VI. Der freie Vers

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Der freie Vers

Der freie Vers ist seit über hundert Jahren der mit Abstand wichtigste Vers (nicht nur) in der deutschen Literatur. (Auch unser schönes Forum macht hier keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil.) Es gilt, ihn daher genauer anzuschauen.
Und genau dies wollen wir in den folgenden Kapiteln tun. Es soll um Probleme der freien Versdichtung gehen (der freie Vers muss sich im Grunde seit seiner Erfindung ständig und bis in die heutige Zeit heftiger Kritik erwehren), es soll ein Einblick in Geschichte, den Werdegang und die Varianten der freien Versdichtung gegeben werden und zum Abschluss soll eine Einführung „Was macht einen guten freien Vers aus?“ und „Wie komme ich selber zu einem guten Gedicht in freien Vers?“ erarbeitet werden. Alles freilich an einer Menge Beispiele vorgeführt.
Inhaltlich soll das folgendermaßen aussehen:


VI. Der freie Vers

VI. a) Probleme des freien Verses
VI. b) Geschichte und Varianten der freien Versdichtung
VI. c) Was macht ein gutes Gedicht in freien Versen aus?


Was uns aber an Handwerkszeug fehlt, um in die folgenden Kapitel einzusteigen, ist folgendes: Was ist eigentlich ein freier Vers? Dem soll sofort abgeholfen werden:

Freie Vers (oder auch freie Rhythmen) zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder gereimt, noch metrisch festgelegt oder gebunden sind. (Bis auf die Zeilenumbrüche) werden alle Gesetzmäßigkeiten über Bord geworfen, freie Vers können ganz unterschiedliche Längen aufweisen und mit Hebung und Senkung (sofern man hier überhaupt noch davon sprechen möchte) kann frei und wie vom Dichter gewünscht umgegangen werden. Freie Verse brechen mit allem (wie gesagt – bis auf die Zeilenumbrüche), was ein Gedicht über viele Jahrhunderte vorher ausgemacht hat. Anders ausgedrückt: Ein freier Vers folgt keinen Regeln mehr, der freie Vers ist Anarchie

Ohne in das Kapitel „Geschichte und Varianten der freien Versdichtung“ vorgreifen zu wollen, kann gesagt werden, dass der freie Vers vor allem ein Phänomen der Moderne ist. Daher stammen auch die folgenden beiden Beispiele aus dem 20. Jahrhundert. Sie sind mit der oben stehenden Definition zu vergleichen.


Gedicht

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden, Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.

(Quelle: Rolf Dieter Brinkmann. Westwärts 1&2 Gedichte. Rowohlt Verlag 1975)



glauben und gestehen

ich glaube
daß meinem toten großvater anton
und meiner toten großmutter marie
und meiner toten mutter luise
und meinem toten vater viktor
und meinem toten bruder robert
und meinen toten vettern herbert und hans
und meinen toten onkeln und tanten
und meinem toten freund dietrich
und allen toten die ich lebendig gekannt habe
ich niemals irgendwo wieder begegnen werde

und

ich gestehe
daß irgend einem von ihnen
wie sehr ich ihn auch geliebt haben mochte
jemals irgendwo wieder zu begegnen
ich nicht den leisesten wunsch hege

(Quelle: Erst Jandl: http://www.otium-ev.de/start/index.htm)

[Nihil]

Wenn ihr den freien Vers oder Prosagedichte üben wollt, könnt ihr das in unserem Übungsbereich tun:

Lyrik -> Form -> Prosa vs. Lyrik