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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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19.01.2010 14:17 Winter-Marie I von MosesBob
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Winter-Marie I
Ich habe andere Mädchen als dich lächeln sehen,
und ihr Lächeln wirkte steif und aufgesetzt,
wie eine Wunde,
die man ihnen ins Gesicht geschnitten hat.
Es gab auch welche,
die gar nicht lächelten.
Deines jedoch wirkt aufrichtig,
warm und lebendig,
weil du deine Augen
daran teilhaben lässt.
Deine Augen ...
Sie haben die Farbe der Kastanien,
die ich damals als Kind
vom Schulhof gesammelt habe,
um sie dem Bauern zu bringen,
der mir jedes Mal fünf Mark
für einen Eimer gab.
Von dem Geld habe ich mir Süßigkeiten gekauft
oder versucht, ein Spielzeug
aus dem Kaugummiautomaten zu ziehen,
der an der Backsteinwand des Bäckers
kleine Kinder lockte,
wenn sie ihr Taschengeld bekommen haben.
Deine Stirn und deine Wangen
sind etwas kühler als gewohnt,
aber das liegt daran,
dass wir das Fenster offen gelassen haben,
um den Winter nicht auszusperren.
Deine Haut hat die Farbe des Mondes,
wusstest du das?
Selbst jetzt, am helllichten Tag,
scheint sie weiß und silber
und gibt mir das Gefühl,
etwas Kostbares zu berühren,
dessen Wert alles übersteigt,
was dieser Planet an Edelsteinen
in seinen Höhlen und Minen
vor uns verbirgt.
Habe ich dir von den Windspielen erzählt,
die von den Apfelbäumen in meinem Garten hängen?
Pling ... pling
Wenn die Röhren aneinanderschlagen,
spielen sie ihre Melodien beliebig,
und jeder Ton klingt so zart und zerbrechlich
wie deine Stimme,
bevor ich in dein Leben trat.
Was würde ich darum geben,
deine Stimme noch einmal
aus deinem Mund zu hören?
Sie dringt aus den Lautsprechern auf dem Nachttisch
und hat uns die ganze Nacht begleitet,
glockenhell in Endlosschleife,
Fetzen unserer Telefongespräche,
die ich mitgeschnitten habe,
als du noch nicht ahntest,
was in mir vorgeht,
was in mir schläft,
und wogegen ich nichts tun kann,
wenn es aus mir hervorbricht.
Das letzte, was ich von deiner Stimme hörte,
war das Knacken deines Kehlkopfs unter meinen Daumen.
Die Stille danach war abrupt.
Ich habe mich über dich gebeugt
und deine Lider so lange aufgehalten,
bis der letzte Glanz aus deinen Augen
verschwunden war.
Es hat lange gedauert, sehr lange,
Stunden,
in denen ich dem kleinen Jungen dabei zusah,
wie er Kastanien vom Boden sammelt,
um sein Taschengeld aufzubessern.
Den Rest des Tages verbrachte ich
in deinem Mondschein
und war beeindruckt,
dass das bleiche Rosa deiner Lippen
tatsächlich lächelte.
Armes, verwirrtes Mädchen.
Pass auf, wen du liebst.
Weitere Werke von MosesBob:
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
(Sir Peter Ustinov)
Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
(Laotse) |
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Münsch Eselsohr
Beiträge: 415 Wohnort: Berlin
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19.01.2010 16:20
von Münsch
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Sodele,
habs gerade gelesen und bin sehr angetan.
Wundervoll dieser langsame übergang vom sehr zarten Liebesgedicht, dass aber - im Nachhinein betrachtet - schon einen Hauch vom Wahnsinn zeigt: Zitat: | ihr Lächeln wirkte steif und aufgesetzt,
wie eine Wunde,
die man ihnen ins Gesicht geschnitten hat. |
Dann diese Erinnerung an die Kindheit. Solche Szenen können oft so dermaßen aufgesetzt, beinahe peinlich wirken, hier aber nicht.
Langsam begreift man, dass das hier gar nicht so romantisch ist:
Zitat: | Deine Stirn und deine Wangen
sind etwas kühler als gewohnt,
aber das liegt daran,
dass wir das Fenster offen gelassen haben,
um den Winter nicht auszusperren. |
und
Zitat: | jeder Ton klingt so zart und zerbrechlich
wie deine Stimme,
bevor ich in dein Leben trat. |
Und dann kommts knüppeldick. Schön der Rückbezug auf die Kindheit:
Zitat: | Stunden,
in denen ich dem kleinen Jungen dabei zusah,
wie er Kastanien vom Boden sammelt,
um sein Taschengeld aufzubessern. |
Der Schluss:
Zitat: | Armes, verwirrtes Mädchen.
Pass auf, wen du liebst. |
Klasse!
Ich sags mal ganz neutral:
Coole Scheiße!
Gruß von Münsch
_________________ Nobody expects the Spanish Inquisition!
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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19.01.2010 16:58
von MosesBob
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Münsch hat Folgendes geschrieben: | Ich sags mal ganz neutral:
Coole Scheiße! |
Das hat hier noch nie jemand zu mir gesagt. Dankeschön.
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
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(Laotse) |
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Münsch Eselsohr
Beiträge: 415 Wohnort: Berlin
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19.01.2010 17:01
von Münsch
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Zitat: | Das hat hier noch nie jemand zu mir gesagt. |
Bitterböses Versäumnis.
Ich bin froh und stolz, dass ich die erste sein durfte!
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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22.01.2010 14:36
von Jocelyn
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Martin, ich finde es sprachlich wunderbar zu lesen!
Aber es bleibt dann so irgendetwas stecken, in Kehlkopfnähe...
Die so schöne Sprache führt in den Abgrund.
Deine inneren Fantasien sind vielleicht stark ausschlagende Pendel, oder so.
Ich bleibe leider etwas verstört als Leserin zurück, auch wenn ich es gerne las.
Aber so hast du auch Eindruck hinterlassen.
Jocelyn
_________________ If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)
"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire) |
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18344
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22.01.2010 15:29
von MosesBob
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Jocelyn hat Folgendes geschrieben: | Deine inneren Fantasien sind vielleicht stark ausschlagende Pendel, oder so. |
Die Pendel schlagen tatsächlich weit aus. Zwischen tick und tack vergehen manchmal Stunden.
Danke fürs Lesen und Kommentieren!
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
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Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
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Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
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Jocelyn Bernsteinzimmer
Alter: 59 Beiträge: 2251 Wohnort: Königstein im Taunus
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22.01.2010 17:18
von Jocelyn
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MosesBob hat Folgendes geschrieben: |
Die Pendel schlagen tatsächlich weit aus. Zwischen tick und tack vergehen manchmal Stunden.
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Jahre, Mobo.
Jahre liegen zwischen den Kastanien im Eimer des kleinen Jungen und den ihren Glanz verlierenden Augen von Marie.
Wenn dein Thriller fertig wird, dann muss ich den auch lesen. Du hast für dieses Genre Talent.
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(Jim Croce)
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