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Dieses Werk wurde für den kleinen Literaten nominiert Die Leuchtturmwärterin


 
 
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MT
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 52
Beiträge: 1090
Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 11:15
Die Leuchtturmwärterin
von MT
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Die Leuchtturmwärterin

In seinem Ölzeug steht Harmsen an Deck und hält sich an der Tür zur Kommandobrücke fest. Den Südwester hat er tief ins Gesicht gezogen gegen den Wind und den peitschenden Regen. Ein Blitz erhellt die schwarze Nacht. Meer und Himmel sind seit Stunden nicht voneinander zu trennen. Heute brechen alle Wetter zugleich auf ihn ein. Die meterhohen Wellen schlagen über die Planken und an die Bordwände.
Harmsens Lippen schmecken salzig. Sein Gesicht, sein ganzer Körper, alles ist aufgeweicht. Und er friert. Schon lange hat er nicht mehr so gefroren wie jetzt. Er zittert. Warum hat er sich nur darauf eingelassen, er könnte sich ohrfeigen.
Er sieht hinunter auf das Vordeck. Da stehen sie, die feinen Herren. Haben für heute Schlips und Kragen gegen Gummistiefel und Regenjacken getauscht. Und wollen jetzt den harten Mann markieren und ihren Gattinnen daheim den Fang des Jahres präsentieren. Wie albern, denkt Harmsen.
Auf der Brücke wartet Sergej, seine rechte Hand hier an Bord. Heinrich, der dritte im Bunde, ist an Land geblieben. Ihr spinnt, hat Heinrich gesagt, bei dem, was sich da aus Westen zusammenbraut. Lebensmüde seid ihr, hat er auch noch gesagt und ist von Bord gegangen.
Ihr halbes Leben schon fahren die Drei auf See hinaus, spüren den letzten Fischgründen nach, die ihnen nach all den Fangquoten geblieben sind. Und hin und wieder geben sie ihr Schiff her für Typen wie diese da unten. Hinein ins große Abenteuer, raus aufs Meer für zwei oder drei Tage und Nächte. Einmal im Leben den Launen der Natur ausgesetzt sein und dann mit stolz geschwellter Brust den Freunden an Land einen Fünfzehn-Kilo-Kabeljau präsentieren oder womöglich einen Katzenhai. Wie lächerlich das ist für einen, der täglich hier draußen ist. Hier draußen mit all der Nässe, der Kälte. Der Einsamkeit.
Oft genug ist die Nordsee kabbelig. Doch so wild wie heute war sie noch nie.
Sergej gibt ihm ein Zeichen, er deutet auf einen Becher, aus dem Dampf aufsteigt. Harmsen soll rein kommen. Er freut sich auf Sergejs heißen Tee. Eine kräftige Friesenmischung, ein Assam, der mit reichlich Zucker und einem ordentlichen Schuss Rum die Gewissheit zurückholt, dass die Seefahrt Lebensglück bedeutet.
Doch noch kann Harmsen seinen Platz nicht verlassen, noch muss er ausharren, bis er zu Gesicht bekommt, worauf er seit einer halben Stunde wartet. Ob sie daran gedacht hat? Ob sie es sich wieder trauen wird, seine Lissi? Wieder klatscht ihm die tosende See ins Gesicht. Und der sonor wiederkehrende Schein des letzten Leuchtfeuers in der schwarzen Ferne winkt durch die Nacht.

(wird fortgesetzt)

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lady-in-black
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Der goldene Käfig Extrem Süßes!


Beitrag21.10.2010 11:29

von lady-in-black
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nur ein erster spontaner Gedanke von mir: Was suchen die (in der Regel immer auf schönes Wetter bedachten) Sonntagsangler bei Nacht an Bord eines Fischkutters? Es gibt doch spezielle Schiffe, die tägliche Angelfahrten anbieten.

Aber wie gesagt, das ist einfach nur so ein erster Gedanke von mir!  Wink
Jetzt trockne ich mich ab; bin beim Lesen nass geworden und friere fürchterlich Laughing
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Ahriman
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Alter: 89
Beiträge: 705
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Beitrag21.10.2010 12:24

von Ahriman
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Zitat:
(wird fortgesetzt)

Laß es lieber.
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MT
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 52
Beiträge: 1090
Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 12:55

von MT
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Ahriman hat Folgendes geschrieben:
Laß es lieber.

Das hier:
Zitat:
Ich hasse Geschichten geschrieben im Präsens. Das ist nur gut für Theaterstücke.
kommt von Dir, nicht? Dann lass hier besser Deine Kommentare.

Es gab mal Zeiten im Forum, da war Kritik konstruktiv.
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Bananenfischin
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Silberne Harfe



Beitrag21.10.2010 12:55

von Bananenfischin
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Ahriman hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
(wird fortgesetzt)

Laß es lieber.


Nein, lass es auf keinen Fall!!!

Der Anfang wirft einige Fragen auf, das ist gut, denn so will man - ich - wissen, wie es weitergeht.

Sehr schön:
Zitat:
Eine kräftige Friesenmischung, ein Assam, der mit reichlich Zucker und einem ordentlichen Schuss Rum die Gewissheit zurückholt, dass die Seefahrt Lebensglück bedeutet.

 Daumen hoch

Liebe Grüße
Bananenfischin


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

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I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
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Susanne2
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Beitrag21.10.2010 13:05

von Susanne2
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Hallo Inko,

die Szenerie hast Du gut beschrieben. Man spürt die Kälte, das Warten auf das Unwetter und auf Lissis ...? Wer ist Lissi? Ist sie die im Titel erwähnte Leuchtturmwärterin?

Erst an dieser Stelle wird es interessant, macht mich neugierig, was da kommen wird.

Ich würde vielleicht einen etwas lebendigeren Einstieg nehmen, zum Beispiel ein angeberisches Gespräch der noblen "Herren", die sich dann wieder verziehen und Harmsen allein und frierend zurück lassen ... Erst Radau, dann die folgende Ruhe mit seinen Gefühlen und Gedanken.

Wenn es sich bei Lissi wirklich um die Leuchtturmwärterin handeln sollte - verrätst Du eventuell schon zuviel mit dem Titel?

Ich warte mal auf die Fortsetzung. Smile
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Nina
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Beiträge: 5000
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Beitrag21.10.2010 13:19
Re: Die Leuchtturmwärterin
von Nina
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Inkognito hat Folgendes geschrieben:
Die Leuchtturmwärterin

In seinem Ölzeug (sagt man das so? Ölzeug? Klingt für mich nicht gut, allerdings kenne ich mich nicht genug aus, um ein anderes Wort anbieten zu können. Gibt es Alternativen? Zeug klingt nicht gut). steht Harmsen an Deck und hält sich an der Tür zur Kommandobrücke fest. Den Südwester hat er tief ins Gesicht gezogen gegen den Wind und den peitschenden Regen. Ein Blitz erhellt die schwarze Nacht. Meer und Himmel sind seit Stunden nicht voneinander zu trennen. Heute brechen alle Wetter zugleich auf ihn (natürlich ist klar, worauf sich das "ihn" bezieht. Dennoch finde ich den Übergang von einem zum nächsten Satz hier nicht so gelungen.) ein. Die meterhohen Wellen schlagen über die Planken und an die Bordwände. (hier würde ich die Artikel weglassen [Geschmackssache]: Meterhohe Wellen schlagen über Planken und an Bordwände).

Harmsens Lippen schmecken salzig. Sein Gesicht, sein ganzer Körper, alles ist (ist wie aufgeweicht / fühlt sich an, wie / als wäre er aufgeweicht) aufgeweicht. Und (verzichtbares "und") er friert. Schon lange hat er nicht mehr so gefroren wie jetzt. Er zittert. Warum hat er sich nur darauf (worauf? - würde ich ausführen) eingelassen, er könnte sich (dafür) ohrfeigen.

Er sieht hinunter auf das Vordeck. (er er ... Vielleicht: Als er hinunter aufs Vordeck sieht, stehen sie da: die feinen Herren) Da stehen sie, die feinen Herren. Haben für heute (für heute ... hm...) Schlips und Kragen gegen Gummistiefel und Regenjacken getauscht. Und (kein schöner Satzanfang ... warum kein Komma?) wollen jetzt den harten Mann markieren (sehr altertümliche Formulierung, das mit dem harten Mann ...) und ihren Gattinnen (auch. Vielleicht soll es ja so sein. Gattinnen klingt irgendwie gestelzt auf mich...) daheim den Fang des Jahres präsentieren. Wie albern, denkt Harmsen.

Auf der Brücke wartet Sergej, seine rechte Hand hier an Bord. Heinrich, der dritte im Bunde, ist an Land geblieben. Ihr spinnt, hat Heinrich gesagt, bei dem, was sich da aus Westen (aus Westen?) zusammenbraut. Lebensmüde seid ihr, hat er auch noch (auch oder noch - beides zusammen finde ich zuviel) gesagt und ist von Bord gegangen.

Ihr halbes Leben schon fahren die Drei auf See hinaus, spüren den letzten Fischgründen nach, die ihnen nach all den Fangquoten geblieben sind. Und hin und wieder geben sie ihr Schiff her für Typen (sprachlich passt für mich dieses "gestelzte" Gattinnen und hier das "Typen" nicht zusammen) wie diese da unten. Hinein ins große Abenteuer, raus aufs Meer für zwei oder drei Tage und Nächte. Einmal im Leben den Launen der Natur ausgesetzt sein und dann mit stolz geschwellter Brust den Freunden an Land einen Fünfzehn-Kilo-Kabeljau präsentieren oder womöglich (könnte stärker verbunden sein, als mit einem womöglich) einen Katzenhai. Wie lächerlich das ist (klang, klingt) für einen, der täglich hier draußen ist. Hier draußen mit all der Nässe, der Kälte. Der Einsamkeit.
Oft genug ist die Nordsee kabbelig (? kabbelig heißt da, wo ich herkomme etwas wie: rauflustig, kampflustig. Was bedeutet es hier?). Doch so wild wie heute war sie noch nie.

Sergej gibt ihm ein Zeichen, er deutet auf einen Becher, aus dem Dampf aufsteigt. Harmsen soll rein kommen. (Er bittet Harmsen in seine Kajüte oder sowas in der Art).  Er freut sich auf Sergejs heißen Tee. Eine kräftige Friesenmischung, ein Assam, der mit reichlich Zucker und einem ordentlichen Schuss Rum die Gewissheit zurückholt, dass die Seefahrt Lebensglück bedeutet.
Doch noch kann Harmsen seinen Platz nicht verlassen, noch muss er ausharren, bis er zu Gesicht bekommt, worauf er seit einer halben Stunde wartet. Ob sie daran gedacht hat? Ob sie es sich wieder (wieder ist nicht so schön, finde ich) trauen wird, seine Lissi? Wieder klatscht (hm.) ihm die tosende See ins Gesicht. Und der sonor wiederkehrende Schein des letzten Leuchtfeuers in der schwarzen Ferne winkt durch die Nacht.

(wird fortgesetzt)


Hallo,

habe mal ein paar Anmerkungen im Text gemacht. Ich finde, dass die Geschichte insgesamt inhaltlich nicht uninteressant ist. Aber irgendwas stimmt daran für mich nicht, ohne dass ich genau sagen kann, was es ist. Vielleicht ist es tatsächlich das Präsens, ich bin nicht ganz sicher. Einige Formulierungen und Übergänge sind noch nicht ganz gelungen. Insgesamt dennoch ein interessanter Ansatz.

LG
Nina


_________________
Liebe tut der Seele gut.
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MT
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Beitrag21.10.2010 13:38

von MT
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@ banane:
Vielen Dank für die Blumen. Klar wird fortgesetzt. Schön, wenn´s Dir gefällt.

@ susanne2
Besten Dank auch Dir. Das mit dem Anfang könnte stimmen. Doch es macht vermutlich Sinn, erst einmal den gesamten Text (es sind insg. 4 Teile) zu sehen, um dort tiefer einzusteigen. Ich schau später danach noch mal, ja?

Zitat:
Wenn es sich bei Lissi wirklich um die Leuchtturmwärterin handeln sollte - verrätst Du eventuell schon zuviel mit dem Titel?
Glaub ich ehrlich gesagt nicht. Du fragst Dich das bereits, und ich meine, das genügt schon. Oder?

Zitat:
Ich warte mal auf die Fortsetzung.
Toll, das freut mich. Ich danke Dir.

@ Nina
Und auch ein dickes Dankeschön an Dich, Nina. Du hast ja schon richtig am Text gearbeitet. Super, vielen Dank. Aber lass mich auf Details bitte am Ende zurück kommen, wenn der Text vollständig steht; dann klärt sich möglicherweise auch das Eine oder Andere schon von selbst.  Daumen hoch

I.
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Gast







Beitrag21.10.2010 14:03

von Gast
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Hallo inko,


stimme auch für die Fortsetzung, möchte aber noch nicht kommentieren.

anja
gespannt
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MT
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Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 15:52

von MT
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@ Lorraine

Zitat:
stimme auch für die Fortsetzung, möchte aber noch nicht kommentieren.
Ja, bestens, warte noch ein wenig mit dem Kommentieren.

Zitat:
anja
gespannt
Na, da fragt man sich doch glatt, wie das genau ausschaut. Very Happy Danke Dir!

I.
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Gast







Beitrag21.10.2010 16:02

von Gast
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genau so:





 Twisted Evil
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MT
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Beiträge: 1090
Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 16:48

von MT
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Lorraine hat Folgendes geschrieben:
genau so:





 Twisted Evil
Eher entspannt (aber spannende Aufnahme!).

Liebe Grüße

I.


_________________
Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.

Siegfried Lenz
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MT
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Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 18:18

von MT
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***

„Danke“, sagt sie und nimmt den Teebecher, den Heinrich ihr hinhält. Sie sitzt am Fenster und sieht hinaus auf das Meer, das ruhig da liegt, wie eine riesige, glitzernde Metallplatte. Vor einem wolkenlosen Herbsthimmel kreisen ein paar Möwen. Am Horizont steht ein dunkler Fleck; ein Containerriese vielleicht.
Sie hat die Kerze in der Fensterbank entzündet, wie jedes Jahr an diesem Tag. Aufrecht steht die Flamme am Docht und bewegt sich kaum. Im Kachelofen knackt ein Holzscheit.
Heinrich hat sich auf das Sofa gesetzt, das hinter ihrem Platz am Fenster steht. Sie hat es gehört an den nachgebenden Federn und an Heinrichs Stöhnen. Er stöhnt immer so, wenn er es sich am Nachmittag bei ihr gemütlich macht. Es beruhigt sie, dieses Stöhnen. Dann weiß sie, er ist da für sie.
Lissi nimmt einen Schluck aus der Tasse. Tee mit viel Zucker und etwas Rum. Heinrich weiß, wie er ihr eine Freude bereiten kann. Langsam legt sie den Kopf an die Lehne und lächelt.
Es wird früh dunkel auf der Insel. Es ist gerade einmal kurz nach fünfzehn Uhr, und draußen dämmert es bereits. Ganz normal, denkt sie. Anfang November.
Sie spürt Heinrichs Blick im Rücken. Das tut ihr gut, auch wenn sie weiß, dass es egoistisch ist. Heinrich ist ihr bester Freund, ihr längster. Und vielleicht der einzige, der ihr geblieben ist über all die vielen Jahre. Fünfundsechzig wird er in ein paar Wochen, dann hat er wieder aufgeschlossen zu ihr. Er wird ein Fest geben. Im Schleusenwärter, drüben in Wittdün. Sie freut sich schon darauf und hat ihm versprochen, einen Pflaumenkuchen zu backen. Den kann sie am besten, für ihren Pflaumenkuchen ist Lissi auf der Insel bekannt.
„Siehst Du es?“, fragt er leise.
„Ja“, sagt sie und schließt die Augen.
„Es muss erst dämmern, sonst erkennt man es nicht gut.“
„Hmhm“, macht sie und sieht hinter ihren verschlossenen Lidern das Leuchtfeuer vorüberziehen.
Die Uhr an der Wand tickt. Irgendwann schlägt sie viertel nach. Lissi rollen Tränen über das Gesicht, sie möchte nicht, dass Heinrich es mitbekommt. Doch als sie die Augen öffnet, sieht sie das Taschentuch neben sich auf der Sessellehne liegen. Im selben Moment hört sie das leise Knarren der Wohnzimmertür, die Heinrich beim Hinausgehen sacht hinter sich ins Schloss zieht. Sie hat gar nicht mitbekommen, dass er aufgestanden ist.
Lissi wischt sich mit dem Stoff die Wangen trocken. Ihren Tee hat sie ausgetrunken. Sie nimmt den Becher und steht auf. Sie weiß, er ist in der Küche und wartet. Er wartet, bis die Wellen bei ihr abgeklungen sind, die Wellen der Erinnerung, von denen er genau sagen kann, wann sie kommen und wann sie gehen. Es gibt keinen liebevolleren Menschen als ihn in ihrem Leben. Was wäre nur aus ihr geworden, wenn er nicht da gewesen wäre die vergangenen dreißig Jahren?
„Geht schon wieder“, sagt sie und stellt sich neben ihn an die weiße Küchenzeile. Heinrich lächelt sanft, dreht sich zu ihr und hält für einen kleinen Augenblick ihre Wange. Dann nimmt er seine Hand zurück.
„Na, dann will ich mal wieder“, sagt er, und betont diesen Satz, wie er ihn jeden Tag betont. Da soll eine Beruhigung mitschwingen, eine Zuversicht auf ein nächstes Mal. Auf das Morgen.
Plötzlich dreht Lissi sich um und umarmt ihn, gräbt sich tief ein in seine Schulter. Sie spürt seine Arme auf ihrem Rücken, fest drückt er Lissi an sich.
„Danke“, flüstert sie, und er streichelt ihr graues Haar.

***

Sergej stößt die Tür auf. „Jetzt komm endlich rein. Willst Du Dir hier draußen den Tod holen, oder was?“
„Ein paar Minuten noch. Ich komme gleich. Wirklich.“
„Du bist ein oller Sturkopp, Fred Harmsen! Weißt Du das? Du wirst es auch von drinnen sehen können.“
Das Schiff gerät in Schieflage. Die Wellen müssen meterhoch sein, aber in der Dunkelheit kann man kaum etwas erkennen. Der Sturm fegt nur so über sie hinweg. Er spielt mit dem Schiff wie mit Herbstlaub.
„Ich bin gleich da. Versprochen!“ Mit beiden Händen hält Harmsen sich an der Wand der Kommandobrücke fest. Kopfschüttelnd zieht Sergej die Tür zu.
Die vier Spinner da unten verharren noch immer. Zwei von ihnen haben aber ihre Ruten reingeholt. Ist ihnen wohl doch zu heikel geworden.
„Hey“, schreit Harmsen herunter. „Sie müssen hochkommen!“
„Warum?“, fragt der eine.
„Wenn der Sturm weiter zunimmt, können wir froh sein, wenn wir heile nach Hause kommen. Fangen werden Sie bei diesem Wellengang sowieso nichts mehr. Ich bitte Sie, kommen Sie rauf. Wir machen uns allen einen heißen Grog.“
„Aye, aye, Käpt´n“ ruft der Kleinste von ihnen, lacht und dreht sich wieder zu den anderen. Harmsen überlegt, ob er zu ihnen gehen und allen Eine rein hauen sollte. Diese gottverdammten Typen. Er hätte nicht eingehen dürfen auf ihr Angebot. Er hätte ihnen sagen müssen, dass kein Geld der Welt es rechtfertigt, bei solchem Unwetter raus zu fahren. Doch sie haben nur gefragt, wie viel. Und als er keine Antwort gab haben sie die Frage wiederholt und ihm eine Handvoll Tausend-Mark-Scheine hingehalten.
Er hat an die Hochzeit gedacht in ein paar Wochen, an die ganzen Kosten und daran, dass sie schon viele Freunde von der Gästeliste streichen mussten. Ein wunderschönes Brautkleid werden wir Dir kaufen. Das hat er seiner Lissi gesagt. Versprochen hat er es ihr und nicht gewusst, woher er das Geld nehmen soll.
Als Sergej die Tausender gesehen hat, hat er nur genickt, und Heinrich hat das Schiff verlassen.
Harmsen schaut wieder in die schwarze Nacht hinaus. Noch immer dreht das Leuchtfeuer am Ende der Unendlichkeit. Also schön, denkt er und geht rein. Sergej hat Recht. Von drinnen kann er Lissis Zeichen auch sehen. Die Scheiben sind nur wenig beschlagen.
Sie wird es noch schaffen, denkt er. Vielleicht ist ihr irgendetwas dazwischen gekommen. Oder der Chef hat was bemerkt. Sie dürfen das Leuchtfeuer nicht anhalten. Das ist strengstens verboten, und wer es tut, muss mit einer Kündigung rechnen und sogar mit einer Geldstrafe.
Als Harmsen die Tür von innen schließt und ihm die Wärme entgegenschlägt, merkt er erst, wie nass und durchgefroren er ist. Er pustet seinen Atem in die Fäuste.
Immer noch sucht er den schwarzen Himmel nach dem stehenden Leuchtfeuer ab, diesem eindeutigen hellen Fleck in der Nacht, den man nur hier sehen kann, auf Position „L“. So haben sie den Punkt hier draußen genannt, achtzehn Seemeilen vor Amrum, Kurs Nord-Nordwest, und haben sogar die Navigationsdaten dafür festgehalten.
Lissi ist manchmal spät dran und Harmsen weiß, dass er die Hoffnung noch nicht aufgeben muss. Noch nicht.
„Viertel Stunde noch“, sagt er, „Dann fahren wir zurück“. Sergej nickt, die Stirn kraus gezogen.

(wird fortgesetzt)
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The Brain
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Beitrag21.10.2010 18:33

von The Brain
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Hallo Inko,

wunderschön geschrieben! Mit ausdrucksstarken Worten mitten rein gezogen!

Was ich nicht recht verstehe:

Zitat:
Noch immer dreht das Leuchtfeuer am Ende der Unendlichkeit. Also schön, denkt er und geht rein. Sergej hat Recht. Von drinnen kann er Lissis Zeichen auch sehen. Die Scheiben sind nur wenig beschlagen.
Sie wird es noch schaffen, denkt er. Vielleicht ist ihr irgendetwas dazwischen gekommen. Oder der Chef hat was bemerkt. Sie dürfen das Leuchtfeuer nicht anhalten. Das ist strengstens verboten, und wer es tut, muss mit einer Kündigung rechnen und sogar mit einer Geldstrafe.


Wenn man das Leuchtfeuer und dessen Funktion nicht kennt, so wie ich, hängt man hier ein wenig ...

Schade, dass ich schon nach dem zweiten Kapitel das weitere Geschehen ahne/kenne. Freue mich trotzdem auf deine sprachliche Umsetzung!


Liebe Grüße

The Brain
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Gast







Beitrag21.10.2010 18:39

von Gast
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Hallo Unbekannte/r,

wenn ich das sagen darf: Ich bin begeistert! Mir gefällt die Sprache, der Stil und überhaupt alles.  Sicherlich kann man Erbsen finden - wenn man sie sucht.

Zitat:
(wird fortgesetzt)


das hoffe ich doch sehr und ich freue mich darauf.

Liebe Grüße
Monika
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Bananenfischin
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Beitrag21.10.2010 18:44

von Bananenfischin
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Ja, sehr schön.

Der Leser bekommt langsam mehr Ínformationen; jedoch nicht mit dem Holzhammer, so dass er die Schlüsse, welcher er zweifellos zieht, immerhin selbst zieht und gleichzeitig noch genug offen bleibt, um sich nach dem "Wie" und "Warum" zu fragen.

Mit anderen Worten: Mehr bitte.  smile
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Lore
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Code Philomele
Frauenschicksale in einer Großstadt
Beitrag21.10.2010 19:40

von Lore
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Semantische Zusammenhänge müsste ich zwar auch erst erfragen, aber ich gehe einfach bei einem solch beeindruckenden Text davon aus, dass die stimmen werdenm.

Außerdem hasse ich es, wenn Kritiker oder Leser die eigene Story sozusagen nach ihren Bedürfnissen umschreiben wollen.

Diese Geschichte ist Deine und sie ist sehr gut.
Wortwahl und emotionale Zwischenpassagen gleichermaßen gut getroffen und deshalb ist es auch okay, wenn man als Leser das Ende schon ahnt.

Aber was heisst schon Ahnung, bis dahin kan es noch einige wundervolle Sequenzen geben...also...schreib weiter

Lore
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Gast







Beitrag21.10.2010 20:59

von Gast
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Alle guten Dinge sind drei? Es ist spät.... Inko macht's spannend. Gar nicht so einfach, dreissig Jahre Zeitsprung, und alles im Präsens, na ja, die Zeitenfolge ist auch oft mit Fettnäpfchen gepflastert, aber ich kommentiere immernoch nicht ... ich finde, das hier ist gut und sicher geschrieben, routiniert, Heinrich mir graut ...

à Lore: gut zu wissen, dass du deine Geschichten nicht umschreiben lassen willst, geht mir übrigens genauso, ich denke, Kritik sollte konstruktiv sein, sie tut manchmal weh, aber es geht sicher nicht darum, jemand eine ganz andere Story andrehen zu wollen. Selber schreiben, sog i.

Allerdings ist es klasse, wenn man etwas verbessern kann und dann seine eigene Geschichte noch überzeugender findet. So, geht's jetzt endlich weiter, oder müssen wir uns bis morgen gedulden, etwa?

 smile  anja
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derSibirier
Reißwolf
D


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D
Beitrag21.10.2010 21:13

von derSibirier
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Zitat:
(sagt man das so? Ölzeug?


Ja, das ist der explizite Ausdruck für wasserabstossende Kleidung auf See. Für eine Landratte ein seltsames Wort, aber für einen Seemann höchstes Hochdeutsch.

derSibirier grüßt
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MT
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Beitrag21.10.2010 21:42

von MT
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@ ihr alle!

Unglaublich! Habt Dank für soviel Teilnahme an meinem Text. Toll!!

Doch ich sollte erst den Rest posten, bevor ich auf Einzelheiten eingehe. Daher sogleich der Schluss - in einem Guss, auch wenn´s vielleicht etwas mehr ist auf einen Schlag. Embarassed

I.
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MT
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Alter: 52
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Wohnort: Im Süden (Niedersachsens)


Beitrag21.10.2010 21:45

von MT
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***

Nein, das kann nicht sein! Sie fragt noch einmal nach, fordert den Mann am Schalter auf, seine Worte zu wiederholen, als ob sie ein zweites Mal Aussprechen nötig hätten, um wahr zu sein.
Lissis Magen verkrampft. Sie hält sich die Hand vor den Mund, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Um sie herum lachen Menschen, reden miteinander oder laufen scheinbar ziellos umher. Sie alle wollten mit der Fähre übersetzen. Ein paar Touristen mit großen Koffern sind darunter, quengelnde  Kinder, die an Mutters Jackenzipfel hängen. Und über allem ergießt sich ein kalt-weißes Neonlicht, das sich an die grauen Betonwände hängt, und auf den Terrazzoboden fällt. Ein unwirkliches Licht, es schmerzt in den Augen.
Den meisten scheint es nichts auszumachen, dass sie die nächsten Stunden hier verbringen müssen. Ein Typ in einer dunkelgrünen Lederjacke, er mag Mitte zwanzig sein, zieht aus einer Reisetasche eine Bierdose. Es zischt, als er den Verschluss aufreißt. Im Schneidersitz setzt er sich auf den Boden und trinkt. Er erinnert sie an ihren Verlobten. Die gleichen kurzen, schwarzen Haare, der gleiche Dreitagebart.
Der Kerl hat gemerkt, dass sie zu ihm hinüberstarrt, er lächelt ihr zu. Sie dreht sich zur Seite und sieht durch die Glastür hinaus auf die Straße. Dagebüll hängt in einem Berg aus dunklen Wolken. Es regnet seit Stunden. Und es stürmt. Im Radio haben sie heute früh eine Unwetterwarnung durchgegeben. Orkanböen in den nächsten vierundzwanzig Stunden möglich. Kein Wunder, dass irgendwann der Fährverkehr eingestellt wurde. Sie hätte es wissen müssen, wie konnte sie nur so dumm sein, ausgerechnet an einem solchen Tag aufs Festland zu fahren.
Sie schaut zur Uhr. Kurz nach vier. Es ist Nachmittag, und draußen herrscht dunkle Trübnis.
Lissi sackt in die Knie. Die Geräusche um sie herum verschwimmen, ebben ab. Ihr ist, als schwömme sie unter Wasser. Eine Träne rollt aus ihren Augen, eine Mischung aus Traurigkeit und Wut. Wut auf sich selbst. Und darauf, dass sie es nicht schaffen wird, dass sie nicht rechtzeitig auf der Insel sein wird. Sie hat es ihm versprochen, gestern, als sie über Bordfunk für ein paar Minuten Kontakt halten konnten. Mein Stern, hat er gesagt. Und sie hat geweint vor Glück.
Nein, denkt sie sich. Ausgeschlossen! Es darf nicht sein! Und plötzlich erinnert sie sich an den Schlüssel. Sie richtet sich auf, wischt sich die Wangen trocken, zupft ihren Anorak gerade. Dann sieht sie erneut zu dem Typen mit der Lederjacke und geht auf ihn zu.
„Hi, Du siehst aus, wie einer, der ziemlich mutig ist.“
Der Kerl zieht die Augenbrauen hoch. Dann nickt er lächelnd.
„Wolltest Du auch mit der Fähre nach Amrum?“
„Ja“, sagt er. „Mein Chef bringt mich um, wenn ich nicht pünktlich bin.“
„Was machst Du beruflich?“
„Kellner.“
Scheiße, denkt sie. Doch sie fragt weiter, ihr bleibt nichts Anderes.
„Traust Du Dir zu, ein Motorboot zu fahren, Kellner?“
„Bei dem Wetter?“ Er macht große Augen.
„Klar bei dem Wetter! Sonst wärst Du ja nicht mutig.“ Jetzt lächelt auch sie. Er steht auf. Seine Bierdose in der linken Hand.
„Wie viele hast Du davon schon drin?“, fragt sie.
„Zu wenig, fürchte ich.“
„Also, was ist jetzt? Traust Du´s Dir zu?“
„Klar, warum nicht“, sagt er.
„Gut, dann komm! Ich hab´s eilig.“ Sie dreht sich um, geht, vergewissert sich aber, ob er ihr folgt. Er schnappt sich seine Tasche und holt zu ihr auf.
„Hey, Lady, wir klauen doch aber kein Boot, oder?“
„Nein. Wir klauen keins. Wir leihen es nur aus.“
Sofort schlagen ihnen Sturm und Regen ins Gesicht, als sie die Ausgangstür öffnen und auf die Straße treten. Segelmasten klappern, die Brandung peitscht über die Quaimauer. Lissi stemmt sich gegen den Wind, beugt ihren Oberkörper vor beim Gehen. Der Sportboothafen liegt nur drei Minuten entfernt. Sie hält sich ihren Kragen vor den Mund.
Der Schlüssel hängt unter dem Steg mit der Nummer zwei, dort an der Innenseite des vierten Holzpfeilers, der im Meer stakt. Lissi bückt sich, tastet den Pfeiler ab. Die Wellen klatschen ihr ins Gesicht. Sie muss die Augen zukneifen, dreht den Kopf zur Seite und kann kaum atmen.
Er schreit gegen die keifenden Böen an. „Was suchen Sie?“
„Den Schlüssel“, schreit sie zurück.
„Welchen Schlüssel?“
„Na, welchen wohl? Den für unser Taxi natürlich!“
Da, sie hat ihn. Er ist offenbar festgenagelt, sie fühlt den Nagel, der nicht ganz ins Holz eingeschlagen ist. Er ist nach oben gebogen, sie kann ihn zurück biegen und so den Schlüssel lösen.
Als sie ihn in den Händen hält, steht sie auf.
„Da vorn“, sagt sie. „Das erste auf der rechten Seite ist es.“
Bevor sie einsteigen, hält der Typ sie am Arm fest. Sie ist nass bis auf die Knochen.
„Wem gehört das Teil?“
„Einem Freund meines Zukünftigen. Warum?“
„Meinen sie nicht, wir sollten besser umkehren?“
„Nein“, sagt sie und hat schon den ersten Fuß auf der schaukelnden Planke.

***

Vorsichtig löst sie sich aus seinen Armen. Sie steht vor ihm, und wie aus einem Reflex heraus küsst sie ihn plötzlich auf den Mund. Seine Lippen sind trocken und rau, er behält die Augen offen, fragend. Und glücklich, das erkennt sie.
„Bitte geh nicht. Lass mich nicht allein. Nicht heute.“ Lissi weiß, dass er ihre Bitte und den Kuss falsch verstehen könnte, wie einst, vor ein paar Jahren. Doch wenn schon. Was wäre schon dabei? Vielleicht ließe sie es diesmal geschehen.
„Ich werde uns einen Eintopf kochen, mit Bohnen und Speck.“
„Wunderbar“, sagt sie. „Aber vorher…“
„Was, vorher?“, fragt er.
„Heinrich?“ Sie sieht durch den Türspalt die Kerze im Wohnzimmer.
„Ja?“
„Ich…“ Sie zögert. Die Worte liegen wie ein Haufen Sand auf ihrer Zunge. Doch sie will es, sie will es unbedingt. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Heute ist der Tag, da wird sie es schaffen.
„Ich möchte rauf.“ Sie schaut ihm in die Augen, die sie noch immer fragend ansehen.
„Bist Du sicher?“
Wieder führt ihr Blick zur Kerze. Von irgendwoher weht ein Luftzug durchs Haus, die Flamme tanzt vor dem Fenster. Tanzt vor der offenen See dahinter.
„Komm“, sagt sie und zieht ihn sacht mit sich.
Ein klarer, kalter Novembertag empfängt sie, als sie das Haus verlassen. Lissi hat ihre Daunenjacke aus dem Schrank geholt. Dazu trägt sie ihre Lieblingsmütze aus weinrotem Filz, Heinrich hat sie ihr vergangenen Winter geschenkt. Deckel hat er dazu gesagt, und sie beide haben gelacht.
Lissis Schritte werden langsamer, als sie auf dem Holzsteg durch die Dünen gehen. Sie kann das Meer riechen, diese Mischung aus Salz und Tang, aus Watt und Fisch. Heidekraut und Seegras stecken trocken links und rechts des Weges im Sand, sie unterstreichen das Ende der Saison. Die schönste Zeit des Jahres hat auf der Insel begonnen. Ohne Touristen. Das Leben kehrt allmählich zurück.
„Warte“, sagt sie leise und hält Heinrichs Hand. Sie stoppen, und Lissi spürt ihr Herz kräftig in der Brust schlagen, als sie fast davorstehen und sie am Leuchtturm hinaufschaut.
„Wir können umkehren“, sagt Heinrich.
Doch sie schüttelt den Kopf, auch wenn ihr die Beine jetzt schwer sind wie Blei. Weiter, denkt sie. Irgendwann muss Schluss sein. Schluss mit der Vergangenheit. Schluss mit den Vorwürfen.
Eine halbe Stunde ist noch Besuchszeit, sie dürfen hinauf bis zur obersten Plattform, die einmal um den Turm herum führt. Ins Innere des Leuchtenraums aber dürfen sie nicht. Seit Jahren wird das Leuchtfeuer von einem Computer gesteuert, und der Zutritt ist nur dem Wartungspersonal gestattet. Das hat Heinrich ihr erzählt, es ist schon eine Weile her.
Als sie unten die Tür zum Treppenaufgang passieren, riecht sie sofort das Metall, und die Schritte hallen noch wie damals in dem dunklen, schmalen Stahlrohr.
Lissi zittert, ihre Knie sind weich, und die vielen Stufen fallen ihr schwer. Doch zugleich spürt sie die Weite ihrer Lungen, die sie tief durchatmen lässt. Ein Schauer überkommt sie, ein Kribbeln, das ihren gesamten Körper erfüllt und die Härchen auf den Armen aufstellt.
Irgendwann haben sie die zweihundertsiebenundneunzigste Stufe genommen und treten hinaus auf das Balkongitter, beide außer Atem, beide die Hände an der Reling und den Blick über das Meer auf den Horizont gerichtet. In wenigen Stunden werden die Sterne auf der ruhigen See funkeln und man wird glauben, man könnte sie pflücken wie Blumen.
Als Lissi seine Hand in ihre nimmt, sehen sie sich nicht an. Stehen nur da und blicken in die Ferne, die Hand des anderen fest umschlungen. Lange. Ohne eine Bewegung. Ohne ein Wort.
Lissis Körper zittert nicht mehr, ihre Atmung und ihr Herz haben sich beruhigt. Nur das Kribbeln, das ist noch da. Vor allem in ihrem Bauch. Es ist, als wäre sie ein junges Mädchen und ihre Eltern hätten ihr erlaubt, allein mit ihren Freundinnen aufs Festland zu fahren. In die Stadt. In die Disko. Ihr erstes Mal.
Plötzlich dreht sie sich zu Heinrich um und küsst ihn erneut. Wieder auf den Mund, und ihre Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie umarmt ihn, sie klammert sich ganz fest an ihn. Diese vertraute Haut an seinem Hals, diese vertrauten Hände auf ihrem Rücken. Sie spürt sie jetzt ganz anders. Anders als je zuvor. Und sie glaubt, sie darf dies alles jetzt so empfinden. Mit dieser Wärme im Bauch, mit dieser Schwerelosigkeit, die sie so lang schon vermisst. Und mit dieser Wahrhaftigkeit, von der sie geglaubt hat, sie sei Verrat.
Langsam, ganz sanft löst sie sich aus seinen Armen und behält seine Hände doch fest in ihren.
„Uns trifft keine Schuld“, sagt sie.
„Richtig“, sagt er, „Mich nicht. Und Dich auch nicht.“
Sie nickt.
„Und jetzt?“, fragt er. „Was machen wir jetzt?“
„Deinen Eintopf“, antwortet sie. Und behutsam schmiegt sie ihren Kopf an seine Brust.

(Ende)
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The Brain
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Beiträge: 1966
Wohnort: Over the rainbow


Beitrag21.10.2010 23:35

von The Brain
Antworten mit Zitat

Hallo Inko,

das ist eines der besten Stücke, die ich bisher hier lesen durfte! Chapeau!

... und jetzt hab' selbst ich olle Landratte die Sache mit dem Leuchtfeuer begriffen ...

Das ist sprachlich ein Fünfgängemenü vom Allerfeinsten!
Das hier zum Beispiel ...

Zitat:
In wenigen Stunden werden die Sterne auf der ruhigen See funkeln und man wird glauben, man könnte sie pflücken wie Blumen.



Wie du subtil das dramatische Ereignis erzählst, ohne es ein einziges Mal direkt in Worte zu fassen ...
Ganz große Erzählkunst!
Wirklich selten, dass ich derart ins Schwärmen komme!

... und jetzt bin ich mal gespannt, lieber Inko, wer du wirklich bist ...

Gut's Nächtle

Brainie
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