschichte gerade durch die Futur-Schreibweise einbringen möchtest. Kommt bei mir als Leserin jedoch (subjektiv!) überhaupt nicht rüber.
Beispiel (in der verbesserten Variante von VII):
Zitat:
Sarah liegt auf der Pritsche in ihrer Zelle, die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Immer wieder hat sie in diesen nächsten Stunden das Bild vor Augen, das Bild von sich selbst, wie sie noch Jahre später schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, wie sie sich weinend und zitternd am ganzen Körper nächtelang in ihrer Wohnung einschließen wird, sich wegsperren wird von der Welt und sich in einer Ecke ihrer kleinen Küche auf den Boden kauern wird, die Knie ganz dicht an den Oberkörper gezogen.
Uah! Was für ein langer Schachtelsatz!
Versuch es doch mit mehreren (kürzeren), beziehe eventuell die passive Sarah ein wenig mehr mit ein. Außerdem irritiert mich der Zeitensprung von Futur zu Präsens - die Vergewaltigung findet erst in der Zukunft statt, aber schon jetzt (im Präsens) hat sie diese Bilder vor Augen?
Vorschlag dazu: "Immer wieder wird sie ... haben". Wink

3. Kapitel VII ist mir definitiv zu kurz. Schreib doch ein bisschen szenischer, ausführlicher. Der Bericht-Stil wirkt - meiner Meinung nach - nur beim Richter gut. Ganz im Gegensatz zu Sarah, um deren Schicksal es hier doch hauptsächlich geht.

So, hoffe, das konnte dir jetzt etwas mehr nützen (auf die Schnelle). smile

LG,
Traumtänzerin


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Bananenfischin
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Beitrag30.09.2011 20:13

von Bananenfischin
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Hallo MT,

ich möchte nur kurz zu einer Textstelle etwas schreiben, die mich auch sehr irritiert hat. Sie wurde schon aufgegriffen und du hattest dazu geschrieben:

Zitat:
Das war Absicht, es scheint hier aber nicht angekommen zu sein. Das "Jahre später" sollte ihre Gedanken darstellen. Ich sehe aber, dass dies mit dem Berichtsstil wohl kaum in Einklang zu bringen ist, weil man als Leser im Absatz zuvor davon ausgeht, sie wird noch viele Jahre leben, während man im zweiten Absatz erfährt, dass sie sich tags darauf das Leben genommen hat.


Genau damit wird der Leser eben total in die Irre geführt. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass es nur eine düstere Zukunftsvision ist; es kommt als Fakt an, den der schon im Satz davor vorgreifende auktoriale Erzähler liefert.

Dann hast du leicht geändert:

Zitat:
Ich habe die "Ungereimtheit" im Tei VII korrigiert und glaube, jetzt kommt es besser an:

VII.

Sarah liegt auf der Pritsche in ihrer Zelle, die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Immer wieder hat sie in diesen nächsten Stunden das Bild vor Augen, das Bild von sich selbst, wie sie noch Jahre später schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, wie sie sich weinend und zitternd am ganzen Körper nächtelang in ihrer Wohnung einschließen wird, sich wegsperren wird von der Welt und sich in einer Ecke ihrer kleinen Küche auf den Boden kauern wird, die Knie ganz dicht an den Oberkörper gezogen.


So funktioniert es aber meiner Meinung nach immer noch nicht. Ich vermute, das liegt an der rückwärts gerichteten Chronologie, die gleichzeitig nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird  - durch die für mich irriterende Wiederholung von "in den nächsten Stunden", was eher Gleichzeitigkeit als ein (rückwärtiges) Nacheinander impliziert. Es wäre weniger verwirrend, gleich nach dem ersten Satz zum eigentlichen Geschehen zu springen. Der Einschub mit der Vision von sich selbst in der Zukunft ... möchtest du ihn unbedingt drin haben? Er zeigt zwar auf, dass das Erleben einer solchen Tat lebenslange Folgen hat - aber wäre das wirklich das, woran jemand, der das gerade eben erlitten hat, wirklich denken würde?
Ich weiß es nicht, ich vermute aber, dass es eher etwas anderes wäre. Betäubung, Unglauben, Schmerz, Irrealitätsgefühle, immer wieder Aufblitzen der Bilder des eben Geschehenen.

Insgesamt bin ich mit diesem Text bisher nicht richtig warm geworden - ich bin mir aber noch nicht sicher, woran das genau liegt und melde mich noch einmal, wenn es so weit ist.

Nur eines eben noch: Ich bin beim Lesen des Anfangs direkt am ersten Satz hängengeblieben.

Zitat:
Der vierte August 2006 ist ein heißer Sommermorgen.


Ich weiß nicht, ob ich jetzt zu kleinlich bin, aber für mich geht dieser Satz so nicht, denn er sagt aus, dass der ganze Tag ein Morgen war. Das könnte in einem anderen Zusammenhang ein wunderbares Bild sein, aber diese Funktion hat es hier doch nicht, oder? Ich meine, da braucht es eine andere Formulierung.

Liebe Grüße
Bananenfischin


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

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Beitrag02.10.2011 10:30

von MT
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Hi TT,

Zitat:
Uah! Was für ein langer Schachtelsatz!
Versuch es doch mit mehreren (kürzeren), beziehe eventuell die passive Sarah ein wenig mehr mit ein. Außerdem irritiert mich der Zeitensprung von Futur zu Präsens - die Vergewaltigung findet erst in der Zukunft statt, aber schon jetzt (im Präsens) hat sie diese Bilder vor Augen?
Vorschlag dazu: "Immer wieder wird sie ... haben". Wink

3. Kapitel VII ist mir definitiv zu kurz. Schreib doch ein bisschen szenischer, ausführlicher. Der Bericht-Stil wirkt - meiner Meinung nach - nur beim Richter gut. Ganz im Gegensatz zu Sarah, um deren Schicksal es hier doch hauptsächlich geht.

Es ist immer wieder ineressant, wie unterschiedlich Schreiben/Lesen sein kann. An Teil VII habe ich - kein Witz - am längsten gebrütet. Ich wollte das (immer schneller werdende) Tempo halten und zum Ende durch kurze, objektive Berichterstattung die ganze Kälte der Tatsächlichkeiten, der "Normalitäten" zeigen, auch und gerade im Gegensatz zum szenischen Text zuvor. Das ist offenbar noch nicht ganz ausgegoren, auch der Bananin geht´s so. Ich werde mir VII daher gleich noch einmal in Ruhe vornehmen - beim Joggen, da kommen oft ganz gute Ideen.

In jedem Fall aber: DANKE, hast mir sehr geholfen.

LGMT


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Siegfried Lenz
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Beitrag02.10.2011 10:34

von MT
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Moin Banane,

Zitat:
So funktioniert es aber meiner Meinung nach immer noch nicht. Ich vermute, das liegt an der rückwärts gerichteten Chronologie, die gleichzeitig nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird - durch die für mich irriterende Wiederholung von "in den nächsten Stunden", was eher Gleichzeitigkeit als ein (rückwärtiges) Nacheinander impliziert. Es wäre weniger verwirrend, gleich nach dem ersten Satz zum eigentlichen Geschehen zu springen. Der Einschub mit der Vision von sich selbst in der Zukunft ... möchtest du ihn unbedingt drin haben? Er zeigt zwar auf, dass das Erleben einer solchen Tat lebenslange Folgen hat - aber wäre das wirklich das, woran jemand, der das gerade eben erlitten hat, wirklich denken würde?
Ich weiß es nicht, ich vermute aber, dass es eher etwas anderes wäre. Betäubung, Unglauben, Schmerz, Irrealitätsgefühle, immer wieder Aufblitzen der Bilder des eben Geschehenen.

Wie ich zuvor TT schon schrieb: Ich werde an VII noch einmal grundlegend rangehen. Ich glaube, Du hast Recht, das funktioniert so noch nicht. Vielleicht braucht es des Blicks in die Zukunft auch gar nicht... Ich werde mal schauen.

Zitat:
Insgesamt bin ich mit diesem Text bisher nicht richtig warm geworden - ich bin mir aber noch nicht sicher, woran das genau liegt und melde mich noch einmal, wenn es so weit ist.

Das würde mich sehr freuen. Und weiterhelfen...

Danke Dir!

LGMT

P.S.

Mit dem Anfang hattest Du vollkommen Recht. So hab ich´s geglättet:

MT der Glätter hat Folgendes geschrieben:
Der vierte August 2006 ist ein heißer Sommertag. Es ist erst kurz vor acht Uhr früh, aber die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen.


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Siegfried Lenz
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Beitrag02.10.2011 15:59

von MT
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Ich habe Teil VII bearbeitet, bin jetzt allerdings unsicher...

Was haltet ihr davon:



VII.

Sarah sitzt auf der Pritsche ihrer Zelle. Den Rücken lehnt sie an den kalten Metallkleiderschrank, sie hat die Beine angezogen und mit den Armen umschlugen. Sie friert und sieht zum Fenster hinaus, durch Gitterstäbe hindurch, die eine seltsame Symbiose mit den Regenfäden dahinter eingehen.
Nach der Verhandlung durfte sie ein Telefonat führen, Sarah hat ihre Mutter angerufen. Die Mutter hat geweint, sie hat gesagt, das muss alles ein Irrtum sein und dass Vater sich um alles kümmern würde. Ja, hat Sarah geantwortet und gedacht, Vater kümmert sich immer um alles und jetzt sitzt sie im Knast.
Die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie nie mehr vergessen.
Sie hört die Schritte im Gang, es sind harte Schritte, entschlossene, sie stoppen vor ihrer Zellentür, Sarah dreht sich um. Das kleine Sichtfenster in der Tür öffnet sich, Licht fällt in den Raum, es sticht in Sarahs Augen. Dann wird ein Schlüssel ins Schloss geschoben, er sucht sich seinen Weg, zweimal schlägt der Zylinder zurück, Sarah zuckt zusammen, es folgt das Quietschen der Scharniere.
Sie wird nie erfahren, wie zwei der männlichen Gefangenen Zugang zum Frauentrakt erhielten. Ihr wird auch für immer unbekannt bleiben, weshalb plötzlich die Zellentür aufgeschlossen wurde und die beiden Männer im Rahmen standen, erkennbar nur durch die breiten Umrisse ihrer Schultern im schummrigen Licht des Flures. Sarah erkennt noch eine Wärterin, die etwas abseits steht, ein Schlüsselbund in der Hand. Sie sieht Sarah nicht an, der Blick der Frau ist auf den Boden gerichtet. Sie zieht die Tür zu, und Sarah hört nur noch das Atmen der Männer.
In dieser ersten Nacht schweigt sie. Ihre Augen klammern sich an die Decke ihrer Zelle. Der Schweiß der Männer klebt an ihrem Körper, das Stöhnen bohrt sich wie ein Messer in ihren Kopf, es klingt wie das Grunzen von Schweinen, die aus einem Trog fressen. Unter dem Gewicht der beiden Häftlinge droht sie zu ersticken. Sie liegt da wie ein Stück Fleisch, lässt geschehen, was unausweichlich ist, lässt zu, was ihr auf ewig die Seele zerbrechen wird. Tränen laufen ihre Wangen herunter, ganz leise Tränen nur, während die Federn der Pritsche knartsen. Sarah versucht, ihr Gesicht mit ihren Händen zu verdecken, doch der Mann auf ihr hält ihre Arme fest. Er presst seine nassen Lippen auf ihren Mund, er stinkt nach Alkohol und Zigaretten.
Sarah ist betäubt, ihr Körper hat sich von ihr abgetrennt, er ist nicht mehr Teil ihrer selbst, wird nur noch bestimmt vom perfiden Rhythmus fremder Bewegungen. Sie verspürt das schmerzende Verlangen zu schreien, aber ihr Mund bleibt stumm. Sie will sich zur Wehr setzen, sie will schlagen, treten, doch Arme und Beine bewegen sich nicht. Sie sind taub. Taub wie all ihre Gefühle, die aus ihrem Körper entwichen sind. Fort von hier, weit weg. Sarah zwingt sich, nichts mehr zu riechen, nichts mehr zu sehen. Und denkt nur noch an Maria. Maria steht auf dem Balkon im Hinterhof, sie lacht ihr Lebensglück in einen blauen Himmel, und wenig später liegt sie in den Armen ihres geliebten Tony.
Das letzte, was Sarah in dieser Nacht wahrnimmt, ist der Regen, der draußen an das Fenster prasselt. Die Tropfen am Glas verbinden sich zu wahllosen Rinnsalen und laufen die Scheibe hinunter.


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Siegfried Lenz
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Beitrag02.10.2011 17:29

von Gast
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Hallo Markus,
will mich noch einmal melden, auch um dir zu sagen, wie sehr mich III. (die Szene mit der Frau des Chefs, der "Seele" des Unternehmens, nach Feierabend) direkt getroffen hat, es passiert mir nicht oft, aber am Ende des Abschnitts hat es mir die Kehle zugeschnürt. Du bringst da etwas rüber, und dann auch noch ohne dass es irgendwie ausgelutscht daherkommt, wirklich gut. Mein einziger „Kritikpunkt“, wenn es denn einer ist: der Übergang von Sarahs Realität zur „Westside Story“ setzt voraus, dass der Leser mit dem Musical vertraut ist, ich meine, du solltest an der Stelle an die Zugänglichkeit „für alle“ denken, ich hoffe, du weißt, was ich meine?
Dass das Auto der Dame zweimal erwähnt wird, bereitet darauf vor, was Sarah später tun wird, unbewusst eigentlich, und ich finde, dass das insgesamt sehr gut gemacht ist.

Für die Gerichtsverhandlung selbst (VI) wollte ich dir ein großes Kompliment machen (das furchtbar Falsche, Gönnerhafte des Richters, die Süffisanz, das kommt bei mir ganz direkt an), ich finde es ganz erstaunlich, wie wahr es erscheint, wie es Sarah geht und wie die Distanz hier völlig aufgehoben ist, d.h. ich fühle mich mit ihr von dem, was außerhalb passiert, abgeschnitten und nehme nicht sofort wahr, was passiert und das Unbegreifliche ist schon geschehen, wenn ich es dann erkenne.

Zu dem, was ihr passiert, in der Haft: Du hast auch hier etwas sehr Schweres, nämlich die Beschreibung einer Vergewaltigung und der Versuch der menschlichen Seele, sich dabei vom Körper zu distanzieren, gut bewältigt, wie ich glaube.
Das, was für mich – im Hinblick auf den Selbstmord allerdings – nicht funktioniert, sind die Hinweise auf ein späteres Leben, ich glaube ehrlich, dass du vielleicht noch eine andere Lösung finden könntest?

Im Voraus bitte ich um Entschuldigung für das "Zerhacken" im Folgenden:

MT hat Folgendes geschrieben:
In dieser ersten Nacht schweigt sie. Ihre Augen(vllt "ihr Blick klammert ..."?) klammern sich an die Decke ihrer Zelle. Der Schweiß der Männer klebt an ihrem Körper, das Stöhnen bohrt sich wie ein Messer in ihren Kopf, es klingt wie das Grunzen von Schweinen, die aus einem Trog fressen. >>> "das Stöhnen wird zweimal zu einem Vergleich herangezogen, ich denke, das geht nicht so gut, vielleicht könntest du den Satz zweiteilen, oder aber auf das "Messer in ihrem Kopf" verzichten? Unter dem Gewicht der beiden Häftlinge droht sie zu ersticken. Sie liegt da wie ein Stück Fleisch >>> (ich weiss nicht genau, was mich an dem Vergleich stört, wohl, dass es ihr ja nicht egal ist, sie hat nur eben keine Wahl ... schwierig), lässt geschehen, was unausweichlich ist, lässt zu, was ihr auf ewig die Seele zerbrechen wird.

Wenn du hier z.B. „auf ewig“ weg ließest, dann nimmst du dem Satz zwar nicht die Bedeutung, du schließt aber auch nicht aus, dass sie nicht mehr lange leben wird.

Du hast all die Abschnitte recht schnell hintereinander eingestellt, ich hatte kaum Zeit, zu folgen, deshalb nun dieser etwas gedrängte Kommentar, falls mir noch andere Dinge (wieder) einfallen, melde ich mich einfach noch einmal.

Einen Gruß,
wieder einmal
Anja
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MT
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Beitrag02.10.2011 17:54

von MT
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Liebe Anja,

auch Dein Kommentar ist mir - wie immer - sehr viel wert, weiß und sehe ich doch, dass Du Dich wirklich ganz dicht am Text orientierst, mit ihm arbeitest, ihn wirken lässt auf Dich. Nur so bekommt man solch "tiefe" Textkritik hin. Sehr vielen Dank dafür!!

Zitat:
will mich noch einmal melden, auch um dir zu sagen, wie sehr mich III. (die Szene mit der Frau des Chefs, der "Seele" des Unternehmens, nach Feierabend) direkt getroffen hat, es passiert mir nicht oft, aber am Ende des Abschnitts hat es mir die Kehle zugeschnürt. Du bringst da etwas rüber, und dann auch noch ohne dass es irgendwie ausgelutscht daherkommt, wirklich gut. Mein einziger „Kritikpunkt“, wenn es denn einer ist: der Übergang von Sarahs Realität zur „Westside Story“ setzt voraus, dass der Leser mit dem Musical vertraut ist, ich meine, du solltest an der Stelle an die Zugänglichkeit „für alle“ denken, ich hoffe, du weißt, was ich meine?
Dass das Auto der Dame zweimal erwähnt wird, bereitet darauf vor, was Sarah später tun wird, unbewusst eigentlich, und ich finde, dass das insgesamt sehr gut gemacht ist.

Was mich immer wieder stört, ist diese latent vorhandene, vielfach schon nachgerade selbstverständliche Ausländerfeindlichkeit. Sie kommt in Halbsätzen, mal so eben nebenbei. Sie ist so gefährlich. Es ist sehr schön, wenn das durch den Text transportiert wird.

Zitat:
Für die Gerichtsverhandlung selbst (VI) wollte ich dir ein großes Kompliment machen (das furchtbar Falsche, Gönnerhafte des Richters, die Süffisanz, das kommt bei mir ganz direkt an), ich finde es ganz erstaunlich, wie wahr es erscheint, wie es Sarah geht und wie die Distanz hier völlig aufgehoben ist, d.h. ich fühle mich mit ihr von dem, was außerhalb passiert, abgeschnitten und nehme nicht sofort wahr, was passiert und das Unbegreifliche ist schon geschehen, wenn ich es dann erkenne.

Ich glaube, die meisten von uns verstehen den Ablauf einer solchen Verhandlung nicht. Juristen scheinen bisweilen stolz darauf, können sie sich doch auf diese Weise "besonders" machen. Ich habe viele Menschen bei Gericht erlebt, denen es genauso ergangen ist. Am Ende fragten sie: "Wie? Ist schon vorbei? Was ist denn jetzt rausgekommen?" Sie saßen die ganze Zeit der Verhandlung neben mir, sie haben nichts verstanden...
Hier ist Arroganz der Richter in ihrer Blüte zu erleben. Doch keineswegs nur der Richter. Betroffen sind davon genauso Staats- und Rechtsanwälte. Darum ging es hier im Text jedoch nicht, hier kam es mir auf die besondere Person des Richters an.

Zitat:
Zu dem, was ihr passiert, in der Haft: Du hast auch hier etwas sehr Schweres, nämlich die Beschreibung einer Vergewaltigung und der Versuch der menschlichen Seele, sich dabei vom Körper zu distanzieren, gut bewältigt, wie ich glaube.
Das, was für mich – im Hinblick auf den Selbstmord allerdings – nicht funktioniert, sind die Hinweise auf ein späteres Leben, ich glaube ehrlich, dass du vielleicht noch eine andere Lösung finden könntest?

Ein sehr schwieriges Thema, oh ja. Vor allem, wenn mal als Mann darüber schreiben möchte... Wenn es weitegehend angekommen ist, wäre ich sehr froh, es war eine Mamutaufgabe für mich.
Kann es sein, dass Du noch nicht die letzte Version des Teils VII (hatte ich heute nachmittag eingestellt) kennst? Dort ist der Blick in die Zukunft nicht weiterverfolgt. Ob Du Dir diese Version noch einmal ansehen magst?

Ich danke Dir sehr. Auch wieder einmal...

LGMT


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Beitrag06.10.2011 18:06

von Gast
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Hallo Markus,

entschuldige bitte, dass ich mich erst jetzt noch einmal melde. Ich habe blau markiert, was nach meinem Dafürhalten immer noch "zu weit" in die Zukunft zeigt. Mir ist klar, dass das Mädchen in diesem Augenblick vielleicht selbst noch nicht weiss, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wird, und dennoch glaube ich, dass es besser wäre, diese Hinweise auch noch weg zu lassen. Der Text braucht sie nicht, und es sind ja auch nicht wirklich "ihre" Gedanken - was es mit ihr macht, was sie erleben muss, wird klar, und durch das Ende wird auch klar, dass sie es nicht erträgt, dass sie vollkommen allein gelassen ist.

Es ist eine Geschichte, die nahe geht, um so mehr, weil die Geschehnisse in ihrer Ungeheuerlichkeit unfassbar sind, und du doch versuchst, sie zu zeigen. Dass eine Strafvollzugsanstalt zum rechtsfreien Raum wird, dass jemand, der dort ungeschützt und unvorbereitet ankommt, nicht mehr auf den Rechtsstaat zählen darf, der ihn ja dorthin gebracht hat, ist eine Tatsache, die, soweit ich weiss, auch in Frankreich Realität ist.

Es ist gut, dass du das Thema angehst. Und es ist ja nicht das einzige, welches du verarbeitest, die Figur des Richters (ich habe mir den Link angesehen), die Vermengung politischer und persönlich/beruflicher Ambitionen, das alles ist bestimmt keine einfache Materie. Bleib dran, ich finde, es lohnt sich, vor allem dann, wenn du die Qualität deiner Sprache so einsetzt, dass das Ganze auch für Leser ein "Erlebnis" wird, die sich sonst für eine solche Thematik vielleicht gar nicht interessieren würden.

Grüsse von
Anja
ermutigende, wie ich hoffe smile



MT hat Folgendes geschrieben:
Ich habe Teil VII bearbeitet, bin jetzt allerdings unsicher...

Was haltet ihr davon:



VII.

Sarah sitzt auf der Pritsche ihrer Zelle. Den Rücken lehnt sie an den kalten Metallkleiderschrank, sie hat die Beine angezogen und mit den Armen umschlugen. Sie friert und sieht zum Fenster hinaus, durch Gitterstäbe hindurch, die eine seltsame Symbiose mit den Regenfäden dahinter eingehen.
Nach der Verhandlung durfte sie ein Telefonat führen, Sarah hat ihre Mutter angerufen. Die Mutter hat geweint, sie hat gesagt, das muss alles ein Irrtum sein und dass Vater sich um alles kümmern würde. Ja, hat Sarah geantwortet und gedacht, Vater kümmert sich immer um alles und jetzt sitzt sie im Knast.
Die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie nie mehr vergessen. Sie hört die Schritte im Gang, es sind harte Schritte, entschlossene, sie stoppen vor ihrer Zellentür, Sarah dreht sich um. Das kleine Sichtfenster in der Tür öffnet sich, Licht fällt in den Raum, es sticht in Sarahs Augen. Dann wird ein Schlüssel ins Schloss geschoben, er sucht sich seinen Weg, zweimal schlägt der Zylinder zurück, Sarah zuckt zusammen, es folgt das Quietschen der Scharniere.
Sie wird nie erfahren, wie zwei der männlichen Gefangenen Zugang zum Frauentrakt erhielten. Ihr wird auch für immer unbekannt bleiben, weshalb plötzlich die Zellentür aufgeschlossen wurde und die beiden Männer im Rahmen standen, erkennbar nur durch die breiten Umrisse ihrer Schultern im schummrigen Licht des Flures. Sarah erkennt noch eine Wärterin, die etwas abseits steht, ein Schlüsselbund in der Hand. Sie sieht Sarah nicht an, der Blick der Frau ist auf den Boden gerichtet. Sie zieht die Tür zu, und Sarah hört nur noch das Atmen der Männer.
In dieser ersten Nacht schweigt sie. Ihre Augen klammern sich an die Decke ihrer Zelle. Der Schweiß der Männer klebt an ihrem Körper, das Stöhnen bohrt sich wie ein Messer in ihren Kopf, es klingt wie das Grunzen von Schweinen, die aus einem Trog fressen. Unter dem Gewicht der beiden Häftlinge droht sie zu ersticken. Sie liegt da wie ein Stück Fleisch, lässt geschehen, was unausweichlich ist, lässt zu, was ihr auf ewig die Seele zerbrechen wird. Tränen laufen ihre Wangen herunter, ganz leise Tränen nur, während die Federn der Pritsche knartsen. Sarah versucht, ihr Gesicht mit ihren Händen zu verdecken, doch der Mann auf ihr hält ihre Arme fest. Er presst seine nassen Lippen auf ihren Mund, er stinkt nach Alkohol und Zigaretten.
Sarah ist betäubt, ihr Körper hat sich von ihr abgetrennt, er ist nicht mehr Teil ihrer selbst, wird nur noch bestimmt vom perfiden Rhythmus fremder Bewegungen. Sie verspürt das schmerzende Verlangen zu schreien, aber ihr Mund bleibt stumm. Sie will sich zur Wehr setzen, sie will schlagen, treten, doch Arme und Beine bewegen sich nicht. Sie sind taub. Taub wie all ihre Gefühle, die aus ihrem Körper entwichen sind. Fort von hier, weit weg. Sarah zwingt sich, nichts mehr zu riechen, nichts mehr zu sehen. Und denkt nur noch an Maria. Maria steht auf dem Balkon im Hinterhof, sie lacht ihr Lebensglück in einen blauen Himmel, und wenig später liegt sie in den Armen ihres geliebten Tony.
Das letzte, was Sarah in dieser Nacht wahrnimmt, ist der Regen, der draußen an das Fenster prasselt. Die Tropfen am Glas verbinden sich zu wahllosen Rinnsalen und laufen die Scheibe hinunter.
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Beitrag07.10.2011 15:07

von MT
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Hallo Anja,

vielen Dank! Deine Worte ermutigen sehr.

Ich selbst spüre ja auch, dass mir irgendetwas noch immer nicht gefällt an Teil VII - vielleicht auch im Zusammenspiel mit VIII. Ich werde noch einmal drübergehen und mich dann wieder melden.

LGMT


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Beitrag04.11.2011 15:23

von MT
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Moin zusammen,

ich weiß, der Text ist lang. Doch ich hatte zuvor die einzelnen Abschnitte nacheinander gepostet und denke, die überarbeitete Fassung sollte jetzt im Ganzen eingestellt werden. Wer mag, hier also meine neue Fassung:


Ein Morgen im August

I.

Der siebte August ist ein heißer Sommertag. Es ist kurz vor acht Uhr früh, die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, die Lehrstelle hat sie im letzten Moment bekommen. Vater hat den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, da hilft man sich. Sie sei keine Schlechte, hat Vater am Telefon gesagt, eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem Anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.
Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. Ihr Vater hat gesagt, treib dir die Flusen aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind. Mit Menschen, die genauso denken, fühlen.
Die Straßen der Stadt sind mit Autos verstopft, Menschen hasten zur U-Bahn, ein Martinshorn heult vorbei. Auf dem Marktplatz an der großen romanischen Kirche haben Händler ihre Stände aufgebaut. Tomaten, Äpfel, Auberginen leuchten, vom Stand gegenüber weht der Duft von eingelegten Oliven und Schafskäse über den Platz. Ein Verkäufer spricht Sarah an, er hält ihr ein Stück Fladenbrot mit einer roten Paste darauf hin und lächelt. Sie muss ebenfalls lächeln, schüttelt den Kopf und bittet ihn wortlos um Verständnis, dass sie sein Angebot nicht annimmt.
Ihr Weg zur Fabrik führt sie an den alten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbei, alle haben unzählige Sprossenfenster, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sarah sieht die Fassaden hinauf und fragt sich, welche Geheimnisse die Gebäude in ihren alten Mauern tragen. Ob Menschen darin gelebt haben, ob sie darin gestorben sind.
Vielleicht wüsste ihr Chef Antworten, die Firma, in der Sarah vor ein paar Tagen eine Ausbildung zur Segeltuchmacherin begonnen hat, ist in einem solchen Gebäude untergebracht. Sie steht vor dem großen Eingangsportal und spürt ihr Unbehagen, die Glastür zu öffnen und einzutreten in die hohe Halle mit all dem Edelstahl, dem Glas, dem feinen Holz. Alles ist geschmackvoll eingerichtet, teuer, aber Sarah mag es nicht, es stößt sie ab, wie große, glänzende Bankenhäuser sie abstoßen. Nein, denkt sie, sie wird den Firmenchef nicht fragen.
Als sie die doppelflüglige Tür aufgestoßen hat mit ihrem ganzen Körpergewicht, steht sie im Foyer. Eine etwa dreißig mal dreißig große Halle, die über fünf Stockwerke bis zur Decke offen ist. Links und rechte in den hinteren Ecken führen Treppen hinauf, die in der Mitte ein Plateau bilden und von dort nach außen weiterlaufen, um sich im nächsten Stockwerk zu vereinen. Ihre Anordnung erinnert an eine Spirale oder Sprungfeder, und Sarah überlegt, ob ein solcher Gedanke vom Innenarchitekten gewollt war.
„West Side Story“ könnte hier aufgeführt werden, denkt sie. Die Szene im Hinterhof, als Tony und Maria sich auf ihrem Balkon ihre gegenseitige Liebe gestehen. Dazu müsste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.
Sarah schüttelt den Kopf, als wolle sie sich von der Dummheit ihrer Vorstellungen überzeugen. Sie nimmt eine der Treppen und geht in den ersten Stock, Fertigungshalle. Jede Stufe schmerzt in den Knien. Bevor sie die Tür öffnet, sieht sie noch einmal nach unten, sieht durch die hohen Glastüren hinaus auf den Seitenarm der Elbe, auf dem bunte Kutter dümpeln. Ihr Blick wandert zurück in die Halle, fällt jetzt kerzengerade hinab zu Boden. Sie stellt sich Tony vor, der unten steht, die rechte Hand emporgestreckt. Er singt sein berühmtes Maria zu ihr hinauf. Sie beißt die Zähne zusammen.

II.

Das Kreischen einer Möwe, die auf der Balustrade des großen Südbalkons hockt, reißt Raimund Schacht aus einem süßen Traum. Vor Sekunden noch lag er mit einer blonden Frau, die kein Wort deutsch sprach, es auch nicht musste, in einem Bett. Ihre Haut braun und schweißnass und nach Leidenschaft schmeckend. Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben und setzt sich aufrecht gegen die Rückenlehne. Sein Kopf dröhnt und das Licht der Nachttischlampe schmerzt in den Augen.
Die Nacht war lang, er sieht auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor neun. Zeit für den täglichen Orangensaft und einen Espresso.
Sein Penthouse ist aufgeräumt, seine Putzfrau kommt zweimal die Woche, gestern zuletzt. Sie leistet gute Arbeit, ist nur zu teuer, die kleine Türkin. Seine Kleider hat er, als er nach Hause kam, auf den Holzdielen verteilt. Hier die Socken, da die Unterhose, dort das weiße Hemd. Wo ist die Hose, seine blaue Jeans, die er gestern getragen hat? Unwichtig, denkt er, geht ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Raimund Schacht versucht sich an die letzten Stunden zu erinnern, er hat einen Filmriss. Sie waren in dieser Bar, zwei Freunde aus dem Ruderclub und er. Sie haben ein paar Frauen angesprochen, mit der einen, wie hieß sie doch gleich, hat er getanzt. Hämmernde Bässe, rotes und grünes und gelbes Licht. Menschen, dicht an dicht und die Luft troff vor Feuchtigkeit. Später, im Gang zu den Toiletten, haben sie sich geküsst, Roland Schacht und die Frau, er hat ihr die Bluse hochgeschoben, sie hat gelacht. Sie wollte noch mit zu ihm kommen, jetzt kann er sich nicht mehr entsinnen, wo sie abgeblieben ist.
Im weißen Bademantel geht er die drei Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten und holt seine vier Tageszeitungen aus dem Briefkasten. Schon als er sie aus der Rolle zieht, erkennt er auf der einen das Titelbild. Er ist in allen Blättern erwähnt und mit Foto abgebildet. Sein Herz beginnt zu hüpfen, er macht eine Strike-Bewegung mit dem linken Arm, bei der er leicht in die Knie geht. Hastig nimmt er die Treppen nach oben, schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und wirft die Zeitungen auf den Balkontisch. Bevor er zurück in die Küche läuft, um Kaffee und Saft zu holen, sieht er hinüber zur Elbe. Er ruft:
„Guten Morgen, Hamburg!“
Er lacht, der Kopfschmerz ist weg. Raimund Schacht fühlt sich gut. Sein Interview von gestern morgen haben alle geschluckt, alle berichten darüber. Selbst aus dem linken Lager klingt es wohlwollend, was sie von seinen Aussagen halten. Ja, denkt er sich, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, die Menschen im Land wollen hören, was du sagst, sie wollen einen wie dich, der handelt wie du.
Er kippt den Espresso in einem Zug und steckt sich eine Zigarette an. Er schlägt eine der Zeitungen auf und liest. Sie haben ihn korrekt wiedergegeben: Er setze auf harte Strafen, anders als seine Richterkollegen, die zu weichgespült seien. Der Rechtsstaat habe versagt, Hamburg sei zu einem deutschen Palermo verkommen. Drogenstraftaten seien keine Kavaliersdelikte, sie seien schwere Verbrechen, die mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden müssten.
Raimund Schacht klappt langsam die Zeitung zu und legt sie beiseite, die Zigarette drückt er in den Aschenbecher. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er und ihm ist, als müsste er nur aufstehen, mit dem Finger schnippen und er würde abheben, würde fliegen über die Stadt und ihre vielen Menschen. Und sie würden zu ihm hinaufsehen und ihm zuwinken. In den grauen Novemberhimmel hinein.

III.

Sarah hat den ganzen Tag an einer Persenning herumgenäht. Das muss man von Hand machen, an die gerissenen Stellen in der riesigen grünen Plane gelangt man nicht mit der Maschine. Das hat ihr Chef gesagt. Ihre Kollegen haben geschmunzelt und weggeschaut. Jetzt, kurz vor Feierabend, sind die Kuppen von Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand rot und wund, die Haut brennt, aber Sarah lässt sich nichts anmerken. Sie lässt sich nie etwas anmerken, egal wem gegenüber, selbst ihrem Vater nicht. Das hat sie aufgegeben.
Als der Zeiger auf siebzehn Uhr springt, steht Sarah auf und packt ihre Sachen. Die Brotdose mit dem angebissenen Apfel darin und der Tomate und dem hartgekochten Ei. Mutter wird den Kopf schütteln, wenn sie sieht, dass ihre Tochter wieder nicht gegessen hat. Sarah hat keinen Hunger, das geht ihr seit Wochen so. Sie will die Mutter nicht enttäuschen, doch an Essen ist nicht zu denken. Außerdem müssen Schauspielerinnen dünn sein, die dünnen bekommen die besseren Angebote, das weiß Sarah von einer Freundin, die seit ein paar Wochen auf der Schauspielschule ist. Sie haben sich nur einmal noch nach der bestandenen Aufnahmeprüfung gesehen, danach nicht mehr. Sarah ist nicht nach Treffen zumute.
Sie klemmt ihre Jeansjacke unter den Arm, wirft ein leises „Tschüss“ in die Runde, das nicht erwidert wird, und geht.
Draußen vor der Eingangstür holt sie Luft, zieht den abendlichen Sommer tief in ihre Lungen und schließt die Augen. Hier, inmitten der vielen, großen Backsteinhäuser der Speicherstadt, sieht Sarah die rivalisierenden Gangs aufeinander zulaufen, die einheimischen Jets kämpfen gegen die Einwanderer, die Sharks. Junge Männer mit schwarzen, zurückgegelten Haaren, die Hemden bis zur Brust aufgeknöpft, davor baumeln die goldenen Kruzifixe. Da fliegen Messer durch die Luft wie sirrende Insekten, da werden Fausthiebe verteilt und getanzte Fußtritte. Gut gegen Böse führen die beiden Jugendbanden auf, doch dem Zuschauer dieses Spektakels bleibt verschlossen, wer gut ist, wer böse. Denn letztlich geht es um Liebe. Um die Liebe zweier Menschen, die das Pech haben, an unterschiedlichen Orten der Welt geboren zu sein.
Sarah erschrickt, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legt. Schnell öffnet sie die Augen und dreht sich um. Es ist die Frau des Chefs, die vor ihr steht, Margarethe von Berlach. Vater sagt, sie hat das Geld in die Ehe gebracht, und außerdem hätte sie das heimliche Sagen in der Firma, obwohl sie nur selten da ist. Margarethe von Berlach guckt ernst wie immer, ihre blonden Haare hat sie in einen Dutt am Hinterkopf gezwängt. Sie wirft die Riemen ihrer roten Lederhandtasche auf die Schulter und sagt:
„Du kannst mich nicht ausstehen, richtig?“
Sarah reagiert nicht gleich, ihr ist, als sei die Temperatur an diesem Sommerabend in Sekundenbruchteilen ins Bodenlose gefallen, ihr läuft ein Schauer über den Rücken.
„Wie… wieso sagen Sie das?“
„Pass auf, Mädchen. Ich habe nichts gegen Mulatten. Du bist hier, weil mein Mann und Dein Vater es so abgemacht haben. Mach Deine Arbeit und halt Dich ansonsten zurück. Klar?“
Sarah nickt, ihr Herz rast in der Brust. Die Frau kommt noch etwas näher, Sarah riecht den Zigarettenatem:
„Und zieh Dich nicht so nuttig an, sonst schmeiß ich Dich raus.“
Sarah bekommt keine Luft mehr, so schlimm wie jetzt war es bisher noch nicht. Wie soll das weitergehen? Drei Jahre lang.
Wortlos lässt Margarethe von Berlach Sarah stehen. Sie steigt in ihr dunkelgrünes Cabriolet und fährt davon. Im Abrauschen des Wagens und im Geschrei der Möwen, die über einem Alsterfleet kreisen, hört Sarah Margarethe von Berlachs Worte nachhallen, besonders eines. Mulatten. Das hat sie gesagt.

IV.

Seine vier Zeitungen ist Raimund Schacht zügig durchgegangen, nebenher hat er Radio gehört, sogar dort ist er Tagesthema. Die Zeitungsartikel, in denen er erwähnt wurde, hat er ausgeschnitten und in den Ordner zu den anderen gelegt, allmählich wird die Sammlung dicker. Die inzwischen dritte Tasse Espresso kippt er im Gehen und stellt sie auf dem Sideboard in der Garderobe ab, bevor er die Wohnung verlässt und ins Gericht fährt.
Seine Terminsrolle ist voll für heute. Elf Verfahren, sieben im Bagatellbereich. In einigen müssen Zeugen vernommen werden, in anderen Sachverständige zur Schuldfähigkeit der Angeklagten. Dabei steht die Schuld fast immer fest. Raimund Schacht kann es nicht mehr hören, dieses immer gleiche Lied von der schwierigen Kindheit und dem schlechten sozialen Umfeld und all dem Kram. Fehlende Steuerungs- oder mangelhafte Einsichtsfähigkeit in das Unrecht einer Tat, so nennen die Gutachter das. Alle reden nur über die Täter, über ihre Probleme und sozialen Unfähigkeiten. Die Köpfe zerbricht man sich über die Frage, wie durch Resozialisierung eine möglichst sanfte Rückkehr in die Wertegesellschaft stattfinden kann. Doch wo bleiben die Opfer? Was ist mit den Tankstellenbesitzern, die Nacht für Nacht beklaut und deren Fensterscheiben eingeworfen werden? Was mit den Menschen, die ihr Leben lang Narben am Körper oder gar im Gesicht tragen von einem Messerüberfall. Nein, sie hört man nicht an, sie vernachlässigt man, stattdessen verpulvert der Staat jährlich zig Millionen für Gefängnisse, die aussehen wie Wohnstuben. Das muss ein Ende haben, und das wird es auch. Raimund Schacht wird seinen Beitrag dazu leisten, so gut es in seiner Macht steht.
In seinem Dienstzimmer, das nur mit einem Schreibtisch, einem Stuhl dahinter und ein paar mickrigen Kakteen eingerichtet ist, zieht er seine Robe mit Samtbesatz an und bindet den weißen Schlips um. Er sieht sich im Wandspiegel an, der Krawattenknoten gefällt ihm nicht, er bindet neu. Dann klemmt er die Akten unter den Arm und geht hinüber zu Sitzungssaal. Die Luft ist stickig, es riecht nach Linoleum und altem Holz. Im Hintergrund knackt die Heizung. Die Protokollführerin sitzt bereits seitlich am Richtertisch. Raimund Schacht begrüßt sie mit einem kurzen ‚Morgen’, setzt sich und ruft die erste Sache auf. Elf mal wird er heute über Menschen richten, er wird entscheiden, ob sie Geldstrafen zahlen oder ins Gefängnis gehen müssen. Dabei wird er sich die immer gleichen Geschichten anhören müssen. Herr Richter, ich wollte nicht… Herr Richter, ich war das nicht… Es ist ihm über, und als die erste Angeklagte den Saal betritt, überlegt er, welchen Anzug er heute Abend für den Empfang des Staatssekretärs im Alten Rathaus anziehen soll. Dann sieht er von seiner Akte auf, die Angeklagte setzt sich, und Raimund Schacht denkt, wie lecker, eine hübsche, kleine Negerin zum Auftakt.

V.

Margarethe von Berlach ist mit ihrem Wagen um die Ecke gebogen, immer noch schaut Sarah dem leeren Straßenverlauf in den Backsteinschluchten nach. Sie hat das Gefühl, Hände hätten sich um ihren Hals gelegt und zugedrückt, ihr Kinn zittert, Sarah weiß nicht, ob es Wut ist, was sie empfindet. Eine Träne rollt ihr über die Wange, ein klarer Gedanke ist nicht möglich. Was soll sie tun? Wo soll sie hin? Nach Haus etwa? Zu ihrem Vater vielleicht? Oder zu Mutter, die schon lange dieses Land verlassen will? Zurück in ihre Heimat, zurück nach Kenia und zu ihrer Familie. Mutter erzählt leise davon, und dann leuchten ihre Augen wie bei einem Kind.
Aus der Hosentasche holt Sarah ihr Handy und tippt Karstens Nummer, er ist gleich dran. Sie verabreden sich für viertel vor sechs im Park, am Springbrunnen, wo er jeden Abend mit seinen Kumpels verbringt. Als Sarah auflegt, schlägt ihr Herz kräftig in der Brust. Sie mag Karsten, sehr sogar, und sie glaubt, er mag sie auch. Die beiden kennen sich aus der Abizeit, er war ein Jahrgang über ihr, hat aber abgebrochen, und was er zurzeit macht, weiß sie nicht. Karsten kommt aus gutem Elternhaus, hat teure Klamotten an, kann sich gut benehmen, und seine blonden Haare sind immer kurz und gestylt. Einmal war er bei Sarah zu Hause, und als er gegangen war, hatte ihre Mutter gelächelt, hatte ihr die Wange gestreichelt und gesagt, er sei ein netter Junge.
Der schwüle Sommerabend tropft von den roten Häuserfassaden, nur hin und wieder geht Wind durch die Gassen. Sarahs Schritte sind kurz und schnell, Schweiß rinnt ihr von der Stirn, die Bluse klebt am Rücken. An der Außenalster geht sie entlang, der Feierabendverkehr drückt sich durch die verstopfte Stadt.
In einer Nebenstraße parken Autos an der Bordsteinkante, dicht an dicht stehen sie wie an einer Perlenschnur aufgereiht hintereinander. Sarah bleibt stehen, sie denkt nicht lange nach, und schon hat sie einen flachen, kantigen Stein vom Boden aufgenommen und geht weiter. Die Spitze des Steins frisst sich in die Lacke der Fahrzeuge, hinterlässt Furchen, Schlangenlinien, krude Muster. Ein schrilles Sirren begleitet Sarahs Schritte, die jetzt schneller werden, die allmählich zu hüpfen, und kurz darauf zu laufen beginnen. Der Stein ratscht dabei weiter, frisst sich in blauen Türen, in schwarze Kotflügel, in dunkelgrüne Motorhauben, bis Sarah ihn von sich wirft und rennt.
Als sie den Parkeingang passiert, sieht sie Karsten schon, sie winkt, er winkt zurück, kommt auf sie zu, eine Bierflasche in der Hand.
Was mit ihr los sei, will er wissen, warum sie so außer Atem sei. Er zieht die Stirn in Falten. Sarah wiegelt ab, und er sagt „Komm“ und nimmt sie mit zum Brunnen, an dem ein paar andere Jungs und Mädchen stehen. Sarah kennt niemanden, sie wird mit Kopfnicken, Handheben begrüßt und grüßt zurück. Kurz darauf hat sie ein Bier in der Hand, alle haben ein Bier in der Hand. Sie trinkt, die kalte Flüssigkeit rinnt ihr die Kehle herunter. Der Alkohol tut gut, im Magen, im Kopf. Sie sitzt auf der Wiese, Karsten neben ihr, er lächelt, plötzlich dreht sie sich zu ihm und küsst seinen Mund. Er hält die Augen dabei offen, ist sichtlich überrascht. Dann nimmt er sie in den Arm. Lange erwidert er ihre Küsse. Sarahs Kopf ist leer, und sie glaubt, sie fühlt so etwas wie Glück. Der Moment soll niemals enden, und es noch nicht acht Uhr abends, als zwei Polizeibeamte vor ihr stehen.

VI.

Es regnet seit vier Tagen, das Thermometer schafft es nicht bis zur zweistelligen Marke. Nichts Besonderes für Ende November, doch sein Wetter wird das nie. Raimund Schacht liebt Sonne, er braucht die Leichtigkeit des Sommers, um zu voller Form zu gelangen. Graues, kaltes Regenwetter macht ihn gereizt.
Der Staatsanwalt entschuldigt seine kurze Verspätung, als er den Saal betritt und nimmt auf seinem Stuhl Platz. Die Frau vom Jugendamt, die bereits daneben sitzt, lächelt unecht. Raimund Schacht wirft dem Staatsanwalt einen strengen Blick zu und sagt:
„Ist schon das zweite Mal.“ Dann aber wendet er sich der Angeklagten zu. Ihr Alter entnimmt er der Akte, das Mädchen ist vor wenigen Tagen zwanzig geworden, Raimund Schacht könnte Jugendstrafrecht anwenden, das ist bis einundzwanzig möglich. Man wird sehen, er legt sich da anfangs nicht fest. Die meisten in diesem Alter wissen genau, was sie getan haben. Er wird es vom Verlauf der Verhandlung abhängig machen, schaut dem Mädchen in die weißen Augen und setzt sein freundliches Lächeln auf. Sieht nett aus, die Kleine, denkt er. Schöne Haut, er mag diesen braunen Ton und erinnert sich an so manche Nacht, in denen er Frauen mit solcher Haut hatte.
„Also“, sagt er. „Fangen wir an“, und zwinkert Sarah mit einem Auge zu. Er beginnt mit der Vernehmung zu ihrer Person, der Verteidiger neben Sarah bestätigt die Angaben, die sich aus der Akte ergeben. Dann steht der Staatsanwalt auf und verliest die Anklageschrift.
„Danke“, sagt Raimund Schacht und sieht Sarah wieder in die Augen.

Es ist ein falsches Lächeln, das erkennt sie sofort. Ihr ist unwohl, sie hat vergangene Nacht kein Auge zugetan. Der Verteidiger, den ihr Vater besorgt hat, hat heute früh vor der Verhandlung noch einmal gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, das ganze sei eine Bagatelle, Sachbeschädigung an ein paar mehr oder weniger alten Autos. Da komme allenfalls eine kleine Geldstrafe raus, er habe das schon mit dem Staatsanwalt vorbesprochen am Telefon, und der sei auch einverstanden.
Sarah weicht den Blicken des Richters aus, sie ekelt sich vor seinem Grinsen. Sie hat nur einen Wunsch: Der Tag soll vorübergehen.
Was jetzt passiert, welche Worte gesprochen, welche Zusammenhänge erörtert und Rückschlüsse gezogen werden, verkommt in Sarah Ohren zu einem einzigen Brei. Sie kann der Verhandlung nicht mehr folgen, hört zwar das Schreien ihres Verteidigers, sieht das Kopfschütteln des Staatsanwalts, ist aber nicht im Stande in sich aufzunehmen, was der Richter zu ihr sagt. Wie in einem milchigen Schleier verschwimmen seine Konturen, Sarah hält es für möglich, sich nur in einem bösen Traum zu befinden, sie überlegt, ob sie ihren Körper kräftig schütteln sollte, um aufzuwachen. Die Stimmen der Männer sind verzerrt wie bei einem zu langsam laufenden Tonband, ihre Bewegungen führen sie in Zeitlupe aus. Sarah will fort von hier, sie will raus aus dieser Enge, die ihr die Luft zu Atmen nimmt. Eine unerträgliche Hitze bemächtigt sich ihrer, ihr wird schwindelig, Sarah springt auf. Der Richter brüllt, sie hört wieder etwas klarer.
„Herr Anwalt, sagen sie ihrer Mandantin, sie soll sich hinsetzen.“
Sarah spürt eine Hand an ihrem Arm, sie sieht dem Anwalt neben sich in die Augen, er nickt, bedeutet ihr, sich zu setzen, und sie lässt sich auf den Stuhl zurückfallen.
Der Staatsanwalt steht auf, kopfschüttelnd nimmt er seine Akten unter den Arm und verlässt den Raum.
„Wachtmeister“, ruft der Richter, und schon stehen zwei Männer in Uniform neben Sarah, „Justiz“ steht auf ihren Jacken.
„Wir werden Berufung gegen das Urteil einlegen“, sagt der Anwalt neben ihr und im selben Moment ergreift einer der Männer Sarahs Arm und zieht sie vom Stuhl hoch.

Raimund Schacht kennt dieses Schauspiel, sein Puls ist ruhig, er sieht dem Staatsanwalt nach, wie der den Raum verlässt, sieht auch, wie die Beamten die Angeklagte abführen. Die nächste Sache ist für dreizehn Uhr terminiert. Genug Zeit, um einen Kaffee zu trinken. Oder einen Tee mit Rum. Bei diesem Sauwetter.
Jugendstrafrecht kam nicht in Frage, auch wenn die Mitarbeiterin des Jugendamts dafür plädierte. Das machen die immer, das ist kein Maßstab für ihn. Sarah Schmidt wusste ganz genau, was sie tat. Sie soll die Strafe dafür spüren, die Strafe soll ihr eindringlich vor Augen führen, welches Unrecht sie begangen hat. Und sie soll sie vor künftigen Straftaten bewahren.
Sarah Schmidt, zwanzig Jahre alt, nicht vorbestraft, wurde zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ohne Bewährung. Sie hatte den Lack von fünf Fahrzeugen zerkratzt.

VII.

Sarah sitzt auf der Pritsche ihrer Zelle, mit dem Rücken lehnt sie am Metallschrank. Ihre Beine hat sie an den Oberkörper gezogen und mit den Armen umschlugen. Novemberkälte zieht durchs Fenster, kriecht bis unter die Haut, Sarah zittert und starrt auf die Gitterstäbe. Mit den Regenfäden dahinter gehen sie eine metallene Symbiose ein, eine einzige Wand.
Nach der Verhandlung heute Mittag durfte Sarah ein Telefonat führen, sie hat ihre Mutter angerufen. Die Mutter hat geweint, sie hat gesagt, das muss alles ein Irrtum sein und dass sich Vater um alles kümmern werde. Ja, hat Sarah geantwortet und gedacht, Vater kümmert sich immer um alles.
Die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und Sarah denkt eben noch, sie wird kein Auge zu tun, als sie Schritte im Gang hört. Absätze, die auf Fliesenboden schlagen. Vor ihrer Zellentür stoppen sie, Sarah dreht sich um. Das kleine Sichtfenster in der Tür wird zur Seite geschoben, Licht fällt in den Raum, es sticht in den Augen. Ein Schlüssel wird ins Schloss geführt, er sucht sich seinen Weg, zweimal schlägt der Zylinder zurück, Sarah zuckt zusammen, es folgt das Quietschen der Scharniere. Dann stehen zwei Männer im Rahmen, erkennbar nur durch die breiten Umrisse ihrer Schultern im müden Schein der Flurleuchte. Sarah nimmt noch eine Wärterin wahr, die etwas abseits steht, ein Schlüsselbund in der Hand. Der Blick der Frau ist auf den Boden gerichtet. Sie zieht die Tür zu. Sarah hört nur noch das Atmen der beiden Häftlinge. Und ihr eigenes Herz schlagen.
Bei dem, was nun geschieht, schweigt sie. Ihre Augen klammern sich an die Zellendecke. Der Schweiß der Männer klebt an Sarahs Körper, ohne eine Regung liegt sie da, lässt geschehen, was unausweichlich ist, lässt zu, was ihr die Seele bricht. Tränen laufen ihre Wangen herunter, ganz leise Tränen nur, während die Federn der Pritsche knarzen. Sarah will schreien, aber ihr Mund bleibt still. Sie will sich zur Wehr setzen, will schlagen und treten, doch Arme und Beine bewegen sich nicht. Sie sind taub. Taub wie alles Gefühl, das aus ihrem Körper entwichen ist. Fort von hier, ganz weit weg. Sarah zwingt sich, nichts zu riechen, nichts zu denken. Sie schließt die Augen. Und sieht Maria. Maria steht auf dem Balkon im Hinterhof, sie lacht ihr Lebensglück in einen blauen Himmel, und wenig später liegt sie in den Armen ihres geliebten Tony.
Das letzte, was Sarah in dieser Nacht wahrnimmt, ist der Regen, der draußen ans Fenster prasselt. Die Tropfen am Glas verbinden sich zu wahllosen Rinnsalen und laufen die Scheibe hinunter.

VIII.

Etwa zwei Jahre später scheidet Raimund Schacht aus dem Richteramt auf eigenen Wunsch aus, er hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine eigene politische Partei gegründet und wird bald darauf zum Zweiten Bürgermeister und Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg berufen. Aufgrund erheblicher Dissonanzen mit seinen Parteikollegen und einer öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit dem Ersten Bürgermeister der Stadt zieht er sich allerdings zurück und wandert nach Brasilien aus. Dort bezieht er eine komfortable Stadtwohnung, und wird an einem lauen Sommerabend von einem Unbekannten mit versteckter Kamera beim Kokainkonsum gefilmt, zwei brasilianische Frauen mit kurzen Röcken an seiner Seite.
Sarah hat nie erfahren, wie zwei der männlichen Gefangenen Zugang zum Frauentrakt erhielten und warum ihre Tür aufgeschlossen werden konnte. Mitten in der Nacht. Am zweiten Tag ihres Aufenthalts in der Haftanstalt erhängte sie sich in ihrer Zelle mit einem zerrissenen Bettlaken. In wenigen Monaten wäre sie einundzwanzig Jahre alt geworden.
Raimund Schacht lebt heute von seiner Richterpension und den Ruhebezügen aus seiner Zeit als Mitglied im Hamburger Senat. Zusammen sind dies etwa achttausend Euro monatlich. Wenn er von Journalisten auf Sarah Tod angesprochen wird, tut er so, als könne er sich an nichts erinnern.

Ende


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Beitrag04.11.2011 17:56

von Nordlicht
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Hi MT,

ich habe deine Erstfassung nicht gelesen, von daher weiß ich jetzt nicht, inwiefern sich diese Version davon unterscheidet.

MT hat Folgendes geschrieben:
Der siebte August ist ein heißer Sommertag. Es ist kurz vor acht Uhr früh, die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, die Lehrstelle hat sie im letzten Moment bekommen. Vater hat sollte es hier nicht "hatte" heißen? Bin mir unsicher, aber es klingt für mich komisch den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, da hilft man sich. Sie sei keine Schlechte, hat Vater am Telefon gesagt, eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem Anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.

Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. Ihr Vater hat gesagt, treib dir die Flusen aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind. Mit Menschen, die genauso denken, fühlen.


Weiter mochte ich nicht lesen, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen. Der Erzählstil plätschert so vor sich hin, ohne Höhen, ohne Tiefen, ein gleichmäßiges Säuseln, das bei mir etwas Langeweile auslöst.
Als Stilmittel ist das ja durchaus verwendbar, aber direkt am Anfang einer Geschichte finde ich es etwas problematisch, da es mich sofort ausbremst.
Aber wenn ein interessanter Inhalt darin verpackt ist, kann es ja trotzdem funktionieren.

Da hakt es für mich zum zweiten Mal, denn auch die Protagonistin plätschert langweilig dahin.
Ich sehe hier ein Mädchen, dem der Papa einen Job besorgt hat, das heißt für mich, eine Prota ohne Initiative. Papa sagt zwar, dass sie fleißig und intelligent ist, aber den Eindruck bekomme ich hier nicht. Im Gegenteil, es verstärkt sich noch im nächsten Absatz. Sie würde gern ins Theater gehen, solange Mama und Papa dafür die Kohle springen ließen. Da wird sie mir nun unsympathisch.
Den letzten Rest an Interesse am Fortlauf der Geschichte verliere ich bei dem Satz, dass sie sich vom Schauspielersein (für das sie jedoch nicht genügend Interesse zu haben scheint, um Eigeninitiative zu entwickeln) verspricht, in ein anderes Ich zu schlüpfen, mit dem die Zuschauer denken und fühlen. Vielleicht sollte sie erst mal ihr eigenes Ich aufmöbeln? Ist ihr Dasein so schlimm, ist sie unglücklich, hasst sie jemanden? Das vermisse ich hier, da ist nirgendwo ein Funke zu spüren. Sie klingt wie ein gänzlich leidenschaftsloser Mensch, dem im Grunde alles egal ist.

Kombiniert mit dem gewählten Erzählstil bekomme ich den Eindruck, dass sich die Geschichte nun durch die potentielle Selbstfindung oder  -verwirklichung der Prota bewegen wird, die durchaus gute Gründe für ihr blasses Dasein haben mag (das klebrige Lachen des Vaters hört sich danach an).
Aber um weiterlesen zu wollen, bräuchte ich irgendetwas, wegen dessen ich die Prota anfeuern und begleiten wollte. Das könnte ein lebhafterer Erzählstil sein oder ein Wesenszug der Prota. In der hier vorliegenden Kombination funktioniert es für mich leider nicht, sorry.


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kskreativ
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Beitrag04.11.2011 19:17

von kskreativ
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Zitat:
Raimund Schacht

Ich plädiere für einen anderen Nachnamen, ich heiß nämlich auch so ...
Vom Stil her, finde ich diese Fassung besser als die erste, dichter geschrieben. Die Geschichte gewinnt aber erst auf den letzten paar Metern richtig an Schwung, wenn sie fast zu Ende ist.


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Nina
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Beitrag04.11.2011 22:01

von Nina
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Hallo MT,

ich habe Deine Geschichte gelesen, allerdings nicht ganz. Ich habe Anmerkungen gleich im Text verfasst. Schau einfach, was Du davon nützlich findest.

Insgesamt ist diese berichtartige Erzählweise nicht mein Fall. Es gibt keine "Highlights", keine Abwechslung, was sicherlich, angesichts der Thematik beabsichtigt ist. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass hier fast alles schräg ist. Also nicht, dass die Erzählweise schräg ist, sondern die Wahrnehmung der Personen, auch ihr Denken. Sicher ist das beabsichtigt und Teil der Charakterisierung. Die Schilderungen erschienen mir größtenteils sehr ausführlich, dass ich mich gefragt habe, ob es später von Bedeutung sein wird, z.B. dass es zwei Treppen im Haus gibt, die sich oben verbinden. An einigen Stellen war es, für mein Empfinden, zuviel. Das mit den vier Zeitungen zum Beispiel.


Ich zeige Dir mal, was mir im Text aufgefallen ist:

........



Zitat:
Ein Morgen im August

I.

Der siebte August ist ein heißer Sommertag. Es ist kurz vor acht Uhr früh, die Luft flirrt bereits (bereits – ist verzichtbar) über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, die Lehrstelle hat sie im letzten Moment bekommen. (Ihr) Vater hat (hatte) den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, da hilft man sich. Sie sei keine Schlechte, hat Vater am Telefon gesagt, eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem Anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.
Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte (möchte, würde sie gern dort verbringen) sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. (schiefer Satz. Der angehängte Nebensatz). Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. (Noch ein schiefer Satz.) Ihr Vater hat gesagt, treib dir die Flusen (*gg* Flausen) aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind (Was denn sonst?). Mit Menschen, die genauso denken, fühlen (wie sie).
Die Straßen der Stadt sind mit Autos verstopft, Menschen hasten zur U-Bahn, ein Martinshorn heult vorbei. Auf dem Marktplatz an der großen romanischen Kirche haben Händler ihre Stände aufgebaut. Tomaten, Äpfel, Auberginen leuchten (sind Glühbirnen drin?), vom Stand gegenüber weht der Duft von eingelegten Oliven und Schafskäse über den Platz. Ein Verkäufer spricht Sarah an, er hält ihr ein Stück Fladenbrot (bestrichen) mit einer roten Paste darauf hin und lächelt. Sie muss ebenfalls (auch/zurück) lächeln, schüttelt (dann aber) den Kopf und bittet ihn wortlos um Verständnis, dass sie sein Angebot (klingt seltsam) nicht annimmt (annehmen kann).
Ihr Weg zur Fabrik führt sie an den (streichen) alten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbei, alle (sie) haben unzählige Sprossenfenster, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sarah sieht die Fassaden hinauf und fragt sich, welche Geheimnisse die Gebäude in ihren alten Mauern tragen (mögen). Ob Menschen darin gelebt haben (?), ob sie darin gestorben sind.
Vielleicht wüsste (wusste / kannte) ihr Chef Antworten, die Firma, in der Sarah vor ein paar Tagen eine Ausbildung zur Segeltuchmacherin begonnen hat, ist in einem solchen Gebäude untergebracht. Sie steht vor dem großen Eingangsportal und spürt ihr Unbehagen, die Glastür zu öffnen und einzutreten in die hohe Halle mit all dem Edelstahl, dem Glas, dem feinen Holz. Alles ist geschmackvoll eingerichtet, teuer, aber Sarah mag es nicht, es stößt sie ab, wie große, glänzende Bankenhäuser sie abstoßen. Nein, denkt sie, sie wird den Firmenchef nicht fragen.
Als sie die doppelflüglige (doppelflügelige) Tür aufgestoßen hat mit ihrem ganzen Körpergewicht, steht sie im Foyer. (Übergang / Anschluss) Eine etwa dreißig mal dreißig große Halle, die über fünf Stockwerke bis zur Decke offen ist. Links und rechte in den hinteren Ecken führen Treppen hinauf, die in der Mitte ein Plateau bilden und von dort nach außen weiterlaufen, um sich im nächsten Stockwerk zu vereinen (Wort … verbinden). Ihre (Bezug: vielleicht besser Die) Anordnung erinnert an eine Spirale oder Sprungfeder, und Sarah überlegt, ob ein solcher Gedanke vom Innenarchitekten gewollt war. (ob es Absicht des Innenarchitekten war, solch einen Gedanken zu erzeugen).

„West Side Story“ könnte hier aufgeführt werden, denkt sie. Die Szene im Hinterhof, als (in der) Tony und Maria sich auf ihrem (dem) Balkon ihre gegenseitige (verzichtbar, da es dies impliziert). Liebe gestehen. Dazu müsste (man hier das Transparent entfernen) das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.
Sarah schüttelt den Kopf, als wolle sie sich von der Dummheit ihrer Vorstellungen überzeugen (Dieser Satz macht in seiner Aussage leider überhaupt keinen Sinn. Aber vielleicht ist das ja beabsichtigt in diesem Zusammenhang?). Sie nimmt (besser: begeht, steigt) eine der Treppen (da vorher so deutlich geschrieben wurde, dass es eine rechte und eine linke Treppe gibt, würde ich an dieser Stelle mich für eine entscheiden und das entsprechend im Satz ergänzen) und geht in den ersten Stock, Fertigungshalle. Jede Stufe (Schritt) schmerzt in den Knien. Bevor sie die Tür öffnet, sieht sie noch einmal nach unten, sieht (streichen) durch die hohen Glastüren hinaus auf den Seitenarm der Elbe, auf dem bunte Kutter dümpeln. Ihr Blick wandert zurück in die Halle, fällt jetzt (streichen) kerzengerade hinab zu Boden. Sie stellt sich Tony vor, der unten steht, die rechte Hand emporgestreckt (zwei Worte, soweit ich weiß). Er singt sein berühmtes Maria (nun) zu ihr hinauf. Sie beißt die Zähne zusammen.

II.

Das Kreischen einer Möwe, die auf der Balustrade des großen Südbalkons hockt, reißt Raimund Schacht aus einem süßen (streichen, da im folgenden Satz der Traum geschildert wird) Traum. Vor Sekunden noch lag er mit einer blonden Frau, die kein Wort deutsch sprach, es auch nicht musste, in einem Bett. Ihre Haut braun und schweißnass und nach Leidenschaft schmeckend. Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben und setzt sich aufrecht gegen die Rückenlehne. Sein Kopf dröhnt und das Licht der Nachttischlampe schmerzt in den Augen.
Die Nacht war lang, er sieht auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor neun. Zeit für den täglichen Orangensaft und einen Espresso.
Sein Penthouse ist aufgeräumt, seine Putzfrau kommt zweimal die Woche, gestern zuletzt. Sie leistet gute Arbeit, ist nur zu teuer, die kleine Türkin. Seine Kleider hat er, als er nach Hause kam, auf den Holzdielen verteilt (kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt einen Stapel Holzdielen, auf denen er seine Kleidung verteilt hat? Natürlich soll es das nicht heißen, aber „verteilt auf den Holzdielen klingt sehr seltsam für mich, da ich davon ausgehe, dass das Penthouse groß ist, vielleicht sogar riesig und wenn der Mann seine Kleidung „auf den Holzdielen verteilt, frage ich mich, was er alles getragen hat, um das zu schaffen. Weißt Du, was ich meine?). Hier die Socken, da die Unterhose (Penthouse und Unterhose. Zwei Worte, die m.E. nicht zusammen passen.) dort das weiße Hemd. Wo ist die Hose, seine blaue Jeans, die er gestern getragen hat? Unwichtig, denkt er, geht ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Raimund Schacht versucht sich an die letzten Stunden zu erinnern, er hat einen Filmriss. Sie waren in dieser Bar, zwei Freunde aus dem Ruderclub und er. Sie haben ein paar Frauen angesprochen, mit der einen, wie hieß sie doch gleich (ihren Namen erinnert er nicht), hat er getanzt. Hämmernde Bässe, rotes und grünes und gelbes Licht. Menschen, dicht an dicht und die Luft troff vor Feuchtigkeit. Später, im Gang zu den Toiletten, haben sie sich geküsst, Roland Schacht und die Frau, er hat ihr die Bluse hochgeschoben, sie hat gelacht. Sie wollte noch mit zu ihm kommen, jetzt kann er sich nicht mehr entsinnen, wo sie abgeblieben ist. (Sehr salopp formuliert. Vielleicht: Sie wollte ihn nach Hause begleiten, doch sie ist nicht da.).
Im weißen Bademantel geht er die drei Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten und holt seine vier Tageszeitungen aus dem Briefkasten. Schon als er sie aus der Rolle zieht, erkennt er (die Person / Frau / Mann etcpp) auf der einen das (dem) Titelbild. Er ist in allen Blättern erwähnt und mit Foto abgebildet. (In allen vier Tagezeitungen wird über ihn berichtet). Sein Herz beginnt zu hüpfen, er macht eine Strike-Bewegung (was ist das denn?) mit dem linken Arm, bei der er leicht in die Knie geht. Hastig nimmt er die Treppen nach oben, schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und wirft die Zeitungen auf den Balkontisch. Bevor er zurück in die Küche läuft, um Kaffee und Saft zu holen, sieht er hinüber zur (auf die) Elbe. Er ruft:
„Guten Morgen, Hamburg!“
(Satzbeginn – Wiederholung) Er lacht, der Kopfschmerz ist weg. Raimund Schacht fühlt sich gut. Sein Interview von gestern morgen haben alle geschluckt, alle berichten darüber. Selbst aus dem linken Lager klingt es wohlwollend, was sie von seinen Aussagen halten. Ja, denkt er sich, (streichen) du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, die Menschen im Land wollen hören, (interessiert) was du sagst, sie wollen einen wie dich, der handelt wie du.
Er kippt den Espresso in einem Zug (hinunter) und steckt sich eine Zigarette an. (Satzanfang) Er schlägt eine der Zeitungen auf und liest. Sie haben ihn korrekt wiedergegeben (wissen wir als Leser schon – deshalb streichen): Er setze auf harte Strafen, anders als seine Richterkollegen, die zu weichgespült seien. Der Rechtsstaat habe versagt, Hamburg sei zu einem deutschen Palermo verkommen. Drogenstraftaten seien keine Kavaliersdelikte, sie seien (sondern) schwere Verbrechen, die mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden müssten.
Raimund Schacht klappt langsam die Zeitung zu und legt sie beiseite, die Zigarette drückt er in den Aschenbecher. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er und ihm ist, als müsste (müsse) er nur aufstehen, mit dem Finger schnippen und er würde abheben, würde fliegen über die Stadt und ihre vielen Menschen. Und sie würden zu ihm hinaufsehen und ihm zuwinken. In den grauen Novemberhimmel hinein. (Auf einmal November? Eben war doch noch ein Sommerhimmel da? Ich dachte, es handelt sich hier um eine Parallelhandlung. Ist diese zeitversetzt? Irritiert mich grad etwas).

III.

Sarah hat den ganzen Tag an einer Persenning (???) herumgenäht (Wort). Das muss man von Hand machen (von Hand gemacht werden, denn), an die gerissenen Stellen in der riesigen grünen Plane gelangt man nicht mit der Maschine. Das hat ihr Chef gesagt. Ihre Kollegen haben (gelauscht,) geschmunzelt und (dann) weggeschaut. Jetzt, kurz vor Feierabend, sind die Kuppen von Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand rot und wund, die Haut brennt, aber Sarah lässt sich nichts anmerken. Sie lässt sich nie etwas anmerken, egal wem gegenüber, selbst ihrem Vater nicht. Das hat sie aufgegeben.
Als der Zeiger auf siebzehn Uhr springt, steht Sarah auf und packt ihre Sachen. Die Brotdose mit dem angebissenen Apfel darin und der Tomate und dem hartgekochten Ei. Mutter wird den Kopf schütteln, wenn sie sieht, dass ihre Tochter wieder nicht gegessen hat. Sarah hat keinen Hunger, das geht ihr seit Wochen so. Sie will die Mutter nicht enttäuschen, doch an Essen ist nicht zu denken. Außerdem müssen Schauspielerinnen dünn sein, die dünnen bekommen die besseren Angebote, das weiß Sarah von einer Freundin, die seit ein paar Wochen auf der Schauspielschule ist. Sie haben sich nur einmal noch nach der bestandenen Aufnahmeprüfung gesehen, danach nicht mehr. Sarah ist nicht nach Treffen zumute.
Sie klemmt ihre Jeansjacke unter den Arm, wirft ein leises „Tschüss“ in die Runde, das nicht erwidert wird, und geht.
Draußen vor der Eingangstür holt sie Luft, zieht den abendlichen Sommer tief in ihre Lungen und schließt die Augen. Hier, inmitten der vielen, großen Backsteinhäuser der Speicherstadt, sieht Sarah die rivalisierenden Gangs aufeinander zulaufen, die einheimischen Jets kämpfen gegen die Einwanderer, die Sharks. Junge Männer mit schwarzen, zurückgegelten Haaren, die Hemden bis zur Brust aufgeknöpft, davor baumeln die goldenen Kruzifixe. Da fliegen Messer durch die Luft wie sirrende Insekten, da werden Fausthiebe verteilt und getanzte (???) Fußtritte. Gut gegen Böse führen die beiden Jugendbanden auf, doch (verzichtbar) dem Zuschauer dieses Spektakels bleibt verschlossen, wer gut ist, wer böse. Denn letztlich geht es um Liebe. Um die Liebe zweier Menschen, die das Pech haben, an unterschiedlichen Orten der Welt geboren zu sein.
Sarah erschrickt, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legt. Schnell öffnet sie die Augen und dreht sich um. Es ist die Frau des Chefs, die vor ihr steht, Margarethe von Berlach. Vater sagt, sie hat das Geld in die Ehe gebracht, und außerdem hätte sie das heimliche Sagen in der Firma, obwohl sie nur selten da ist. Margarethe von Berlach guckt ernst wie immer, ihre blonden Haare hat sie in einen Dutt am Hinterkopf gezwängt. Sie wirft die Riemen ihrer roten Lederhandtasche auf die Schulter und sagt:
„Du kannst mich nicht ausstehen, richtig?“
Sarah reagiert nicht gleich, ihr ist, als sei die Temperatur an diesem Sommerabend in Sekundenbruchteilen ins Bodenlose gefallen, ihr läuft ein Schauer über den Rücken.
„Wie… wieso sagen Sie das?“
„Pass auf, Mädchen. Ich habe nichts gegen Mulatten. Du bist hier, weil mein Mann und Dein Vater es so abgemacht haben. Mach Deine Arbeit und halt Dich ansonsten zurück. Klar?“
Sarah nickt, ihr Herz rast in der Brust. (streichen. Wo sonst?) Die Frau kommt noch etwas näher, Sarah riecht den Zigarettenatem:
„Und zieh Dich nicht so nuttig an, sonst schmeiß ich Dich (dich) raus.“
Sarah bekommt keine Luft mehr, so schlimm wie jetzt war es bisher noch nicht. Wie soll das weitergehen? Drei Jahre lang.
Wortlos lässt Margarethe von Berlach Sarah stehen. Sie steigt in ihr dunkelgrünes Cabriolet und fährt davon. Im Abrauschen des Wagens und im Geschrei der Möwen, die über einem Alsterfleet kreisen, hört Sarah Margarethe von Berlachs Worte nachhallen, besonders eines. Mulatten. Das hat sie gesagt. (Ja, und weil das ein paar Sätze drüber steht, würde ich diesen Satz hier streichen).  

IV.

Seine vier Zeitungen ist Raimund Schacht zügig durchgegangen, nebenher hat er Radio gehört, sogar dort ist er Tagesthema. Die Zeitungsartikel, in denen er erwähnt wurde (wird), hat er ausgeschnitten und in den Ordner zu den anderen gelegt, allmählich wird die Sammlung dicker. Die inzwischen dritte Tasse Espresso kippt er im Gehen und stellt sie auf dem Sideboard in der Garderobe ab, bevor er die Wohnung verlässt und ins Gericht fährt.
Seine Terminsrolle ist voll für heute. Elf Verfahren, sieben im Bagatellbereich. In einigen müssen Zeugen vernommen werden, in anderen Sachverständige zur Schuldfähigkeit der Angeklagten. Dabei steht die Schuld fast immer fest. Raimund Schacht kann es nicht mehr hören, dieses immer gleiche Lied von der schwierigen Kindheit und dem schlechten sozialen Umfeld und all dem Kram. Fehlende Steuerungs- oder mangelhafte Einsichtsfähigkeit in das Unrecht einer Tat, so nennen die Gutachter das. Alle reden nur über die Täter, über ihre Probleme und sozialen Unfähigkeiten. Die Köpfe zerbricht man sich über die Frage, wie durch Resozialisierung eine möglichst sanfte Rückkehr in die Wertegesellschaft stattfinden kann. Doch wo bleiben die Opfer? Was ist mit den Tankstellenbesitzern, die Nacht für Nacht beklaut und deren Fensterscheiben eingeworfen werden? Was mit den Menschen, die ihr Leben lang Narben am Körper oder gar im Gesicht tragen von einem Messerüberfall. Nein, sie hört man nicht an, sie vernachlässigt man, stattdessen verpulvert der Staat jährlich zig Millionen für Gefängnisse, die aussehen wie Wohnstuben. Das muss ein Ende haben, und das wird es auch. Raimund Schacht wird seinen Beitrag dazu leisten, so gut (weit) es in seiner Macht steht.
In seinem Dienstzimmer, das nur mit einem Schreibtisch, einem Stuhl dahinter und ein paar mickrigen Kakteen eingerichtet ist, zieht er seine Robe mit Samtbesatz an und bindet den weißen Schlips um. Er sieht sich im Wandspiegel an, der Krawattenknoten gefällt ihm nicht, er bindet neu. Dann klemmt er die Akten unter den Arm und geht hinüber zu (zum) Sitzungssaal. Die Luft ist stickig, es riecht nach Linoleum und altem Holz. Im Hintergrund knackt die Heizung. Die Protokollführerin sitzt bereits seitlich am Richtertisch. Raimund Schacht begrüßt sie mit einem kurzen ‚Morgen’, setzt sich und ruft die erste Sache auf. Elf mal wird er heute über Menschen richten, er wird entscheiden, ob sie Geldstrafen zahlen oder ins Gefängnis gehen müssen. Dabei wird er sich die immer gleichen Geschichten anhören müssen. Herr Richter, ich wollte nicht… Herr Richter, ich war das nicht… Es ist ihm über, und als die erste Angeklagte den Saal betritt, überlegt er, welchen Anzug er heute Abend für den Empfang des Staatssekretärs im Alten Rathaus anziehen soll. Dann sieht er von seiner Akte auf, die Angeklagte setzt sich, und Raimund Schacht denkt, wie lecker, eine hübsche, kleine Negerin zum Auftakt.

V.

Margarethe von Berlach ist mit ihrem Wagen um die Ecke gebogen, immer noch schaut Sarah dem leeren Straßenverlauf in den Backsteinschluchten nach. Sie hat das Gefühl, Hände hätten sich um ihren Hals gelegt und zugedrückt, ihr Kinn zittert, Sarah weiß nicht, ob es Wut ist, was sie empfindet (streichen). Eine Träne rollt ihr über die Wange, ein klarer Gedanke ist nicht möglich. Was soll sie tun? Wo soll sie hin? Nach Haus etwa? Zu ihrem Vater vielleicht? Oder zu (ihrer) Mutter, die schon lange dieses Land verlassen will? Zurück in ihre Heimat, zurück nach Kenia und zu ihrer Familie. Mutter erzählt leise davon, und dann leuchten ihre Augen wie bei einem Kind.


Die Unterstreichungen, die ich im Text vorgenommen habe, sind leider nicht im hier kopierten Text zu sehen. Ich habe aber an den entsprechenden Stellen in Klammern Anmerkungen gesetzt, die noch da sind *g*. Ich hebe mal den Word-Text für etwaige Rückfragen auf.

LG
Nina


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Beitrag05.11.2011 15:41

von MT
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Hallo zusammen,

hier nur auf die Schnelle ein herzliches Dankeschön für Eure Auseinandersetzung mit meiner Überarbeitung. Ich bin zur Zeit unterwegs und komme auf die Einzelheiten alsbald zurück.

LGMT


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Beitrag07.11.2011 11:41

von MT
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Moin zusammen!

@Nordlicht

Schade, dass ich Dich mit dem Text nicht erreichen konnte. Für mich war (und ist) er ein Experiment. Für gewöhnlich schreibe ich anders, hier wollte ich letztlich auch einen anderen Stil testen. Bei Dir scheint dieser nicht gut angekommen zu sein.

Niemand will mit seinen Geschichten langweilen, das versteht sich. Dennoch habe ich hier bewusst eine ruhige Entwicklung gewollt und gewählt. In der Tat passiert im äußeren Erscheinungsbild nicht viel. Und doch (so meine ich) geschieht eine Menge. Die Protagonistin - ein junges Mädchen mit anderer als weißer Hautfarbe, die nie gelernt hat, selbständig zu sein, zu handeln. Sie ist fremdbestimmt, durch den Vater, die Frau des Firmenchefs, die Kollegen, alle. Sie bricht aus und "rächt" sich, indem sie Autos zerkratzt.
Daneben der Richter - Überheblich, Karrieresüchtig, selbstverliebt, mit einer latent vorhandenen Ausländerfeindlichkeit versehen.
Beide agieren in einem System, das viele von uns nicht verstehen. Er (nach meiner Überzeugung) auch nicht, weil er die Grenzen dieses Systems und dessen moralischen Anspruch verkennt. Beide brechen sie aus, jeder auf seine Weise, und durch diese Ausbrüche kreuzen sich ihre Schicksale. Das Perfide und Perverse wird sichtbar.

Darauf wollte ich hinaus, und ich meine, dass hierbei "laute" Töne und "Effekte" für den Leser, die ihn bei der Stange halten, fehl am Platze wären. Dass der Leser allerdings nach zwei Teilen aufhört und keine Lust mehr verspürt, weiterzulesen, war natürlich nicht meine Absicht. Schade daher, wenn´s bei Dir nicht funktioniert hat.

Dennoch vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.


@ kskreativ

Besten Dank auch Dir! Ich finde auch, dass der Text dichter geworden ist.

Und den Namen ändern... hm, weiß nicht so. Irgendjemanden erwischt es immer. Smile


@ Nina

Auch an Dich, liebe Nina, ein dickes Dankeschön.

Deine Detailanmerkungen sind aus meiner Sicht viel Geschmacksachen. Ich werde mir das im Einzelnen ansehen und mal schauen, was ich übernehme.

Eines zur Treppe. Für mich ist sie keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil, sie ist sogar zentral. Und zwar als Metapher für die Entwicklung der (Lebens-)Ereignisse der beiden Zentralfiguren. Sie "verstricken" sich ineinander, werden verwirbelt (und dies im Fabrikgebäude des ungeliebten Chefs, wo das Schicksal für Sarah seinen Anfang für das unmittelbar Folgende nimmt).

LGMT


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Beitrag11.11.2011 09:17

von MT
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Guten Morgen in die Runde,

Lorraine, ich hatte ganz vergessen, noch etwas zu Deinem Einwand zu sagen, der West-Side-Bezug sei nicht für alle Leser verständlich.

Ich glaube, das sind die kleinen Geheimnisse, die einen Text erst interessant machen. Stell Dir vor, wir würden immer gleich alles an einem Text verstehen. Dann bliebe kein Raum zum Grübeln, zum Ergründen einer Geschichte. Gerade das aber ist aus meiner Sicht das spannende: sich zu fragen, warum hat der Autor den und den Bezug gewählt, das und das geschrieben.

Nimm ein Beispiel aus der Gegenwartsliteratur: Lenz nennt seine Antagonistin in der Schweigeminute Stella. Die meisten Leser werden vermutlich darüber hinweggehen. Doch der Autor hat diesen Namen ganz bewusst gewählt. Der Stern, als Sinnbild für die Hoffnung, die Liebe des Protagonisten- aber auch für sein Schicksal (http://de.wikipedia.org/wiki/Schweigeminute_(Siegfried_Lenz)).

Derlei "Geheimnisse" sind für mich das Salz in der Suppe. Sicher, es besteht die Gefahr, dass der Autor nicht verstanden wird. Und da gibt es für mich nur ein Rezept: Man darf es nicht übertreiben. Und daran - so meine ich - habe ich mit dem Bezug zu West Side Story gehalten.

LGMT


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