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Dieses Werk wurde für den kleinen Literaten nominiert Ein Morgen im August


 
 
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MT
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 52
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Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag23.09.2011 12:30
Ein Morgen im August
von MT
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Moin, zusammen!

Hier ein Stück, das gegenwärtig noch nicht beendet ist. Was haltet ihr vom Einstieg?



Ein Morgen im August

I.

Der vierte August 2006 ist ein heißer Sommermorgen. Es ist erst kurz vor acht, aber die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, sie hat die Lehrstelle im letzten Moment bekommen, ihr Vater hat den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, man kennt sich und hilft sich, wo man kann. Sarahs Vater hat am Telefon zu ihm gesagt, Sarah sei keine Schlechte, manchmal vielleicht etwas eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, das auch, ja, und deshalb sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, aber ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.
Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. Doch ihr Vater hat gesagt, treib Dir die Flusen aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind. Mit Menschen, die genauso denken, fühlen.
Die Stadt ist laut. Die Straßen sind mit Autos verstopft, Menschen hasten zur U- oder S-Bahn, ein Martinshorn schrillt an Sarah vorbei. Auf dem Marktplatz an der großen romanischen Kirche haben Händler ihre Stände aufgebaut. Tomaten, Äpfel, Auberginen leuchten, vom Stand gegenüber weht der Duft von eingelegten Oliven und Schafskäse über den Platz. Ein Verkäufer spricht Sarah an, er hält ihr ein Stück Fladenbrot mit einer roten Paste darauf hin und lächelt. Den Kopf legt er dabei ein wenig zur Seite und Sarah muss auch lächeln, und sie schüttelt mit ihrem Kopf und bittet ihn wortlos um Verständnis, dass sie sein Angebot nicht annimmt.
Wenig später holt sie sich aus der kleinen Bäckerei an der Ecke ein trockenes Vollkornbrötchen. Sie isst im Gehen, ihr Weg zur Fabrik führt sie an den alten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbei, alle haben unzählige Sprossenfenster, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sarah sieht die Fassaden hinauf, sie fragt sich, welche Geheimnisse die Gebäude in ihren alten Mauern tragen. Ob Menschen darin gelebt haben, ob sie darin gestorben sind. Sie beschließt, ihre Lehrerin in der Berufsschule danach zu fragen, Sarah kann sich vorstellen, dass auch die anderen Schüler in der Klasse Interesse daran haben.
Vielleicht wüsste auch der Firmenchef Antworten, die Firma, in der Sarah vor ein paar Tagen eine Ausbildung zur Segeltuchmacherin begonnen hat, ist auch in einem solchen Gebäude untergebracht. Sie steht vor dem großen Eingangsportal und spürt ihr Unbehagen, die Glastür zu öffnen und einzutreten in die hohe Halle mit all dem neuen Edelstahl, dem Glas, dem Holz. Alles ist sehr geschmackvoll eingerichtet, teuer, aber Sarah mag es nicht, es stößt sie ab, wie die großen, klimatisierten Bankenhäuser sie abstoßen. Nein, denkt sie sich, sie wird den Firmenchef nicht fragen.
Als sie die doppelflüglige Tür aufgestoßen hat mit ihrem ganzen Körpergewicht, steht sie im Foyer. Eine etwa dreißig mal dreißig große Halle, die über fünf Stockwerke bis zur Decke offen ist. Links und rechte in den hinteren Ecken führen Treppen hinauf, die in der Mitte ein Plateau bilden und von dort nach außen weiterlaufen, um sich im nächsten Stockwerk wieder zu vereinen. Irgendwie erinnert ihre Anordnung an eine Spirale, eine Sprungfeder vielleicht, und Sarah überlegt, ob ein solcher Gedanke vom Innenarchitekten gewollt war.
„West Side Story“ könnte hier aufgeführt werden, denkt Sarah. Die Szene im Hinterhof, als Tony und Maria sich auf ihrem Balkon ihre gegenseitige Liebe gestehen. Doch dann dazu musste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.
Sarah schüttelt den Kopf, als wolle sie sich von der Dummheit ihrer Vorstellungen überzeugen. Sie nimmt eine der Treppen und geht in den ersten Stock, Fertigungshalle. Jede Stufe schmerzt in den Knien. Bevor sie die Tür öffnet, sieht sie noch einmal nach unten, sieht durch die hohen Glastüren hinaus auf den Seitenarm der Elbe, auf dem bunte Kutter dümpeln. Dann wandert ihr Blick zurück in die Halle, fällt jetzt kerzengerade hinab zu Boden. Sie stellt sich Tony vor, der unten steht, die rechte Hand emporgestreckt. Er singt sein berühmtes Maria zu ihr hinauf. Sie weint.

(...)

LGMT



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Siegfried Lenz
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MT
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Beitrag23.09.2011 13:16
Re: Ein Morgen im August
von MT
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Hatt´ ich vergessen:

Fortsetzung folgt.

 Embarassed

LGMT


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Siegfried Lenz
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lupus
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Beitrag23.09.2011 13:22

von lupus
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Hi,

wieder einmal hier?

das is mir aufgefallen:

Zitat:
Doch dann dazu musste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.


einige Sachen würd ich geringfügig umformulieren, aber ansonsten:

wunderbar geschrieben, stimmig, stimmungsvoll, herrliche Charakterisierung der Sarah und des Vaters, ich hab nix zu bemängeln. Das Präsens passt wunderbar.

nun, die Themenwahl? Mädl muss arbeiten, will lieber Schauspielerin werden. hm... is erst der Einstieg, kann noch alles daraus werden.

sehr gerne gelesen, wie immer.

lg
Lupus


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lg Wolfgang

gott ist nicht tot noch nicht aber auf seinem rückzug vom schlachtfeld des krieges den er begonnen hat spielt er verbrannte erde mit meinem leben

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MT
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Beitrag23.09.2011 13:26

von MT
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lupus hat Folgendes geschrieben:
Hi,

wieder einmal hier?

das is mir aufgefallen:

Zitat:
Doch dann dazu musste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.


einige Sachen würd ich geringfügig umformulieren, aber ansonsten:

wunderbar geschrieben, stimmig, stimmungsvoll, herrliche Charakterisierung der Sarah und des Vaters, ich hab nix zu bemängeln. Das Präsens passt wunderbar.

nun, die Themenwahl? Mädl muss arbeiten, will lieber Schauspielerin werden. hm... is erst der Einstieg, kann noch alles daraus werden.

sehr gerne gelesen, wie immer.

lg
Lupus


Hach, mein lieber Lupus,

ich danke Dir von Herzen. Auch wie immer...

Du hast Recht, das "dann" muss schlicht weg, ist ein Tippfehler, der mir durchgegangen ist.

Zum Thema? Nun, ich denke, Du weißt, dass ich mich nicht vordergründig mit einem Mädchen beschäftige, das arbeiten muss, obschon sie Schauspielerin werden möchte. In der Tat ist dies ein Anfang, ich brauche die "Szene" als Hintergrund.

Vielen Dank an Dich!

LGMT


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Siegfried Lenz
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MT
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Beitrag23.09.2011 14:40

von MT
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II.

Das Kreischen einer Möwe, die auf der Balustrade des großen Südbalkons hockt, reißt Roland Schild aus einem süßen Traum. Vor Sekunden noch lag er mit einer blonden Frau, die kein Wort deutsch sprach, es aber auch nicht musste, in einem Bett. Ihre Haut braun und schweißnass und nach Leidenschaft duftend. Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben und setzt sich aufrecht gegen die Rückenlehne. Sein Kopf dröhnt und das Sonnenlicht, das gleißend ins Zimmer sticht, schmerzt in den Augen.
Die Nacht war lang, er sieht auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor elf. Zeit für den täglichen Orangensaft und einen Espresso.
Sein Penthouse ist aufgeräumt, seine Putzfrau kommt zweimal die Woche, gestern zuletzt. Sie leistet gute Arbeit, ist nur zu teuer, die kleine Türkin. Seine Kleider hat er heute früh, als er nach Hause kam, auf den Holzdielen verteilt. Hier die Socken, da die Unterhose, dort das weiße Hemd. Wo ist die Hose, seine blaue Leinenhose, die er gestern getragen hat? Unwichtig, denkt er, geht ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Roland Schild versucht sich an die letzten Stunden zu erinnern, er hat einen Filmriss. Sie waren in dieser Bar, zwei Freunde aus dem Golfklub und er. Sie haben ein paar Frauen angesprochen, ja klar, mit der einen, wie hieß sie doch gleich, hat er getanzt. Hämmernde Bässe, rotes und grünes und gelbes Licht. Menschen, dicht an dicht und die Luft  troff vor Feuchtigkeit. Später, im Gang zu den Toiletten, haben sie sich geküsst, Roland und die Frau, er hat ihr die Bluse hochgeschoben, sie hat gelacht. Sie wollte noch mit zu ihm kommen, jetzt aber kann er sich nicht mehr entsinnen, wo sie abgeblieben ist.
Im weißen Bademantel geht er die drei Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten und holt seine vier Tageszeitungen aus dem Briefkasten. Schon als er sie aus der Rolle zieht, erkennt er auf der einen das Titelbild. Er ist in allen Zeitungen erwähnt und mit Foto abgebildet. Sein Herz beginnt zu hüpfen, er macht eine Strike-Bewegung mit dem linken Arm, bei der er leicht in die Knie geht. Hastig nimmt er die Treppen nach oben, schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und wirft die Zeitungen auf den Balkontisch. Bevor er zurück in die Küche läuft, um Kaffee und Saft zu holen, sieht er hinüber zur Elbe. Er ruft:
„Guten Morgen, Hamburg!“
Er lacht, der Kopfschmerz ist fast weg. Roland Schild fühlt sich gut. Sein Interview von gestern morgen haben alle geschluckt, alle berichten darüber. Selbst aus dem linken Lager klingt es wohlwollend, was sie von seinen Aussagen halten. Ja, denkt er sich, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, die Menschen im Land wollen hören, was du sagst, sie wollen einen wie dich, der handelt wie du.
Er kippt den Espresso in einem Zug und steckt sich eine Zigarette an. Er schlägt eine der Zeitungen auf und liest. Sie haben ihn korrekt wiedergegeben: Er setze auf harte Strafen, anders als seine Richterkollegen, die oft zu weichgespült seien. Der Rechtsstaat habe versagt, Hamburg sei zu einem deutschen Palermo verkommen. Drogenstraftaten seien keine Kavaliersdelikte, sondern schwere Verbrechen, die mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden müssten.
Roland Schild klappt langsam die Zeitung zu und legt sie beiseite, die Zigarette drückt er in den Aschenbecher. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel eigentlich besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er und ihm ist, als müsste er nur aufstehen, mit dem Finger schnippen und er würde abheben, würde fliegen über die Stadt und ihre vielen Menschen. Und sie würden zu ihm hinaufsehen und ihm zuwinken.

(…)


[Anmerkung des Autors: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind unbedingt gewollt.]


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Siegfried Lenz
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Traumtänzerin
Fähnchen Fieselschreib

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Beitrag23.09.2011 15:36

von Traumtänzerin
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Hallo MT,

kann es sein, dass du beim ersten Teil im Stil etwas experimentiert hast? Er wirkt anders als deine bisherigen Texte.

Auf alle Fälle ... bin ich zwiegespalten.
Einerseits schaffst du es (wie immer), deine Protagonisten sehr präzise, interessant und glaubwürdig darzustellen. Allerdings gelingt dir das - finde ich - im zweiten Teil viel besser als im ersten. Roland Schild wirkt wesentlich realer/authentischer auf mich als Sarah.
Sarah ist mir irgendwie zu passiv, vielleicht kommt das auch durch deine Schreibweise. Die finde ich - pardon - etwas zäh.
Dein Text gewinnt durch den zweiten Teil an Authenzität. Du erklärst weniger als bei Sarah, die Charakterisierung ist näher an der aktuellen Handlung dran und wirkt weniger steif.
Ist - wie immer - allerdings nur eine Meinung unter vielen. Wink Ist schließlich Geschmackssache.

Dennoch hab ich's - wie bei ausnahmslos allen deinen Texten sehr gerne gelesen.
Hoffentlich geht's stilmäßig so weiter wie im zweiten Teil. Embarassed

LG,
Traumtänzerin


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Gast







Beitrag23.09.2011 21:15

von Gast
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Hallo Markus!
Freut mich, wieder einem Text von dir beim Entstehen „zuschauen“ zu können.  Man merkt, dass du etwas aufbauen willst, und ich bin gespannt, in welche Richtung das Ganze gehen wird.
Ich habe einfach in den Text hineingeklebt, welche Gedanken mir beim Lesen so gekommen sind, vielleicht hilft es ja, zu erkennen, ob deine Intentionen richtig ankommen oder ob ich etwas falsch verstehe und warum.

MT hat Folgendes geschrieben:
Ein Morgen im August

I.

Der vierte August 2006 ist ein heißer Sommermorgen. Es ist erst kurz vor acht, aber die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, sie hat die Lehrstelle im letzten Moment bekommen, ihr Vater hat den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, man kennt sich und hilft sich, wo man kann. Sarahs Vater hat am Telefon zu ihm gesagt, Sarah sei keine Schlechte, manchmal vielleicht etwas eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, das auch, ja, und deshalb sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, aber ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.

>>> Kann es wirklich schon luftflirrend heiß sein, kurz vor acht?
Ok, es klingt, als stimme etwas nicht mit Sarah, ist sie anders als andere Mädchen, oder ist es einfach die Tatsache, dass sie immer noch keine Lehrstelle hatte, die ihren Vater so sprechen lässt, als müsse er sich für etwas entschuldigen?

Gut finde ich:

Zitat:
Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.


Es wird über Sarahs Kopf hinweg bestimmt, wie ihr Leben aussehen soll.

MT hat Folgendes geschrieben:
Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. Doch ihr Vater hat gesagt, treib Dir die Flusen aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind. Mit Menschen, die genauso denken, fühlen.
Die Stadt ist laut. Die Straßen sind mit Autos verstopft, Menschen hasten zur U- oder S-Bahn, ein Martinshorn schrillt an Sarah vorbei. Auf dem Marktplatz an der großen romanischen Kirche haben Händler ihre Stände aufgebaut. Tomaten, Äpfel, Auberginen leuchten, vom Stand gegenüber weht der Duft von eingelegten Oliven und Schafskäse über den Platz. Ein Verkäufer spricht Sarah an, er hält ihr ein Stück Fladenbrot mit einer roten Paste darauf hin und lächelt. Den Kopf legt er dabei ein wenig zur Seite und Sarah muss auch lächeln, und sie schüttelt mit ihrem Kopf und bittet ihn wortlos um Verständnis, dass sie sein Angebot nicht annimmt.

>>> Auch hier wird klar, dass Sarah „anwendet“, was ihr beigebracht wurde.

MT hat Folgendes geschrieben:
Wenig später holt sie sich aus der kleinen Bäckerei an der Ecke ein trockenes Vollkornbrötchen. Sie isst im Gehen, ihr Weg zur Fabrik führt sie an den alten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbei, alle haben unzählige Sprossenfenster, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sarah sieht die Fassaden hinauf, sie fragt sich, welche Geheimnisse die Gebäude in ihren alten Mauern tragen. Ob Menschen darin gelebt haben, ob sie darin gestorben sind. Sie beschließt, ihre Lehrerin in der Berufsschule danach zu fragen, Sarah kann sich vorstellen, dass auch die anderen Schüler in der Klasse Interesse daran haben.

>>> Was genau würde sie denn fragen? Und warum sollte sie es ihre Berufsschullehrerin fragen?
Mir gefällt hier nicht so gut:
Sarah sieht die Fassaden hinauf
Sie fragt sich
Sie beschließt
Sarah kann sich vorstellen

Ich bleibe sehr distanziert,  darüber hinaus zieht sich der Abschnitt ein bisschen in die Länge, ohne dass wirklich Neues gesagt wird.

MT hat Folgendes geschrieben:
Vielleicht wüsste auch der Firmenchef Antworten, die Firma, in der Sarah vor ein paar Tagen eine Ausbildung zur Segeltuchmacherin begonnen hat, ist auch in einem solchen Gebäude untergebracht. Sie steht vor dem großen Eingangsportal und spürt ihr Unbehagen, die Glastür zu öffnen und einzutreten in die hohe Halle mit all dem neuen Edelstahl, dem Glas, dem Holz. Alles ist sehr geschmackvoll eingerichtet, teuer, aber Sarah mag es nicht, es stößt sie ab, wie die großen, klimatisierten Bankenhäuser sie abstoßen. Nein, denkt sie sich, sie wird den Firmenchef nicht fragen.

>>> Wir erfahren nicht, was sie wirlich abstößt, der Vergleich zu den Bankenhäusern hinkt insofern, dass wir ja auch hier nicht wissen, was genau sie so stört.

MT hat Folgendes geschrieben:
Als sie die doppelflüglige Tür aufgestoßen hat mit ihrem ganzen Körpergewicht, steht sie im Foyer. Eine etwa dreißig mal dreißig große Halle, die über fünf Stockwerke bis zur Decke offen ist. Links und rechte in den hinteren Ecken führen Treppen hinauf, die in der Mitte ein Plateau bilden und von dort nach außen weiterlaufen, um sich im nächsten Stockwerk wieder zu vereinen. Irgendwie erinnert ihre Anordnung an eine Spirale, eine Sprungfeder vielleicht, und Sarah überlegt, ob ein solcher Gedanke vom Innenarchitekten gewollt war.
„West Side Story“ könnte hier aufgeführt werden, denkt Sarah. Die Szene im Hinterhof, als Tony und Maria sich auf ihrem Balkon ihre gegenseitige Liebe gestehen. Doch dann dazu musste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.


>>>>Sarah liebt das Theater, das wissen wir. Aber hat ein sechzehnjähriges Mädchen im Jahr 2006 einen Bezug zu West Side Story? (Ok, hab gegooglt, und es gab eine Europatour des Musicals in dem Jahr, ich geh davon aus, dass sie es kennt)

MT hat Folgendes geschrieben:
Sarah schüttelt den Kopf, als wolle sie sich von der Dummheit ihrer Vorstellungen überzeugen. Sie nimmt eine der Treppen und geht in den ersten Stock, Fertigungshalle. Jede Stufe schmerzt in den Knien. Bevor sie die Tür öffnet, sieht sie noch einmal nach unten, sieht durch die hohen Glastüren hinaus auf den Seitenarm der Elbe, auf dem bunte Kutter dümpeln. Dann wandert ihr Blick zurück in die Halle, fällt jetzt kerzengerade hinab zu Boden. Sie stellt sich Tony vor, der unten steht, die rechte Hand emporgestreckt. Er singt sein berühmtes Maria zu ihr hinauf. Sie weint.

>>>> Frage: Ist das hier
Zitat:
Jede Stufe schmerzt in den Knien.

ein Hinweis?
Sie weint? Sie muss wirklich sehr unglücklich sein, an diesem Ort

MT hat Folgendes geschrieben:
(...)

II.

Das Kreischen einer Möwe, die auf der Balustrade des großen Südbalkons hockt, reißt Roland Schild aus einem süßen Traum. Vor Sekunden noch lag er mit einer blonden Frau, die kein Wort deutsch sprach, es aber auch nicht musste, in einem Bett. Ihre Haut braun und schweißnass und nach Leidenschaft duftend. Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben und setzt sich aufrecht gegen die Rückenlehne. Sein Kopf dröhnt und das Sonnenlicht, das gleißend ins Zimmer sticht, schmerzt in den Augen.
Die Nacht war lang, er sieht auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor elf. Zeit für den täglichen Orangensaft und einen Espresso.
Sein Penthouse ist aufgeräumt, seine Putzfrau kommt zweimal die Woche, gestern zuletzt. Sie leistet gute Arbeit, ist nur zu teuer, die kleine Türkin. Seine Kleider hat er heute früh, als er nach Hause kam, auf den Holzdielen verteilt. Hier die Socken, da die Unterhose, dort das weiße Hemd. Wo ist die Hose, seine blaue Leinenhose, die er gestern getragen hat? Unwichtig, denkt er, geht ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Roland Schild versucht sich an die letzten Stunden zu erinnern, er hat einen Filmriss. Sie waren in dieser Bar, zwei Freunde aus dem Golfklub und er. Sie haben ein paar Frauen angesprochen, ja klar, mit der einen, wie hieß sie doch gleich, hat er getanzt. Hämmernde Bässe, rotes und grünes und gelbes Licht. Menschen, dicht an dicht und die Luft troff vor Feuchtigkeit. Später, im Gang zu den Toiletten, haben sie sich geküsst, Roland und die Frau, er hat ihr die Bluse hochgeschoben, sie hat gelacht. Sie wollte noch mit zu ihm kommen, jetzt aber kann er sich nicht mehr entsinnen, wo sie abgeblieben ist.

>>> Roland Schild ist Richter.  Ist er im Urlaub? Im Wahlkampf? (Ich geh davon aus, dass es ebenfalls der 4. August ist, also ein Arbeitstag?

>>> Schnittmenge „Golfklub-Freunde“, wird das noch Bedeutung haben?
MT hat Folgendes geschrieben:
Im weißen Bademantel geht er die drei Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten und holt seine vier Tageszeitungen aus dem Briefkasten. Schon als er sie aus der Rolle zieht, erkennt er auf der einen das Titelbild. Er ist in allen Zeitungen erwähnt und mit Foto abgebildet. Sein Herz beginnt zu hüpfen, er macht eine Strike-Bewegung mit dem linken Arm, bei der er leicht in die Knie geht. Hastig nimmt er die Treppen nach oben, schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und wirft die Zeitungen auf den Balkontisch. Bevor er zurück in die Küche läuft, um Kaffee und Saft zu holen, sieht er hinüber zur Elbe. Er ruft:
„Guten Morgen, Hamburg!“
Er lacht, der Kopfschmerz ist fast weg. Roland Schild fühlt sich gut. Sein Interview von gestern morgen haben alle geschluckt, alle berichten darüber. Selbst aus dem linken Lager klingt es wohlwollend, was sie von seinen Aussagen halten. Ja, denkt er sich, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, die Menschen im Land wollen hören, was du sagst, sie wollen einen wie dich, der handelt wie du.
Er kippt den Espresso in einem Zug und steckt sich eine Zigarette an. Er schlägt eine der Zeitungen auf und liest. Sie haben ihn korrekt wiedergegeben: Er setze auf harte Strafen, anders als seine Richterkollegen, die oft zu weichgespült seien. Der Rechtsstaat habe versagt, Hamburg sei zu einem deutschen Palermo verkommen. Drogenstraftaten seien keine Kavaliersdelikte, sondern schwere Verbrechen, die mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden müssten.
Roland Schild klappt langsam die Zeitung zu und legt sie beiseite, die Zigarette drückt er in den Aschenbecher. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel eigentlich besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er und ihm ist, als müsste er nur aufstehen, mit dem Finger schnippen und er würde abheben, würde fliegen über die Stadt und ihre vielen Menschen. Und sie würden zu ihm hinaufsehen und ihm zuwinken.
>>> gestern Morgen

(…)
>>>
MT hat Folgendes geschrieben:
Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel eigentlich besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er

… dass er in der Öffentlichkeit irgendwas erzählt, populistische Parolen verbreitet, gegen Drogen wettert, selbst raucht und säuft(bis zum Filmriss), alles ok, aber würde jemand wie er sich wirklich solch groteske Gedanken machen, wenn er mit sich selbst allein ist?
Insgesamt, glaub ich, könnte das eine interessante Sache werden, vielleicht wirst du ja verschiedene Stränge entwerfen und sie dann zusammenführen?
Präsens passt für mich gut.  Möcht gern weiterlesen. smile extra

Herbstliche Grüße
Anja
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MT
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Beitrag28.09.2011 11:40

von MT
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Guten Mittach, liebe TT,

Zitat:
Allerdings gelingt dir das - finde ich - im zweiten Teil viel besser als im ersten. Roland Schild wirkt wesentlich realer/authentischer auf mich als Sarah.

Das ist erstaunlich. Nein, ich wollte im ersten Teil nicht experimentieren; ich glaube vielmehr, dass der erst Teil eher meinem eigentlichen Stil entspricht. Umso erstaunter bin ich jetzt, wenn Du - Lorraine offenbar auch - den zweiten Teil authentischer findest. Spannend, sieht man doch, dass man IMMER wieder beim Schreiben dazu lernen kann.  Smile

Zitat:
Sarah ist mir irgendwie zu passiv, vielleicht kommt das auch durch deine Schreibweise. Die finde ich - pardon - etwas zäh.
Dein Text gewinnt durch den zweiten Teil an Authenzität. Du erklärst weniger als bei Sarah, die Charakterisierung ist näher an der aktuellen Handlung dran und wirkt weniger steif.


Klar, der Autor sagt bei Kritik gern und leicht: Das war so gewollt, wie ich es geschrieben habe. Hier erging es mir so: Sarah IST passiv, ist sie schon ihr Leben lang gewesen. Ein stückweit unterdrückt (vor allem vom Vater), träumerisch, der Realität ein wenig entrückt. Das finde ich die fast redundanten Elemente im ersten Teil eigentlch gut... Embarassed Doch es bring natürlich nichts, wenn es in dieser (gewollten) Form bzw. mit der gewollten Intention beim Leser nicht ankommt. Ich werd´ mal schauen.

Zitat:
Dennoch hab ich's - wie bei ausnahmslos allen deinen Texten sehr gerne gelesen.

Dankeschön, so etwas liest man natürlich besonders gern.

Zitat:
Hoffentlich geht's stilmäßig so weiter wie im zweiten Teil.

Ich werde bemüht sein!

Tausend Dank für´s Lesen und Kommentieren.

LGMT


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Beitrag28.09.2011 11:53

von MT
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hi, Anja,

wow, Du hast Dir ja viel Arbeit gemacht! Tausend Dank!!!

Lorraine hat Folgendes geschrieben:
Hallo Markus!
Freut mich, wieder einem Text von dir beim Entstehen „zuschauen“ zu können.  Man merkt, dass du etwas aufbauen willst, und ich bin gespannt, in welche Richtung das Ganze gehen wird.
Ich habe einfach in den Text hineingeklebt, welche Gedanken mir beim Lesen so gekommen sind, vielleicht hilft es ja, zu erkennen, ob deine Intentionen richtig ankommen oder ob ich etwas falsch verstehe und warum.

Diese Art der "Kommentierung" eines Textes finde ich ausgezeichnet! Man teilt dem Autor mit, was man hie und da empfunden hat beim Lesen. Das hilft beim Schreiben/Überarbeiten ungemein!


MT hat Folgendes geschrieben:
Ein Morgen im August

I.

Der vierte August 2006 ist ein heißer Sommermorgen. Es ist erst kurz vor acht, aber die Luft flirrt bereits über den Straßen der Stadt, über ihren Dächern und Parks mit den saftigen Wiesen. Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, sie hat die Lehrstelle im letzten Moment bekommen, ihr Vater hat den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, man kennt sich und hilft sich, wo man kann. Sarahs Vater hat am Telefon zu ihm gesagt, Sarah sei keine Schlechte, manchmal vielleicht etwas eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, das auch, ja, und deshalb sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, aber ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.

>>> Kann es wirklich schon luftflirrend heiß sein, kurz vor acht?
Ok, es klingt, als stimme etwas nicht mit Sarah, ist sie anders als andere Mädchen, oder ist es einfach die Tatsache, dass sie immer noch keine Lehrstelle hatte, die ihren Vater so sprechen lässt, als müsse er sich für etwas entschuldigen?

Gut finde ich:

Zitat:
Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.


Es wird über Sarahs Kopf hinweg bestimmt, wie ihr Leben aussehen soll.

MT hat Folgendes geschrieben:
Sarah wollte zur Schauspielschule, sie liebt das Theater. Jede freie Minute könnte sie dort verbringen. Ihre Eltern haben genug Geld, es würde locker für ein Abo reichen. Doch das haben nur ihre Eltern, obwohl sie selten gehen. Sarah könnte es benutzen, die Karten sind ohne Namen. Doch ihr Vater hat gesagt, treib Dir die Flusen aus dem Kopf.
Schauspielerin – das wär´s. Das eigene Ich in der Garderobe lassen und auf die Bühne treten, in eine andere Welt, mit Zuschauern, die keine Beobachter sind. Mit Menschen, die genauso denken, fühlen.
Die Stadt ist laut. Die Straßen sind mit Autos verstopft, Menschen hasten zur U- oder S-Bahn, ein Martinshorn schrillt an Sarah vorbei. Auf dem Marktplatz an der großen romanischen Kirche haben Händler ihre Stände aufgebaut. Tomaten, Äpfel, Auberginen leuchten, vom Stand gegenüber weht der Duft von eingelegten Oliven und Schafskäse über den Platz. Ein Verkäufer spricht Sarah an, er hält ihr ein Stück Fladenbrot mit einer roten Paste darauf hin und lächelt. Den Kopf legt er dabei ein wenig zur Seite und Sarah muss auch lächeln, und sie schüttelt mit ihrem Kopf und bittet ihn wortlos um Verständnis, dass sie sein Angebot nicht annimmt.

>>> Auch hier wird klar, dass Sarah „anwendet“, was ihr beigebracht wurde.

Sarah ist "fremdbestimmt", eine Träumerin, der Realität ein Stück entzogen. Genau, sie wendet an, was ihr der Vater als im Leben richtig und wichtig eingebläut hat.

MT hat Folgendes geschrieben:
Wenig später holt sie sich aus der kleinen Bäckerei an der Ecke ein trockenes Vollkornbrötchen. Sie isst im Gehen, ihr Weg zur Fabrik führt sie an den alten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbei, alle haben unzählige Sprossenfenster, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sarah sieht die Fassaden hinauf, sie fragt sich, welche Geheimnisse die Gebäude in ihren alten Mauern tragen. Ob Menschen darin gelebt haben, ob sie darin gestorben sind. Sie beschließt, ihre Lehrerin in der Berufsschule danach zu fragen, Sarah kann sich vorstellen, dass auch die anderen Schüler in der Klasse Interesse daran haben.

>>> Was genau würde sie denn fragen? Und warum sollte sie es ihre Berufsschullehrerin fragen?
Mir gefällt hier nicht so gut:
Sarah sieht die Fassaden hinauf
Sie fragt sich
Sie beschließt
Sarah kann sich vorstellen

Ich bleibe sehr distanziert,  darüber hinaus zieht sich der Abschnitt ein bisschen in die Länge, ohne dass wirklich Neues gesagt wird.

Ja, sie bleibt distanziert, der Leser kommt nicht an sie ran. Sie ist verschlossen, introvertiert, wir mögen sie irgendwie und irgendwie auch nicht. darauf wollte ich jedenfalls hinaus.

MT hat Folgendes geschrieben:
Vielleicht wüsste auch der Firmenchef Antworten, die Firma, in der Sarah vor ein paar Tagen eine Ausbildung zur Segeltuchmacherin begonnen hat, ist auch in einem solchen Gebäude untergebracht. Sie steht vor dem großen Eingangsportal und spürt ihr Unbehagen, die Glastür zu öffnen und einzutreten in die hohe Halle mit all dem neuen Edelstahl, dem Glas, dem Holz. Alles ist sehr geschmackvoll eingerichtet, teuer, aber Sarah mag es nicht, es stößt sie ab, wie die großen, klimatisierten Bankenhäuser sie abstoßen. Nein, denkt sie sich, sie wird den Firmenchef nicht fragen.

>>> Wir erfahren nicht, was sie wirlich abstößt, der Vergleich zu den Bankenhäusern hinkt insofern, dass wir ja auch hier nicht wissen, was genau sie so stört.

MT hat Folgendes geschrieben:
Als sie die doppelflüglige Tür aufgestoßen hat mit ihrem ganzen Körpergewicht, steht sie im Foyer. Eine etwa dreißig mal dreißig große Halle, die über fünf Stockwerke bis zur Decke offen ist. Links und rechte in den hinteren Ecken führen Treppen hinauf, die in der Mitte ein Plateau bilden und von dort nach außen weiterlaufen, um sich im nächsten Stockwerk wieder zu vereinen. Irgendwie erinnert ihre Anordnung an eine Spirale, eine Sprungfeder vielleicht, und Sarah überlegt, ob ein solcher Gedanke vom Innenarchitekten gewollt war.
„West Side Story“ könnte hier aufgeführt werden, denkt Sarah. Die Szene im Hinterhof, als Tony und Maria sich auf ihrem Balkon ihre gegenseitige Liebe gestehen. Doch dann dazu musste das Transparent verschwinden, das unter der Decke hängt. Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt den Kurs, steht darauf.


>>>>Sarah liebt das Theater, das wissen wir. Aber hat ein sechzehnjähriges Mädchen im Jahr 2006 einen Bezug zu West Side Story? (Ok, hab gegooglt, und es gab eine Europatour des Musicals in dem Jahr, ich geh davon aus, dass sie es kennt)

MT hat Folgendes geschrieben:
Sarah schüttelt den Kopf, als wolle sie sich von der Dummheit ihrer Vorstellungen überzeugen. Sie nimmt eine der Treppen und geht in den ersten Stock, Fertigungshalle. Jede Stufe schmerzt in den Knien. Bevor sie die Tür öffnet, sieht sie noch einmal nach unten, sieht durch die hohen Glastüren hinaus auf den Seitenarm der Elbe, auf dem bunte Kutter dümpeln. Dann wandert ihr Blick zurück in die Halle, fällt jetzt kerzengerade hinab zu Boden. Sie stellt sich Tony vor, der unten steht, die rechte Hand emporgestreckt. Er singt sein berühmtes Maria zu ihr hinauf. Sie weint.

>>>> Frage: Ist das hier
Zitat:
Jede Stufe schmerzt in den Knien.

ein Hinweis?

Ja. Cool

Sie weint? Sie muss wirklich sehr unglücklich sein, an diesem Ort

MT hat Folgendes geschrieben:
(...)

II.

Das Kreischen einer Möwe, die auf der Balustrade des großen Südbalkons hockt, reißt Roland Schild aus einem süßen Traum. Vor Sekunden noch lag er mit einer blonden Frau, die kein Wort deutsch sprach, es aber auch nicht musste, in einem Bett. Ihre Haut braun und schweißnass und nach Leidenschaft duftend. Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben und setzt sich aufrecht gegen die Rückenlehne. Sein Kopf dröhnt und das Sonnenlicht, das gleißend ins Zimmer sticht, schmerzt in den Augen.
Die Nacht war lang, er sieht auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor elf. Zeit für den täglichen Orangensaft und einen Espresso.
Sein Penthouse ist aufgeräumt, seine Putzfrau kommt zweimal die Woche, gestern zuletzt. Sie leistet gute Arbeit, ist nur zu teuer, die kleine Türkin. Seine Kleider hat er heute früh, als er nach Hause kam, auf den Holzdielen verteilt. Hier die Socken, da die Unterhose, dort das weiße Hemd. Wo ist die Hose, seine blaue Leinenhose, die er gestern getragen hat? Unwichtig, denkt er, geht ins Bad und stellt sich unter die Dusche. Roland Schild versucht sich an die letzten Stunden zu erinnern, er hat einen Filmriss. Sie waren in dieser Bar, zwei Freunde aus dem Golfklub und er. Sie haben ein paar Frauen angesprochen, ja klar, mit der einen, wie hieß sie doch gleich, hat er getanzt. Hämmernde Bässe, rotes und grünes und gelbes Licht. Menschen, dicht an dicht und die Luft troff vor Feuchtigkeit. Später, im Gang zu den Toiletten, haben sie sich geküsst, Roland und die Frau, er hat ihr die Bluse hochgeschoben, sie hat gelacht. Sie wollte noch mit zu ihm kommen, jetzt aber kann er sich nicht mehr entsinnen, wo sie abgeblieben ist.

>>> Roland Schild ist Richter.  Ist er im Urlaub? Im Wahlkampf? (Ich geh davon aus, dass es ebenfalls der 4. August ist, also ein Arbeitstag?

[color=red]Vielleicht ist es auch nicht der 4. August... Wird später geklärt.


>>> Schnittmenge „Golfklub-Freunde“, wird das noch Bedeutung haben?[/color]
MT hat Folgendes geschrieben:
Im weißen Bademantel geht er die drei Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten und holt seine vier Tageszeitungen aus dem Briefkasten. Schon als er sie aus der Rolle zieht, erkennt er auf der einen das Titelbild. Er ist in allen Zeitungen erwähnt und mit Foto abgebildet. Sein Herz beginnt zu hüpfen, er macht eine Strike-Bewegung mit dem linken Arm, bei der er leicht in die Knie geht. Hastig nimmt er die Treppen nach oben, schlägt die Wohnungstür hinter sich zu und wirft die Zeitungen auf den Balkontisch. Bevor er zurück in die Küche läuft, um Kaffee und Saft zu holen, sieht er hinüber zur Elbe. Er ruft:
„Guten Morgen, Hamburg!“
Er lacht, der Kopfschmerz ist fast weg. Roland Schild fühlt sich gut. Sein Interview von gestern morgen haben alle geschluckt, alle berichten darüber. Selbst aus dem linken Lager klingt es wohlwollend, was sie von seinen Aussagen halten. Ja, denkt er sich, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, die Menschen im Land wollen hören, was du sagst, sie wollen einen wie dich, der handelt wie du.
Er kippt den Espresso in einem Zug und steckt sich eine Zigarette an. Er schlägt eine der Zeitungen auf und liest. Sie haben ihn korrekt wiedergegeben: Er setze auf harte Strafen, anders als seine Richterkollegen, die oft zu weichgespült seien. Der Rechtsstaat habe versagt, Hamburg sei zu einem deutschen Palermo verkommen. Drogenstraftaten seien keine Kavaliersdelikte, sondern schwere Verbrechen, die mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden müssten.
Roland Schild klappt langsam die Zeitung zu und legt sie beiseite, die Zigarette drückt er in den Aschenbecher. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel eigentlich besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er und ihm ist, als müsste er nur aufstehen, mit dem Finger schnippen und er würde abheben, würde fliegen über die Stadt und ihre vielen Menschen. Und sie würden zu ihm hinaufsehen und ihm zuwinken.
>>> gestern Morgen

(…)
>>>
MT hat Folgendes geschrieben:
Noch ist er nicht am Ziel, auch wenn er nicht genau sagen kann, worin sein Ziel eigentlich besteht. Aber dem ist er seit heute ein großes Stück näher gekommen, das fühlt er

… dass er in der Öffentlichkeit irgendwas erzählt, populistische Parolen verbreitet, gegen Drogen wettert, selbst raucht und säuft(bis zum Filmriss), alles ok, aber würde jemand wie er sich wirklich solch groteske Gedanken machen, wenn er mit sich selbst allein ist?

Die Figur ist einer real exisierenden Person nachempfunden. Schau hier mal (und an vielen anderen Stellen geht´s auch): http://de.wikipedia.org/wiki/Ronald_Schill

Die Figur ist exzentrisch, selbstverliebt und arrogant. Ich glaube fest, dass seine Gedanken ständig um ihn selbst kreisen, um ihn und seine Karriere/öffentliche Wahrnehmung.


Insgesamt, glaub ich, könnte das eine interessante Sache werden, vielleicht wirst du ja verschiedene Stränge entwerfen und sie dann zusammenführen?
Präsens passt für mich gut.  Möcht gern weiterlesen. smile extra

Fein, das freut mich. In der Tat werden es Stänge sein, die zusammengeführt werden.

Herbstliche Grüße
Anja


Vielen Dank an Dich!

LGMT


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Siegfried Lenz
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Beitrag28.09.2011 13:24

von MT
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III.

Sarah hat den ganzen Tag an einer Persenning herumgenäht. Das muss man von Hand machen, an die gerissenen Stellen in der riesigen grünen Plane kommt man nicht mit der Maschine. Jedenfalls hat ihr Chef das gesagt. Ihre Kollegen haben geschmunzelt und weggeschaut. Jetzt, kurz vor Feierabend, sind die Kuppen von Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand rot und wund, die Haut brennt, aber Sarah lässt sich nichts anmerken. Sie lässt sich nie etwas anmerken, egal wem gegenüber, selbst ihrem Vater nicht. Das hat sie aufgegeben vor langer Zeit.
Als der Zeiger auf siebzehn Uhr springt, steht Sarah auf und packt ihre Sachen. Die Brotdose mit dem angebissenen Apfel darin und der Tomate und dem hartgekochten Ei. Mutter wird den Kopf schütteln, wenn sie sieht, dass ihre Tochter wieder nicht gegessen hat. Aber Sarah hat keinen Hunger, das geht ihr seit Wochen so. Sie will die Mutter nicht enttäuschen, doch an Essen ist nicht zu denken. Außerdem müssen Schauspielerinnen dünn sein, die dünnen bekommen die besseren Angebote, das weiß Sarah von einer Freundin, die seit ein paar Wochen auf der Schauspielschule ist. Sie haben sich nur einmal noch nach der bestandenen Aufnahmeprüfung gesehen, danach nicht mehr. Sarah ist nicht nach Treffen zumute.
Sie klemmt ihre Jeansjacke unter den Arm, wirft ein leises „Tschüss“ in die Runde, das nicht erwidert wird, und geht. Draußen vor der Eingangstür holt sie Luft, zieht den abendlichen Sommer tief in ihre Lungen und schließt die Augen. Hier, inmitten der vielen, großen Backsteinhäuser der Speicherstadt, sieht Sarah die rivalisierenden Gangs aufeinander zulaufen, die einheimischen Jets kämpfen gegen die Einwanderer, die Sharks. Junge Männer mit schwarzen, zurückgegelten Haaren, die Hemden bis zur Brust aufgeknöpft, davor baumeln die goldenen Kruzifixe. Da fliegen Messer durch die Luft wie flirrende Insekten, da werden Fausthiebe verteilt und getanzte Fußtritte. Gut gegen böse führen die beiden Jugendbanden auf, doch dem Zuschauer dieses Spektakels bleibt verschlossen, wer gut ist, wer böse. Denn letztlich geht es um die Liebe. Um die Liebe zweier Menschen, die das Pech haben, an unterschiedlichen Orten der Welt geboren worden zu sein.
Sarah erschrickt, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legt. Schnell öffnet sie die Augen und dreht sich um. Es ist die Frau des Chefs, die vor ihr steht, Margarethe von Berlach. Vater sagt, sie hat das Geld in die Ehe gebracht, und außerdem hätte sie das heimliche Sagen in der Firma, obwohl sie nur selten da ist. Margarethe von Berlach guckt ernst wie immer, ihre blonden Haare hat sie in einen Dutt am Hinterkopf gezwängt. Sie wirft die Riemen ihre rote Lederhandtasche auf die Schulter und sagt:
„Du kannst mich nicht ausstehen, was?“
Sarah reagiert nicht gleich, ihr ist, als sei die Temperatur an diesem Sommerabend in Sekundenbruchteilen ins Bodenlose gefallen, ihr läuft ein Schauer über den Rücken.
„Wie… wieso sagen Sie das?“
„Pass auf, Mädchen. Ich habe nichts gegen Mulattinnen. Aber Du bist hier, weil mein Mann und Dein Vater es so abgemacht haben. Mach Deine Arbeit und halt Dich ansonsten zurück. Dann wird Dir nichts passieren. Klar?“
Sarah nickt, ihr Herz rast in der Brust. Die Frau soll weggehen. Sarah bekommt keine Luft in ihrer Nähe, so schlimm wie jetzt war es bisher noch nicht. Wie soll das weitergehen? Drei Jahre lang.
Wortlos lässt Margarethe von Berlach Sarah stehen. Sie steigt in ihr dunkelgrünes Cabriolet und fährt davon. Im Abrauschen des Wagens und im Geschrei der Möwen, die über einem Alsterfleet kreisen, hört Sarah Margarethe von Berlachs Worte nachhallen, besonders eines. Mulattin. Das hat sie gesagt.

(…)


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Traumtänzerin
Fähnchen Fieselschreib

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Beitrag29.09.2011 09:20

von Traumtänzerin
Antworten mit Zitat

Hallo nochmal,

vorab noch kurz was zu deinem Kommentar meines Kommentars. Wink

Zitat:
Klar, der Autor sagt bei Kritik gern und leicht: Das war so gewollt, wie ich es geschrieben habe. Hier erging es mir so: Sarah IST passiv, ist sie schon ihr Leben lang gewesen. Ein stückweit unterdrückt (vor allem vom Vater), träumerisch, der Realität ein wenig entrückt. Das finde ich die fast redundanten Elemente im ersten Teil eigentlch gut... Embarassed Doch es bring natürlich nichts, wenn es in dieser (gewollten) Form bzw. mit der gewollten Intention beim Leser nicht ankommt. Ich werd´ mal schauen.
Stop! Lass dich bloß nie von Lesenden zu etwas überreden, was dir widerstrebt. Das macht dich, deinen Text und Stil kaputt. Und das will keiner.
Schreib weiter so, wie es dich überkommt.
Wenn du Sarah passiv darstellen möchtest, ist es gut, wenn du das durch deinen Satzbau etc. zeigen möchtest. Allerdings eben nicht zuuuu passiv schreiben. Hach, weiß jetzt gar nicht, wie ich das erklären soll ... Embarassed
Vielleicht zerfiesle ich dir einfach mal einen Mini-Teil, damit du dir ungefähr vorstellen kannst, wie ich es meine:

Zitat:
Sarah ist auf dem Weg zur Arbeit, sie hat die Lehrstelle im letzten Moment bekommen, ihr Vater hat den Firmenchef angerufen, er ist ein Golffreund, man kennt sich und hilft sich, wo man kann. Sarahs Vater hat am Telefon zu ihm gesagt, Sarah sei keine Schlechte, manchmal vielleicht etwas eigenwillig, ja. Aber fleißig und gehorsam. Und intelligent sei sie, das auch, ja, und deshalb sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen und so weiter. Sarah hat die Antwort des Firmenchefs nicht verstanden, aber ihr Vater hat zum Schluss gesagt, er sei dem anderen eine Revanche schuldig, da lasse er ihn gewinnen. Das Lachen des Vaters danach. Unecht, klebrig, und als er aufgelegt hatte, war alles beschlossene Sache.
Dieser Abschnitt hat ein enormes Potential, was du durch Schachtelsätze und eine zu überladene Passiv-Betonung allerdings verpuffen lässt. Schade, denn gerade der erste (hier zitierte) Satz ist mit vielen Details bespickt, die sehr lautmalerisch wirken können, sofern man ihnen die Luft zum "Atmen" lässt.
Was an Info durch vermeintliche "Wortwiederholungen", welche nur als solche wirken durch's Überladen (--> siehe Markierungen), kannst du durch Verkürzen deiner Sätze wieder reaktivieren.
Dieses "Problem" zieht sich eigentlich durch den kompletten Teil, deswegen hab ich dir diese Stelle exemplarisch rausgesucht.

Soooooo ... nun zu Teil 3:
Klasse! Genau so schaffst du es wieder, den Leser in den Bann deiner Wörter zu ziehen. Abgesehen von minimalsten Kleinigkeiten: absolut top!
Und bevor ich jetzt in peinliches Lobgeschrei samt Hüpf-Weiterlesen-Will-Tanz verfalle, sag ich lieber: Fortsetzung erwartet! Wink

LG,
Traumtänzerin


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Title sponsored by Boro, (c) by Alogius
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Es genügt nicht, keine Meinung zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.
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Eine spitze Zunge ist in manchen Ländern schon unerlaubter Waffenbesitz.
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Dem wird befohlen, der sich selbst nicht gehorchen kann. (Nietzsche)
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Beitrag29.09.2011 10:35

von MT
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IV.

Seine vier Zeitungen ist Roland Schild zügig durchgegangen, nebenher hat er Radio gehört, sogar dort ist er Tagesthema. Die Zeitungsartikel, in denen er erwähnt wurde, hat er ausgeschnitten und in den Ordner zu den anderen gelegt, allmählich wird die Sammlung dicker. Die inzwischen dritte Tasse Espresso kippt er im Gehen und stellt sie auf dem Sideboard in der Garderobe ab, bevor er die Wohnung verlässt und ins Gericht fährt.
Seine Terminsrolle ist voll für heute. Elf Verfahren, sieben im Bagatellbereich. In einigen müssen Zeugen vernommen werden, in anderen Sachverständige zur Schuldfähigkeit der Angeklagten. Dabei steht die Schuld fast immer fest. Roland Schild kann es nicht mehr hören, dieses immer gleiche Lied von der schwierigen Kindheit und dem schlechten sozialen Umfeld und all dem Kram. Fehlende Steuerungs- oder mangelhafte Einsichtsfähigkeit in das Unrecht einer Tat, so nennen die Gutachter das. Alle reden nur über die Täter, über ihre Probleme und sozialen Unfähigkeiten. Die Köpfe zerbricht man sich über die Frage, wie durch Resozialisierung eine möglichst sanfte Rückkehr in die Wertegesellschaft stattfinden kann. Doch wo bleiben die Opfer? Was ist mit den Tankstellenbesitzern, die Nacht für Nacht beklaut und deren Fensterscheiben eingeworfen werden? Was mit den Menschen, die ihr Leben lang Narben am Körper oder gar im Gesicht tragen von einem Messerüberfall. Nein, sie hört man nicht an, sie vernachlässigt man, stattdessen verpulvert der Staat jährlich zig Millionen für Gefängnisse, die aussehen wie Wohnstuben. Das muss ein Ende haben, und das wird es auch. Roland Schild wird seinen Beitrag dazu leisten, so gut es in seiner Macht steht.
In seinem Dienstzimmer, das nur mit einem Schreibtisch, einem Stuhl dahinter und ein paar mickrigen Kakteen eingerichtet ist, zieht er seine Robe mit Samtbesatz an und bindet den weißen Schlips um. Er sieht sich im Wandspiegel an, der Krawattenknoten gefällt ihm nicht, er bindet neu. Dann klemmt er die Akten unter den Arm und geht hinüber zu Sitzungssaal. Die Luft ist stickig, es riecht nach Linoleum und altem Holz. Die Protokollführerin sitzt bereits seitlich am Richtertisch. Roland Schild begrüßt sie mit einem kurzen ‚Morgen’, setzt sich und ruft die erste Sache auf. Elf mal wird er heute über Menschen richten, er wird entscheiden, ob sie Geldstrafen zahlen oder ins Gefängnis gehen müssen. Dabei wird er sich die immer gleichen Geschichten anhören müssen. Herr Richter, ich wollte nicht… Herr Richter, ich war das nicht… Es ist ihm über, und als die erste Angeklagte den Saal betritt, überlegt er, welchen Anzug er heute Abend für den Empfang des Staatssekretärs im Alten Rathaus anziehen soll. Dann sieht er von seiner Akte auf, die Angeklagte setzt sich, und Roland Schild denkt, auch das noch. Eine Halbschwarze am frühen morgen.

(…)


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kskreativ
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Beitrag29.09.2011 10:43

von kskreativ
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Der Text bringt den Zynismus, aber auch die Abgestumpftheit deines Protas gut rüber. Mich stören nur zwei Sätze:
Zitat:
Seine Terminsrolle ist voll für heute.
Eher wohl sein Terminkalender.
Zitat:
Eine Halbschwarze am frühen morgen.
Auch etwas unglücklich formuliert.

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C'est la vie. oder: Du würdest dich wundern, was man so alles überleben kann.
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Beitrag29.09.2011 11:20

von MT
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kskreativ hat Folgendes geschrieben:
Der Text bringt den Zynismus, aber auch die Abgestumpftheit deines Protas gut rüber. Mich stören nur zwei Sätze:
Zitat:
Seine Terminsrolle ist voll für heute.
Eher wohl sein Terminkalender.
Zitat:
Eine Halbschwarze am frühen morgen.
Auch etwas unglücklich formuliert.


Hi, kskreativ,

"Terminsrolle" ist ein terminus technicus bei Gericht.

"Halbschwarze"... nun ja, ich wollte nicht schon wieder "Mulattin" verwenden.

Danke Dir!

LGMT


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Beitrag29.09.2011 11:22

von MT
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Hi, Tänzerin,

ich danke auch Dir sehr herzlich für Deine Detailverliebtheit. Ich werde mir Deine Anregungen zum ersten Teil noch einmal näher vornehmen, wenn der Text koplett steht. Was Du meinst, glaube ich zu erahnen, ich fühle es aber noch nicht so richtig... Mal sehen.

LGMT


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Siegfried Lenz
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Beitrag29.09.2011 12:43

von MT
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V.

Margarethe von Berlach ist mit ihrem Wagen um die Ecke gebogen, immer noch schaut Sarah dem leeren Straßenverlauf in den Backsteinschluchten nach. Sie hat das Gefühl, Hände hätten sich um ihren Hals gelegt und zugedrückt, ihr Kinn zittert, Sarah weiß nicht, ob es Wut ist, was sie empfindet. Eine Träne rollt ihr über die Wange, ein klarer Gedanke ist nicht möglich. Was soll sie tun? Wo soll sie hin? Nach Haus etwa? Zu ihrem Vater vielleicht? Oder zu Mutter, die schon lange dieses Land verlassen will? Zurück in ihre Heimat, zurück nach Südafrika und zu ihrer Familie. Mutter erzählt leise davon, aber immer mit leuchtenden Augen.
Aus der Hosentasche holt Sarah ihr Handy und tippt Karstens Nummer, er ist gleich dran. Sie verabreden sich für viertel vor sechs im Park, am Springbrunnen, wo er jeden Abend mit seinen Kumpels verbringt. Als Sarah auflegt, schlägt ihr Herz kräftig in der Brust. Sie mag Karsten, sehr sogar, und sie glaubt, er mag sie auch. Die beiden kennen sich aus der Abizeit, er war ein Jahrgang über ihr, hat aber abgebrochen, und was er zurzeit macht, weiß sie nicht. Karsten kommt aus gutem Elternhaus, hat teure Klamotten an, kann sich gut benehmen, und seine blonden Haare sind immer kurz und gestylt. Einmal war er bei Sarah zu Hause, und als er gegangen war, hat ihre Mutter gelächelt, hat ihr die Wange gestreichelt und gesagt, er sei ein netter Junge.
Der schwüle Sommerabend tropft von den roten Häuserfassaden, nur hin und wieder geht Wind durch die Gassen. Sarahs Schritte sind kurz und schnell, Schweiß rinnt ihr von der Stirn, die Bluse klebt am Rücken. An der Außenalster geht sie entlang, der Feierabendverkehr drückt sich durch die verstopfte Stadt.
In einer Nebenstraße parken Autos an der Bordsteinkante, dicht an dicht stehen sie wie an einer Perlenschnur aufgereiht hintereinander. Sarah bleibt stehen, sie denkt nicht lange nach, dann nimmt sie einen flachen, kantigen Stein vom Boden auf und geht weiter. Die Spitze des Steins kratzt sich in die Lacke der Fahrzeuge ein, hinterlässt Furchen, Schlangenlinien, krude Muster. Ein schrilles Sirren begleitet Sarahs Schritte, die jetzt schneller werden, die allmählich zu hüpfen, und kurz darauf zu laufen beginnen. Der Stein ratscht dabei weiter, frisst sich in blauen Türen, in schwarze Kotflügel, und dunkelgrüne Motorhauben, bis Sarah ihn von sich wirft und rennt.
Als sie den Parkeingang passiert, sieht sie Karsten schon, sie winkt, er winkt zurück, kommt auf sie zu, eine Bierflasche in der Hand.
Was mit ihr los sei, will er gleich wissen, warum sie so außer Atem sei. Er zieht die Stirn in Falten. Sarah wiegelt ab, und er sagt „Komm“ und nimmt sie mit zum Brunnen, an dem ein paar andere Jungs und Mädchen stehen. Sarah kennt niemanden, sie wird mit Kopfnicken, Handheben begrüßt und grüßt zurück. Kurz darauf hat sie ein Bier in der Hand, alle haben ein Bier in der Hand. Sie trinkt, die kalte Flüssigkeit rinnt ihr die Kehle herunter. Die Alkohol tut gut, im Magen, im Kopf. Sie sitzt auf der Wiese, Karsten neben ihr, er lächelt, plötzlich dreht sie sich zu ihm und küsst seinen Mund. Er hält die Augen dabei offen, ist sichtlich überrascht. Dann nimmt er sie in den Arm. Lange erwidert er ihre Küsse. Sarahs Kopf ist leer, und sie glaubt, sie fühlt so etwas wie Glück. Der Moment soll niemals enden, und es noch nicht acht Uhr abends, als zwei Polizeibeamte vor ihr stehen.

(…)


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Beitrag29.09.2011 15:14

von MT
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VI.

Der Staatsanwalt entschuldigt seine kurze Verspätung, als er den Saal betritt und nimmt auf seinem Stuhl Platz. Roland Schild wirft ihm einen strengen Blick zu.
„Ist schon das zweite Mal“, sagt er, wendet sich dann aber der Angeklagten zu. Ihr Alter entnimmt er der Akte, das Mädchen ist vor wenigen Tagen zwanzig geworden, Roland Schild könnte Jugendstrafrecht anwenden, das ist bis einundzwanzig möglich. Man wird sehen, er legt sich da anfangs nicht fest. Die meisten in diesem Alter wissen ganz genau, was sie getan haben. Er wird es vom Verlauf der Verhandlung abhängig machen, schaut dem Mädchen in die Augen und setzt sein freundliches Lächeln auf. Sieht eigentlich ganz hübsch aus, die Kleine, denkt er. Schöne Haut, er mag diesen braunen Ton und erinnert sich an so manche Nacht, in denen er Frauen mit solcher Haut hatte.
„Also“, sagt er. „Fangen wir an“, und zwinkert Sarah mit einem Auge zu. Er beginnt mit der Vernehmung zu ihrer Person, der Verteidiger neben Sarah bestätigt die Angaben, die sich aus der Akte ergeben. Dann steht der Staatsanwalt auf und verliest die Anklageschrift.
„Danke“, sagt Roland Schild und sieht Sarah wieder in die Augen.

Es ist ein falsches Lächeln, das erkennt sie sofort. Ihr ist unwohl, sie hat vergangene Nacht kein Auge zugetan. Der Verteidiger, den ihr Vater ihr besorgt hat, hat heute früh vor der Verhandlung noch einmal gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, das ganze sei eine Bagatelle, Sachbeschädigung an ein paar mehr oder weniger alten Autos. Da komme allenfalls eine kleine Geldstrafe raus, er habe das schon mit dem Staatsanwalt vorbesprochen am Telefon, und der sei auch damit einverstanden.
Sarah weicht den Blicken des Richters aus, sie ekelt sich vor seinem Grinsen. Sie hat nur einen Wunsch: Der Tag soll schnell vorübergehen.
Was jetzt passiert, welche Worte gesprochen, welche Zusammenhänge erörtert und Rückschlüsse gezogen werden, verkommt in Sarah Ohren zu einem einzigen Brei. Sie kann der Verhandlung nicht mehr folgen, hört zwar das Schreien ihres Verteidigers, sieht das Kopfschütteln des Staatsanwalts, ist aber nicht im Stande in sich aufzunehmen, was der Richter zu ihr sagt. Wie in einem milchigen Schleier verschwimmen seine Konturen, Sarah hält es für möglich, sich nur in einem bösen Traum zu befinden, sie überlegt, ob sie ihren Körper kräftig schütteln sollte, um aufzuwachen. Die Stimmen der Männer sind verzerrt wie bei einem zu langsam laufenden Tonband, ihre Bewegungen führen sie in Zeitlupe aus. Sarah will fort von hier, sie will raus aus dieser Enge, die ihr die Luft zu Atmen nimmt. Eine unerträgliche Hitze bemächtigt sich ihrer, ihr wird schwindelig, Sarah springt auf. Der Richter brüllt, sie hört jetzt wieder etwas klarer.
„Herr Anwalt, sagen sie ihrer Mandantin, sie soll sich wieder hinsetzen.“
Sarah spürt eine Hand an ihrem Arm, sie sieht dem Anwalt neben sich in die Augen, er nickt, bedeutet ihr, sich zu setzen, und sie lässt sich auf den Stuhl zurückfallen.
Der Staatsanwalt steht auf, kopfschüttelnd nimmt er seine Akten unter den Arm und verlässt den Raum.
„Wachtmeister“, ruft der Richter, und schon stehen zwei Männer in Uniform neben Sarah, „Justiz“ steht auf ihren Jacken.
„Wir werden Berufung gegen das Urteil einlegen“, sagt der Anwalt neben ihr und im selben Moment ergreift einer der Männer Sarahs Arm und zieht sie vom Stuhl hoch.

Roland Schild kennt dieses Schauspiel, sein Puls ist ruhig, er sieht dem grantigen Staatsanwalt nach, wie der den Raum verlässt, sieht auch, wie die Beamten die Angeklagte abführen. Die nächste Sache ist für dreizehn Uhr terminiert. Genug Zeit, um einen Kaffee zu trinken.
Jugendstrafrecht kam nicht in Frage, selbst wenn die Mitarbeiterin des Jugendamts dafür plädierte. Das machen die immer, das ist kein Maßstab für ihn. Sarah Schmidt wusste ganz genau, was sie tat. Sie soll die Strafe dafür spüren, die Strafe soll ihr eindringlich vor Augen führen, welches Unrecht sie begangen hat. Und sie soll sie vor künftigen Straftaten bewahren.
Sarah Schmidt, zwanzig Jahre alt, nicht vorbestraft, wurde zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ohne Bewährung. Sie hatte den Lack von fünf Fahrzeugen zerkratzt.

(...)


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Beitrag29.09.2011 15:15

von MT
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VII.

Sarah liegt auf der Pritsche in ihrer Zelle, die erste Nacht im geschlossenen Strafvollzug steht ihr bevor und das, was in den nächsten Stunden geschehen wird, wird sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Noch Jahre später wird sie schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, wird weinen, nächtelang und wird sich in ihrer Wohnung einschließen, wird sich wegsperren von der Welt und sich in einer Ecke ihrer kleinen Küche auf den Boden kauern, die Knie ganz dicht an den Oberkörper gezogen.
Sarah wird nie erfahren, wie zwei der männlichen Gefangenen Zugang zum Frauentrakt erhielten. Ihr wird auch für immer unbekannt bleiben, weshalb plötzlich die Zellentür aufgeschlossen wurde und die beiden Männer im Rahmen standen, erkennbar nur durch die breiten Umrisse ihrer Schultern im schummrigen Licht des Flures.
In dieser ersten Nacht wird sie schweigen, wird an die Decke ihrer Zelle sehen und den Schweiß der Männer riechen, wird ihr Gewicht spüren, das sie zu zerquetschen droht. Tränen werden ihre Wangen herunter laufen, ganz leise Tränen nur, während die Federn der Pritsche knartsen. Und dabei wird sie an Maria denken, wird Maria auf dem Balkon im Hinterhof sehen und wenig später in den Armen ihres geliebten Tony.

(...)


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Beitrag29.09.2011 15:15

von MT
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VIII.

Etwa zwei Jahre später scheidet Roland Schild aus dem Richteramt auf eigenen Wunsch aus, er hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine eigene politische Partei gegründet und wird bald darauf zum Zweiten Bürgermeister und Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg berufen. Aufgrund erheblicher Dissonanzen mit seinen Parteikollegen und einer öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit dem Ersten Bürgermeister der Stadt, zieht Schild sich allerdings zurück und wandert nach Brasilien aus. Dort bezieht er eine komfortable Stadtwohnung, und wird an einem lauen Sommerabend von einem Unbekannten mit versteckter Kamera beim Kokainkonsum gefilmt.
Roland Schild lebt von seiner Richterpension und den Ruhebezügen aus seiner Zeit als Mitglied im Hamburger Senat. Zusammen sind dies etwa achttausend Euro monatlich.

Sarah Schmidt hat er nie wiedergesehen. Am zweiten Tag ihres Aufenthalts in der Haftanstalt erhängte sie sich in ihrer Zelle mit einem Bettlaken.

Ende


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Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.

Siegfried Lenz
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MT
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Beitrag29.09.2011 15:17

von MT
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Der vorliegende Text ist einem wahren Fall sehr stark angeleht.

MT, Sep. 2011


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Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.

Siegfried Lenz
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Gast







Beitrag29.09.2011 21:14

von Gast
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Keine leichte Aufgabe - der Text ist sehr lang für Netzlesen und er hat vieles, was mir hier verloren geht. Feinheiten. Dafür kann aber der Text nix, nur zur Verortung.

Gut ist: das fängt sehr langsam, ruhig und indirekt an - deswegen trifft das Ende um so tiefer. Dieses Anziehen des Tempos ist außerordentlich stark, die letzten 'Meter' lese ich atemlos.

Außerdem gefällt mir das indirekte. Berichterstattung von außen - die Emotionen liegen in all den sachlichen Gesten.

Man spürt aus jeder Zeile, das du weißt, wovon du sprichst.

Was bleibt ist Kleinkram - aber ich passe ob der Länge. Werfe dir aber hin, was ich unterwegs aufgeschnappt habe:

Das wichtigste:
Zitat:
Noch Jahre später wird sie schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, wird weinen, nächtelang und wird sich in ihrer Wohnung einschließen,


Zitat:
Am zweiten Tag ihres Aufenthalts in der Haftanstalt erhängte sie sich in ihrer Zelle mit einem Bettlaken.


???
Wenn das Absicht ist, erschließt es sich mir nicht?

Der Rest:
Teil 1: zu oft Sarah, das hat vor mir schon jemand angemerkt (glaube ich). Der Name kommt zu oft.
Zitat:

Martinshorn schrillt an Sarah vorbei.


schrill? Heulend, quäkend, durchdringend ... schrill?
Zitat:

reißt Roland Schild aus einem süßen Traum.


süß gefällt mir nicht, ich glaube auch nicht, dass er süß war.
Zitat:

Jetzt bewegt er seinen Oberkörper nach oben

schwergängig und etwas arg 'gehoben'
Zitat:

das gleißend ins Zimmer sticht,


in den Augen stechen, ja, ins Zimmer?

Ich habe das sehr gern gelesen. Stark, real, dicht und handwerklich beeindruckend.

debruma
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MT
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Beitrag30.09.2011 09:43

von MT
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Moin, debruma,

herzlichen Dank für´s Lesen und Kommentieren.

Zitat:
Gut ist: das fängt sehr langsam, ruhig und indirekt an - deswegen trifft das Ende um so tiefer. Dieses Anziehen des Tempos ist außerordentlich stark, die letzten 'Meter' lese ich atemlos.

Wenn das so war/ist, dann habe ich erreicht, was ich erreichen wollte. Schön.

Zitat:
???
Wenn das Absicht ist, erschließt es sich mir nicht?

Das war Absicht, es scheint hier aber nicht angekommen zu sein. Das "Jahre später" sollte ihre Gedanken darstellen. Ich sehe aber, dass dies mit dem Berichtsstil wohl kaum in Einklang zu bringen ist, weil man als Leser im Absatz zuvor davon ausgeht, sie wird noch viele Jahre leben, während man im zweiten Absatz erfährt, dass sie sich tags darauf das Leben genommen hat.
Das muss noch geändert werden, Du hast vollkommen Recht.

Zitat:
Der Rest:
Teil 1: zu oft Sarah, das hat vor mir schon jemand angemerkt (glaube ich). Der Name kommt zu oft.

Auch das werde ich noch einmal prüfen. Dazu möchte ich den Text aber erst noch ein paar Tage "abhängen" lassen, um etwas neutraler herangehen zu können.

Zitat:
schrill? Heulend, quäkend, durchdringend ... schrill?

das hingegen gefällt mir nach wie vor.

Zitat:
süß gefällt mir nicht, ich glaube auch nicht, dass er süß war.

Süß im Sinne von erotisch.

Zitat:
schwergängig und etwas arg 'gehoben'

Fand ich eigentlich nicht, aber mal sehen, ob es etwas "leichtfüßiger" geht.

Zitat:
in den Augen stechen, ja, ins Zimmer?

Doch, ich denke, das geht.

Zitat:
Ich habe das sehr gern gelesen. Stark, real, dicht und handwerklich beeindruckend.

 Very Happy Vielen Dank!

LGMT


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Siegfried Lenz
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