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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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P 06.11.2010 13:08 Überfahrt oder wenn die Heimat kein Zuhause ist. von Pedro
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Überfahrt oder wenn die Heimat kein Zuhause ist.
Das Dorf liegt mitten im Busch, zwölf Hütten aus Lehm und Wellblech. In der Mitte ein Brunnen, kein Telefon, kein Strom, keine Straße. Die nächste Schule ist weit weg und kostet Geld.
Blessing verlässt mit ihrem Mann und den beiden Kindern, Farley und Joseph, ihre Hütte, einen staubigen Raum, zwei mal drei Meter groß. Die paar Plastikschüsseln und die zerfetzten Matratzen lässt sie zurück, auch die kleine Öllampe; das Bild ihrer Mutter nimmt sie mit.
Ein Dutzend Männer und Frauen gehen zum Fluss, die rote Erde staubt unter ihren Füßen, nur wenige besitzen Schuhe. Es ist heiß. Eine trockene Landschaft, dürres Gras, ein paar Zwergpalmen.
Sie haben die Opfergaben bei sich: Mais, Kräuter, eine Taube, ein weißes Huhn und eine kleine Ziege.
Am Fluss schlägt der Zauberer der Taube den Kopf ab, reibt die Familie mit Blut und zerstampften Blättern ein.
Er bittet die Flussgöttin um Hilfe: „Mach, dass sie in Europa Arbeit finden, dass wir ein Haus aus Stein bauen und die Kinder in die Schule gehen können.“
Er gießt eine Flasche Wasser in den Fluss, schlachtet dann das Huhn und die Ziege und reibt nun auch alle anderen mit Blut ein.
Die Menschen summen eine monotone Melodie und wiegen sich hin und her.
„Göttin des Flusses, mach die Reise erfolgreich.“
Das Schlauchboot hat einen 25 PS Yamaha-Motor. Die Menschen drängen sich zusammen, die Frauen sitzen in der Mitte, einige sind schwanger, andere drücken Babys an ihre Brust. Sie glauben, dass sie in Spanien nicht abgeschoben werden können. Die Männer und die größeren Kinder halten sich am Rand an den Halteschlaufen fest. Benzingestank umgibt sie.
150 Kilometer sind es zur spanischen Küste, die Reise soll einen Tag dauern.
Der Himmel wechselt die Farbe, dunkelblau wird zu schwarz. Die Lichter an der Küste verschwinden.
Nach mehreren Tagen sind sie immer noch auf dem Meer. Wellen klatschen an das Schlauchboot, es liegt tief im Wasser. Der Wind hat sie zurück getrieben. Einen Sturm haben sie überstanden.
Hatten die Frauen anfangs noch Kirchenlieder gesungen, die Babys geweint, so herrscht jetzt Stille. Der Motor funktioniert nicht mehr, die Männer haben es aufgegeben, mit den Händen Wasser aus dem Boot zu schöpfen und zu rudern.
Apathisch hocken alle im Boot, niemand spricht.
Ihre Gesichter sind von der Sonne verbrannt, die Haut löst sich. Alle haben starken Durst, der Mund ist trocken, die Lippen sind eingerissen.
Farley sieht seinen Vater zum ersten Mal in seinem Leben weinen, seine Mutter stöhnt leise und hält Joseph im Arm an sich gedrückt. Lange Zeit hat er gejammert, jetzt ist er still. Seine Mutter schüttelt ihn plötzlich hin und her, schreit dann fürchterlich. Sie hat nicht mitbekommen, dass er verdurstet, gestorben ist.
Er kann nicht im Boot bleiben, die Sonne steht brennend heiß über ihnen. Der Vater steht auf drängt sich durch die sitzenden Frauen und nimmt seiner Frau das Baby aus dem Arm. Sie schaut ihn an, aber er blickt sie nicht an; er wirft das tote Baby ins Meer.
Seine Frau stürzt sich auf ihn, beißt ihm in den Hals, beide umklammern sich, stürzen ins Meer.
Farley sieht sie im Wasser verschwinden.
Er ist jetzt allein und doch erst zehn Jahre alt.
Als er wieder aufwacht, ist alles verschwommen und verwischt. Er hat keine Schmerzen, keinen Durst und keinen Hunger mehr. Ihm ist, als wenn er flöge.
Und plötzlich sieht er seine Mutter, sie stöhnt und schreit nicht mehr. Sie hat seinen kleinen Bruder im Arm, er weint nicht mehr und lacht. Sein Vater winkt ihm zu.
Er läuft auf seine Eltern zu, kommt ihnen näher und näher; er ist schon da.
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SickBoy Leseratte
Beiträge: 199 Wohnort: am Arsch der Welt
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07.11.2010 11:31 Re: Überfahrt oder wenn die Heimat kein Zuhause ist. von SickBoy
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Hallo Pedro,
mir gefällt dein nüchterner, direkter Stil, ohne viel Umschweife und blumiger Sprache - Super! Da bleibt genug Raum für den Leser, sich eine eigene Sicht der DInge zu verschaffen.
Von wo flüchtet denn die Familie?
Ein bisschen Textarbeit:
Pedro hat Folgendes geschrieben: | Alle haben starken Durst, der Mund ist trocken, die Lippen sind eingerissen. |
Wäre es nicht besser, hier "die Münder sind trocken" zu schreiben?
Pedro hat Folgendes geschrieben: | Der Vater steht auf Komma drängt sich durch die sitzenden Frauen und nimmt seiner Frau das Baby aus dem Arm. |
Pedro hat Folgendes geschrieben: | Sie schaut ihn an, aber er blickt sie nicht an; er wirft das tote Baby ins Meer. |
Würde ich streichen.
Pedro hat Folgendes geschrieben: | Er ist jetzt allein und doch erst zehn Jahre alt. |
Könnte man ebenfalls weglassen.
Mehr gibts nicht zu meckern!
Gern gelesen!
Beste Grüße
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Gast
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07.11.2010 11:51
von Gast
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Afrika ___________________________ Europa
so nah, und so weit weg,
kennst du Abdal Malik: "Gibraltar"? Falls ja, dann weisst du, was ich meine.
Dein Text, ganz ohne Musik, ist so eindrücklich, so ...extrem, ich bin wirklich berührt, denn:
Wenn wir die sehen, die ankommen und dann doch wieder wegschauen, das ist schon Wahnsinn.
Du aber hast uns die gezeigt, die wir NIE sehen, mit denen wir nicht sind, die wir allein lassen, vor denen wir unsere Toren schliessen, ich bin sehr froh über diesen Text und darüber, dass jemand hier etwas öffnet!
Danke
Anja
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Gast3 Klammeraffe
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Beiträge: 794 Wohnort: BY
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G 07.11.2010 12:38
von Gast3
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Hallo Pedro,
dass ich deine Texte und deine Art zu schreiben sehr mag, habe ich ja schon mal erwähnt. Trifft auch hier wieder zu. Du schaffst es, ohne Effekthascherei auf den Punkt zu kommen und sehr zu berühren. Gefällt mir.
Nur der Satz hier, der hat mich auch stolpern lassen:
Er ist jetzt allein und doch erst zehn Jahre alt.
Weglassen würde ich ihn nicht, aber umformulieren.
So in der Art: Er ist erst zehn Jahre alt und plötzlich allein.
Den Titel finde ich sehr schön gewählt.
Lieben Gruß
schneestern
_________________ Sich vergleichen, ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. |
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Rheinsberg écrivaine émigrée
Alter: 64 Beiträge: 2251 NaNoWriMo: 35000 Wohnort: Amman
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07.11.2010 13:12
von Rheinsberg
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Pedro entwickelt sich hier zu einem meiner Lieblingsautoren.
Immer gerne gelesen.
Die Szene mit dem Zauberer könntest du dir vielleicht noch einmal ansehen.
Er sagt:
Zitat: | „Mach, dass sie in Europa Arbeit finden, dass wir ein Haus aus Stein bauen und die Kinder in die Schule gehen können.“ |
Sie sollen Arbeit finden - ok.
Dann wechselt er zum "wir" - warum?
Ansonsten: bitte mehr davon.
_________________ "Write what should not be forgotten…" Isabel Allende
"Books are written with blood, tears, laughter and kisses. " - Isabel Allende
"Die größte Gefahr ist die Selbstzensur. Dass ich Texte zu bestimmten Themen gar nicht schreibe, weil ich ahnen kann, welche Reaktionen sie hervorrufen." - Ingrid Brodnig |
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Gast
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07.11.2010 15:48
von Gast
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Das Haus aus Stein könnte eine Schule oder eine andere Einrichtung hier in der Heimat sein, solche Dinge werden mitfinanziert durch Geld-nach-Hause-Schicken, deshalb dort >> hier??
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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P 07.11.2010 17:39
von Pedro
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Hallo Lorraine,
Zitat: | kennst du Abdal Malik: "Gibraltar"? |
- kenne ich noch nicht
Zitat: | Du aber hast uns die gezeigt, die wir NIE sehen, mit denen wir nicht sind, die wir allein lassen, vor denen wir unsere Toren schliessen, ich bin sehr froh über diesen Text und darüber, dass jemand hier etwas öffnet! |
- Ich freue mich sehr, dass meine Schreibabsicht rüber gekommen ist!
Wer auch nur halbwegs schreiben kann, sollte sich nicht nur in Herz-Schmerz-Lyrik bewegen, sondern versuchen, andere aufzuwecken.
Gruß
Pedro
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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The Brain Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1966 Wohnort: Over the rainbow
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08.11.2010 12:02
von The Brain
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Lieber pedro,
ein sehr eindringlicher Text.
Zitat: | Die nächste Schule ist weit weg und kostet Geld. |
Zitat: | „Mach, dass sie in Europa Arbeit finden, dass wir ein Haus aus Stein bauen und die Kinder in die Schule gehen können.“ |
... also für mich haben sich diese beiden Sätze erklärt? Ein gelungener dezenter Verweis?
Zitat: | Hatten die Frauen anfangs noch Kirchenlieder gesungen, |
Hier war ich ob der Kirchenlieder verwundert - die Opferriten zu Beginn hätten mich hier andere Lieder erwarten lassen ...
Zitat: | Sie hat nicht mitbekommen, dass er verdurstet, gestorben ist. |
Sie hat nicht mitbekommen ... das empfinde ich als etwas "platt" - hier würde ich mir eine subtilere Beschreibung wünschen.
Sehr, sehr gerne gelesen ...
und Danke fein, für die Inspiration!
Liebe Grüße
Brain
_________________ Dinge wahrzunehmen,
der Keim der Intelligenz
(Laotse)
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Die Kindheit endet nicht mit dem Erwachsenwerden.
Sie begleitet dich durch all deine Lebenstage.
***********
Alle Bücher dieser Welt
Bringen dir kein Glück,
Doch sie weisen dich geheim
In dich selbst zurück.
(Hermann Hesse) |
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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The Brain Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1966 Wohnort: Over the rainbow
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08.11.2010 17:36
von The Brain
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Hallo lieber Pedro,
Pedro hat Folgendes geschrieben: | LieberThe Brain, |
Ähemm ... Liebe - The Brain ? Schau noch mal nach - nee du, bleibt dabei ...
Zitat: | - Was die Inspiaration angeht: Con mucho gusto! |
Herrjeh, Englisch, Französisch, Spanisch - ich glaube ich sollte langsam mal einen Fremdsprachenkurs belegen ...
mio también ?????? oder so ....
Liebe Grüße
The Brain - (altes) Mädel
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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The Brain Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1966 Wohnort: Over the rainbow
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08.11.2010 22:01
von The Brain
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Un abrazo cordial? - oh, Danke - wie lieb ...
So schön kann ich das auf Deutsch gar nicht sagen - seufz
buenos suenos .... ( ??? )
Gut's Nächtle
Brain
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Deus Gänsefüßchen
D Alter: 32 Beiträge: 23
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D 09.11.2010 19:43
von Deus
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Gnadenlos aber auch verdammt gut.
Mir gefällt, wie du das Thema ernst und ohne große Effekthascherei, gleichzeitig aber auch mitreißend umgesetzt hast. Darf ich fragen, woher deine Inspiration stammt?
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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dschingis Eselsohr
Alter: 52 Beiträge: 305
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10.11.2010 08:06
von dschingis
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Lieber Pedro,
wieder ein sanftdringender Appell gegen das Wegschauen, sehr gelungen, wie immer von Dir wertungsfrei und doch so aussagekräftig. Was muß es kosten, diesen nüchternen Blick zu artikulieren, ohne die Axt rauszuholen beim Schreiben? Respekt dafür! Sehr reif.
Lorraine hat Folgendes geschrieben: |
Dein Text, ganz ohne Musik, ist so eindrücklich, so ...extrem, ich bin wirklich berührt, denn:
Wenn wir die sehen, die ankommen und dann doch wieder wegschauen, das ist schon Wahnsinn.
Du aber hast uns die gezeigt, die wir NIE sehen, mit denen wir nicht sind, die wir allein lassen, vor denen wir unsere Toren schliessen, ich bin sehr froh über diesen Text und darüber, dass jemand hier etwas öffnet!
| Besser kann man es nicht sagen, liebe Anja!
Liebe Grüße Euch,
Bianka
_________________ Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.
Voltaire
zuletzt appeliert alles Erzählen an ein latentes Vorwissen des Lesers - und bleibt in seinem Gelingen von dessen Fülle abhängig. - Hans Wollschläger |
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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SickBoy Leseratte
Beiträge: 199 Wohnort: am Arsch der Welt
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10.11.2010 21:17
von SickBoy
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Pedro hat Folgendes geschrieben: | Werde nach Südamerika umziehen. |
Wohin genau ziehst du denn? Wenn man fragen darf?
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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SickBoy Leseratte
Beiträge: 199 Wohnort: am Arsch der Welt
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11.11.2010 09:25
von SickBoy
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Na dann, viel Glück!
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Pedro Eselsohr
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Beiträge: 241 Wohnort: Freiburg
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