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VI. b) Geschichte und Varianten des freien Verses

 
 
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jim-knopf
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Beiträge: 3974
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Goldene Feder Lyrik


Beitrag08.06.2010 18:30
VI. b) Geschichte und Varianten des freien Verses
von jim-knopf
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Geschichte und Varianten des freien Verses

Entstehung und Ausbreitung


Die Erfindung des freien Verses im deutschen Sprachraum ist eng mit dem Namen Klopstock verbunden. Genau betrachtet, ist die Geschichte dazu sogar wirklich lustig (Das Lesen lohnt sich also):

Klopstock war derjenige deutsche Dichter, der die sehr formorientierte antike griechische Lyrik in die deutsche Sprache einbrachte. Er ahmte verschiedene Dichter der Antike nach, indem er ihre festgelegten Muster, wie ein Gedicht formal auszusehen hatte, übernahm. Bekannt sind hierbei vor allem antike Odenstrophen, aber auch beispielsweise die Elegie.
(http://www.dsfo.de/fo/viewtopic.php?t=19314)

Auch den bekanntesten und größten aller antiken Dichter, Pindar mit Namen, versuchte Klopstock nachzuahmen.  Auf Pindar geht die pindarische Ode zurück, die extrem kompliziert nach immer demselben formalen Muster aufgebaut ist. Die Ode ist so kompliziert, dass sie damals im ausklingenden 18. Jahrhundert noch nicht entschlüsselt war, das bedeutet, man kannte einfach das Muster nicht, nach welchem antike pindarische Oden aufgebaut waren. Vielmehr gingen Klopstock und seine Zeitgenossen davon aus, Pindars Oden seien eine frühe Form der freien Versdichtung. Sie glaubten, Pindar wäre in seinen Dichtungen gar keinen formalen Vorgaben gefolgt.

Und Klopstock erfand, indem er augenscheinlich Pindars Oden nachahmte, aus einem Fehler heraus den freien Vers. Die ersten deutschsprachigen Texte im freien Vers hörten sich in etwa folgendermaßen an:


Nicht in den Ocean
Der Welten alle
Will ich mich stürzen!
Nicht schweben, wo die ersten Erschafnen,
Wo die Jubelchöre der Söhne des Lichts
Anbeten, tief anbeten
Und in Entzückung vergehn!

Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur, will ich schweben,
Und anbeten!
Halleluja! Halleluja!
Auch der Tropfen am Eimer
Rann aus der Hand des Allmächtigen

Da aus der Hand des Allmächtigen
Die grösseren Erden quollen,
Da die Ströme des Lichts
Rauschten, und Orionen wurden;
Da rann der Tropfen
Aus der Hand des Allmächtigen
[…]


(Quelle: Friedrich Gottlieb Klopstock. Aus: Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart. dtv Verlag. München 2007)



Klopstock löste zu dieser Zeit einen wahren Boom aus. Die bekanntesten seiner Nachfolger waren Goethe, Schiller und Hölderlin. Man denke dabei nur an Goethes Prometheus. Seit diesem Zeitpunkt ist der freie Vers aus der deutschsprachigen Lyrik nicht mehr wegzudenken. Zwar gab es auch für ihn Zeiten, in denen er eher weniger gebraucht wurde (die Romantiker beispielsweise schrieben wenig in freien Versen), verdrängt allerdings wurde er nie ganz. Was letztlich dazu geführt hat, dass der freie Vers heute auf dem Zenit seiner Ausbreitung steht. Der weitaus größte Teil der heute geschriebenen Lyrik ist in freien Versen verfasst

 
Varianten

Dass der freie Vers im Laufe der folgenden Jahrhunderte sehr unterschiedliche Formen annahm, ist nur selbstverständlich. Unzählige Lyriker experimentierten damit herum und entwickelten oft eigene,  charakteristische Formen, deren Aufzählung hier jeglichen Rahmen sprengen würde. Wir können uns hier nur unterschiedliche Herangehensweisen einiger ausgesuchter Lyriker ansehen und ihre Stile miteinander vergleichen. Interessant ist am Ende immer der Vergleich mit dem Erfinder Klopstock, wie weit sich der freie Vers doch von seiner ursprünglichen Gestalt wegbewegt hat. Wir konzentrieren uns hierbei auf das 20. und 21. Jahrhundert, da hier die Formenvielfalt weitaus am größten ist.  

Brecht wurde mehrfach schon genannt in vorangegangen Kapiteln. Beispieltexte von ihm finden sich dort auch in Hülle und Fülle, sodass hier auf ein Beispiel verzichtet werden soll. Nichtsdestotrotz ist Brecht vermutlich der wichtigste in freien Versen schreibende Dichter des 20. Jahrhundert.

Celan ist wohl der wichtigste Vertreter der sogenannten Hermetik. Seine Gedichte waren meist sehr bildreich und dadurch schwer zugänglich, verschlossen (hermetisch) und dadurch für den Leser kaum zu durchschauen. Die Hermetiker legen wenig wert auf eine bestimmte Deutungsebene ihres Textes, sondern geben dem Leser eher einen Denkansatz in Form eines Gedichts zur Hand, indem man selbst herumspinnen kann und soll. Ein Beispiel:


Keine Sandkunst mehr, kein Sandbuch, keine Meister

Nichts erwürfelt. Wieviel
Summe?
Siebenzehn.

Deine Frage – deine Antwort.
Dein Gesang, was weiß er?

Tiefimschnee,
Iefimnee,
I – i – e.

(Quelle: Hartung, H. (Hg.): Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert. Ditzingen. 2007)



An Celans Text sieht man, dass auch formungebundene Lyrik sich nicht an grammatikalische oder andere formalen Regeln halten muss. Es gilt – wie eigentlich immer – in der Lyrik: Man kann tun, was man will. Man muss nur wissen, warum man es tut. Ich glaube, Hilde Domin hat das einmal gesagt. Auch wenn sich über den zweiten Satz auch vortrefflich streiten lässt.   

Der folgende Text ist von Georg Trakl. Ihm sieht man (im Gegensatz zu Gedichten von Brecht und Celan) die Ähnlichkeit zu den Ursprüngen des freien Verses schon sehr viel eher an.


An den Knaben Elis

Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft,
Dieses ist dein Untergang.
Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells.
 
Laß, wenn deine Stirne leise blutet
Uralte Legenden
Und dunkle Deutung des Vogelflugs.
 
Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht,
Die voll purpurner Trauben hängt,
Und du regst die Arme schöner im Blau.
 
Ein Dornenbusch tönt,
Wo deine mondenen Augen sind.
O, wie lange bist, Elis, du verstorben.
 
Dein Leib ist eine Hyazinthe,
In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht.
Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen,
 
Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt
Und langsam die schweren Lider senkt.
Auf deine Schlafen tropft schwarzer Tau,
 
Das letzte Gold verfallener Sterne


(Quelle: Georg Trakl. Das dichterische Werk. dtv Verlag. München. 2008)



Weil es hier nicht nur um deutschsprachige Lyrik gehen soll, ein Text des Amerikaners Charles Bukowski, der ganz sicher auch seine eigene, ganz individuelle Nische innerhalb der freien Versdichtung gefunden hat:


Das Fenster

Während

die Glut deiner Zigarette
dir
deine Hand verbrennt

streiten sich Katzen
tritt der unbarmherzige Mond  hervor
schließen die Kneipen
fahren Ehebrecher heim
zu belogenen Frauen
wird die Schlampe von nebenan
wieder verdroschen
nehmen sich einsame Menschen
in tapetenlosen Zimmern das Leben
erschießen Verrückte wieder Unschuldige.

Und dir ist es egal
weil auch du
im System gefangen bist
und nur einen Ausweg hast
für den du zu feige bist.


(Quelle: http://www.charles-bukowski.de/forum/cgi-bin/YaBB.pl?board=21&action=display&num=358)



Bevor wir uns einem Lyriker zuwenden, der schon das 21. Jahrhundert verkörpert, vielleicht ein paar Namen, die mit dem freien Vers in Verbindung gebracht werden (freilich mit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit):
Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholski, Erich Fried, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Hans Magnus Enzensberger, Rolf Dieter Brinkmann, …Wer Lust hat, mal reinzulesen, …

Der folgende Text von dem eher unbekannten Dichter Christophe Fricker. So kann aktuelle Lyrik in freien Versen aussehen. Freilich kann man auch hier im Forum ein wenig durch den Lyrikbereich klicken. Man wird rasch fündig werden.


Sieh in den beinernen Himmel
am höchsten Mittag,

er hat den Morgen und den Abend
an die Seiten verwiesen,

und sag mir, ob der schlanke Vogel
ohne Federn, ohne Augen

nicht ein Stein ist,
der seit Tagen fliegt.

(Quelle: Christophe Fricke, In: Lyrik von jetzt. Zwei. Berlin. 2008)


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