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Die Physiognomie und Konservierung der Coleoptera

 
 
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag24.12.2009 18:05
Die Physiognomie und Konservierung der Coleoptera
von Alogius
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

„Du musst dir helfen lassen, Mika. So geht es nicht weiter.“
„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Schau dich an. Wie du dich fürchtest. Du versteckst dich sogar vor deiner Sammlung, erzählst von Lügen auf der Arbeit, wohin soll das führen?“
„Ich will so nicht leben, Ruth.“
„Ich auch nicht.“


Die Physiognomie und Konservierung der Coleoptera


Mika verließ jeden Tag um 16 Uhr 13 seinen Platz. Die Umschläge für die obere Etage sortierte er bis zur letzten Minute in die vorgesehenen Fächer. Manchmal, wenn er sehr müde war, schienen sich die Ablagen vor seinen Augen zu verschieben. Mit langsamen Bewegungen wankten sie nach links und rechts, und Mika musste auf einen festen Punkt schauen, um das Ziel zu treffen. An diesen Tagen glaubte er immer, die Arbeit niemals beenden zu können. Schon morgens, um 7 Uhr 19, konnte er die Schwierigkeiten der kommenden Stunden erahnen, wenn die Pforte zum Hof höher war als an anderen Tagen. Wie eine Mauer, die nur zum Selbstzweck errichtet worden war, schien das Tor sich über den Angestellten zu erheben. Keiner der anderen war davon beunruhigt, aber Mika sah die Zeichen eines unüberwindbaren Tages. Die große Uhr über dem Haupteingang stand dann still, und getrieben von seiner Angst musste er auf seine Armbanduhr schauen, damit er pünktlich um 7 Uhr 29 seinen Schemel in der Poststelle der großen Versicherungsgesellschaft erreichte, für die er seit vielen Jahren arbeitete.
Jetzt, um 16 Uhr 10, stellte er fest, dass heute nicht so ein Tag war. Er würde daheim ohne weitere Probleme die Tür öffnen können, den schmalen Flur betreten und den Freitag ausklingen lassen. Die letzten Umschläge warfen sich beinahe von allein in ihre Fächer, und während die anderen Mitarbeiter bereits über das Wochenende sprachen, atmete Mika erleichtert aus. Doktor Blockenberg hatte ihm versprochen, dass die entsprechende Ruhe und Ausgeglichenheit seine Tage verbessern würden. So war es auch. Nur noch drei Umschläge, dann wäre er bald in Sicherheit.
 
Der Bahnhof war überfüllt. Koffer und Taschen schlugen gegen dürre Beine, die bald unter der eigenen Last zerbrachen. Ansagen aus den Lautsprechern kletterten durch das Gewirr aus Stimmen, bis sie darin vergingen und kein Wort mehr zu verstehen war. An das Flüstern der Fremden konnte Mika sich kaum gewöhnen. Wie sollte er sie nicht beachten, wenn sie ohne Unterlass plapperten? Vorsichtig, in drei Mäntel gehüllt, schlich er vorbei an den verschiedenen Gruppen. Einige scharrten mit ihren Flügeln, wenn sie ungeduldig auf die Bahn warteten. Wieder andere klopften mit den Scheren gegen die Gleise, als würden sie das Eintreffen des Zuges damit beschleunigen können. Ein großer Fremder, dessen Bauch sich bald dreimal um die Hüften schnürte, versperrte den Kleinen den Weg, damit sie sich nicht aus Leidenschaft auf die Schienen warfen. An den freien Tagen war die Jugend ganz aufgewühlt von den Möglichkeiten der Welt, dass sie sich die Not der späteren Jahre vermutlich kaum vorstellen konnten.
Mika erreichte das Abteil um 16 Uhr 23. Die Sicherheit, die ihm seine Uhr gab, wusste er in jeder Minute zu schätzen. Er blickte einige Augenblicke auf den Sekundenzeiger. Danach wagte er es, auf den Bahnsteig zu schauen, die einsteigenden Leute mit einem Nicken zu begrüßen, für Koffer Platz zu schaffen und die Fahrt ohne beunruhigende Ereignisse auf sich zu nehmen. Janosch wartete sicher schon, und am Abend wollte Mika bereit sein, da dann das Telefon läuten würde. Der Doktor war ein Verbündeter, jedoch kein Freund. Wer ihn aber anrief, konnte nur ein Freund sein, denn bisher waren alle Erklärungen einleuchtend gewesen.

Das erste Mal hatte es am 13. März geläutet. Janosch war aufgeschreckt und hatte sich hinter den Schreibtisch verkrochen. Mika hatte an einen Anruf des Doktors geglaubt. Doch die weibliche Stimme am anderen Ende einer rauschenden Leitung hatte eher den Eindruck eines Versehens entstehen lassen. Wer hätte ihn sprechen wollen?
Es war 17 Uhr 10, als der Schlüssel sich dreimal drehte und Mika vorsichtig die Tür öffnete, damit Janosch nicht auf die Straße rennen würde. Um 17 Uhr 11 konnte Mika zufrieden feststellen, die größten Schwierigkeiten des Tages gemeistert zu haben. Eine Minute danach war Janosch beinahe satt. Mika konnte sich nicht erinnern, wie er an die Katze gekommen war. Am 8. März um 19 Uhr 17 war ihm das neue Haustier aufgefallen. Doktor Blockenberg hatte ihn gelobt, weil ein Haustier feste Regeln und Zeitpunkte benötigte – etwas, das auch ihm helfen würde. Also hatte er beschlossen, Janosch zu behalten. Es war ein gegenseitiges Einvernehmen. Die Katze half ihm, seinen festen Tagesablauf zu verfeinern. Als Gegenleistung hatte sie einen Schlafplatz und regelmäßige Nahrung.
Seit beide sich gefunden hatten, konnte Mika fast furchtlos das Haus verlassen, doch in den Keller ging er nie. Bahnhöfe und Orte mit vielen Menschen führten dazu, dass sich Fremde in seine Gedanken legten. Fahrgäste, Reisende und Angestellte bekamen dann Flügel, aus Mänteln wurden braune Panzerungen, und stachelförmige Fühler stießen hinter Brillen liegende Augen durch das Glas.
Der Doktor beruhigte ihn immer wieder und erklärte, dass Menschen sich nicht in Insekten verwandelten, aber Ruths Warnungen und Erklärungen schienen ihm wesentlich schlüssiger. Schon der erste Anruf, als sie um einen Schlafplatz gebeten hatte, damit sie ihm helfen könnte, seine Aufgabe zu erfüllen, hatte ihn aufwachen lassen. Die Fremden hatten einen Plan. Er war ein Teil davon. Nur er würde sie aufhalten können, indem er seine Position in der Versicherungsgesellschaft behielt. Pünktlichkeit und Disziplin waren dazu notwendig. Seinen Rivalen musste er beseitigen – das war der erste Auftrag, und er würde ihn erfüllen. Für Ruth und die Welt. Bereits nach einigen Tagen waren die Anrufe und der anschließende Besuch zur angenehmen Gewohnheit geworden, auch wenn noch viel Arbeit vor ihm lag, wie Ruth stets erwähnte. Die Geheimnisse und Verschwörungen in den oberen Etagen hingen mit den Plänen der Fremden zusammen. Es war kaum zu glauben, wie sie sich in den Büros, Geschäften und Straßen bewegten, ohne von der Polizei und den Behörden behelligt zu werden. Ihre Spitzel besetzten offensichtlich die höchsten Positionen in allen wichtigen Ämtern. Es gab für Mika und Ruth keine andere Erklärung.
In den kommenden Stunden widmete sich Mika seinem Buch. Ruth hatte ihm empfohlen, die Anatomie der Fremden zu studieren. Ja, man musste den Feind kennen. Es hatte ihn nicht überrascht, dass der Titel ‚Professor Murnaus Analyse zur Physiognomie und Konservierung der Coleoptera‘ nur noch in Antikbuchhandlungen angeboten wurde. Die Fremden hatten sich auf alles vorbereitet, aber dabei vergessen, dass Einheimische erfindungsreich waren, wenn es um die Sicherung von kulturellen Gütern ging. In den folgenden Wochen hatte er jeden Tag in dem Buch gelesen, Notizen und Zeichnungen angefertigt und dabei beinahe die Anrufe vergessen. Wenn es klingelte, wartete er sogar einige Sekunden, bevor er den Hörer abnahm. Nicht weil er es nicht beachten wollte, sondern weil die Müdigkeit durch die schwierige Lektüre seinen Kopf und die Glieder schwer werden ließ. Die Schwierigkeiten auf der Arbeit waren der Preis, den er zahlte, um die Welt zu retten.

Das Läuten des Telefons war ein verabredeter Auslöser geworden, um die Gegenpläne zu erörtern.  Er bekam sein Zeichen, Abend für Abend, regelmäßig um 23 Uhr 17. Er schenkte ihm kaum noch Beachtung. Öfter lag er schon im Bett und sah, wenn es sich meldete, nicht einmal auf. Die Lektüre war wieder anspruchsvoll und machte umso zuverlässiger müde.
So verstand er auch am 12. April das Telefonläuten als Mahnung, das Licht zu löschen. Da läutete es ein drittes Mal. Vielleicht wäre er nicht aufgeschreckt, doch die Katze sprang augenblicklich von Ruths Bett und verkroch sich unter ihm. Die Bewegung suggerierte so zweifellos das Eintreten einer fremden Gegenwart, dass er sich aufrichtete und lauschte. „Ist jemand da?“, fragte er halblaut.
Ruth fürchtete sich vor dem Licht. Ihre Augen sahen in der Dunkelheit besser. Jeden Abend hatte sie ihn gewarnt, dass die Fremden sie verfolgten und sie vorsichtig sein müsste. War es nun geschehen?
Es läutete ein viertes und fünftes Mal. Keine Antwort im Zimmer. Mika hörte, wie Janosch fauchte, als die Tür leise knarrte. Das Telefon läutete immer noch. Wie lange konnte Ruth warten? Was, wenn man sie wirklich gefunden hatte? Die Agenten der Fremden lauerten überall. Sie konnten Gedanken lesen, durch Wände gehen und sogar die Körper der unschuldigen Menschen steuern. Deshalb hüllte Mika seinen Leib in drei dicke Mäntel, die er mit Draht umwickelte. Sogar daheim trug er diese Kleidung und auf dem Kopf einen Hut, den er innen mit feuchten Tüchern ausstaffiert hatte.
„Ich weiß, dass ihr hier seid“, sagte er nun etwas lauter, als er das Buch auf den Nachtschrank legte.
Keine Antwort. Das Läuten schien in immer kürzeren Abständen zu erfolgen. Ruth war sicher in Gefahr, genau wie er. Janosch gab keinen Laut mehr von sich. Unter dem flehenden Lärm des Telefons konnte Mika noch das Rascheln der Bettdecke hören. Seine Augen konnten sich nie an das Dunkel gewöhnen. Umrisse und Schatten sah er, doch es war ihm unmöglich, sie zu einem Ganzen zu formen. Das Rascheln verstummte, aber das Telefon nicht.
„Zeigen Sie sich, tun sie etwas!“, forderte er.
Nichts geschah. Der unbekannte Eindringling machte sich nicht bemerkbar. Langsam hob Mika seinen Arm und taste die Wand nach dem Lichtschalter ab. Den Zeigefinger legte er darauf, dann wartete er noch einen Augenblick. Niemand antwortete. Das Telefon läutete in die Dunkelheit, die er mit einem leichten Druck endlich vertrieb. Er blinzelte und nahm die Konturen seines Zimmers wieder wahr. Es war kein Fremder zu sehen. Janosch kroch langsam wieder hervor und rieb seinen Kopf an Mikas Bein, um beide zu beruhigen. Schnell fuhr der Arm an den Hörer.
„Ruth?“, fragte er leise.
„Was ist geschehen?“, erwiderte sie.
„Haben sie dich gefunden?“
„Nein. Wieso hat es so lange gedauert?“, fragte Ruth.
„Das erkläre ich dir. Kommst du jetzt?“
„Ja.“
Janosch kroch unter den Schreibtisch. Mika löschte das Licht. Aus dem Hörer rauschte es. Mit dem Strom kam sie in sein Zimmer. Die Bettdecke warf sich zur Seite, und Ruths Umrisse kletterten hinein.
„Bitte, komm her“, flüsterte sie.
Mika legte sich neben sie. Ihre weiche Haut war ganz warm. Er zog die Beine an und ließ sich von ihr umarmen. Wenn sie das tat, verschwanden alle Sorgen für eine Weile.
„Du bist ganz kalt. Was ist passiert?“, fragte Ruth.
„Ich glaube, ein Agent war hier. Im Zimmer. Er hat nicht geantwortet. Aber er ist fort“, erklärte er.
„Dann dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Die Fremden wollen alle Menschen verwandeln. Wenn ihre Spitzel dich gefunden haben, dann werden sie auch bald mich finden“, sagte sie.
Ihre zarten Finger fuhren über seine Stirn.
„Was muss ich tun?“, fragte er.
„Erst am Montag kannst du handeln, wenn Wissmuth im Büro ist. Du musst ihn ausschalten und an seine Akten kommen. Er besitzt alle Aufzeichnungen über die Fremden. Ihre Verstecke, ihre Vorgehensweisen, Namen. Ich habe dir erzählt, dass die Gesellschaft von den Fremden bezahlt wird, sie zu decken. Seltsame Todesfälle, Leute, die verschwinden. Als Unfälle werden sie angegeben“, sagte sie.
Wissmuth war sein Rivale. Von Anfang an waren sie Konkurrenten in der Poststelle gewesen. Irgendwann, nachdem Ruth ihm alles erklärt hatte, war ihm klar geworden, wie die Verschwörung funktionierte und dass Wissmuth ein Teil davon war.
„Was geschieht dann?“
„Dann werden wir den Widerstand informieren und zum großen Schlag ausholen. Wenn du Wissmuth erledigt hast, musst du das Gebäude zerstören. Es darf keine Spuren geben“, erklärte Ruth.
„Ich verstehe. Ich will, dass alles vorbei ist. Wir müssen die Menschheit beschützen.“
Ruth umarmte ihn fester.
„Ich glaube an dich. Aber bis alles getan ist, können wir uns nicht mehr treffen. Das verstehst du, oder?“, fragte sie.
Mika seufzte. Sie war seine einzige Vertraute. Blockenberg konnte er nicht davon erzählen. Vielleicht war der Doktor, so hilfsbereit er auch zu sein schien, ein Spitzel.
„Ich habe dich noch nie gesehen. Es ist immer dunkel, wenn du zu mir kommst. Bitte zeig dich nur einmal, bevor du gehst. Ich will dir etwas sagen.“
„Was möchtest du mir sagen, Mika?“
Er lehnte sich an ihren Körper.
„Ich glaube, ich liebe dich“, flüsterte er.
Ruth küsste mit weichen Lippen seine Stirn. Mika fühlte eine unendliche Geborgenheit. Obwohl sie Teil des Widerstandes und damit eine lebende Erinnerung an die Fremden war, spürte er in ihrer Gegenwart die Tage der Jugend, das unbeschwerte Leben, als die Fremden noch nicht in die Welt gekommen waren.
„Ich liebe dich auch, Mika.“
Beide sagten danach kein Wort. Minuten lagen sie eng umschlungen unter der Decke. Die Furcht verschwand, und kein schlechter Gedanke wurde gedacht oder ausgesprochen.
„Der Anführer des Widerstandes erwartet dich im Dom“, flüsterte sie irgendwann.
„Wer ist es?“, fragte Mika.
„Kannst du dir das nicht denken? Du hast sein Buch gelesen“, sagte sie.
„Murnau. Er führt den Widerstand?“
„Seine Forschungen zeigten uns viele Schwachstellen des Feindes. Ja, er ist unser Anführer. Er wird mit unserer Hilfe die Welt befreien. Murnau setzt große Stücke auf dich“, antwortete sie.
Die Last war noch größer geworden, denn Murnau wollte er nicht enttäuschen. Die Aufzeichnungen des Professors über den dreigliedrigen Körper der Fremden, ihre Deckflügel und Lebensweisen waren in der Tat eine große Hilfe. Manche der Fremden nutzten die besonderen Eigenschaften ihrer Chitinpanzer, ihre Umgebung zu spiegeln oder sich gar selbst zu verändern, um wie Menschen zu wirken. Aber wenn man genau hinsah, wurde die Täuschung offenbar.
„Ich werde es schaffen. Treffe ich dich bei ihm?“, fragte er.
„Ja, ich werde dort sein. Aber nun musst du etwas tun. Kannst du dich irgendwo verstecken, falls die Agenten dich erneut aufsuchen wollen?“
Wo sollte er sich verstecken? Er hatte keine Familie. Ruth war seine einzige Freundin. Der Buchladen war ein paar Tage nach Mikas Einkauf natürlich auf Geheiß der Behörden geschlossen worden – es gab keine Unterkunft.
„Ich weiß es nicht“, sagte er.
Ruth schwieg und schien zu überlegen. Für einen kurzen Moment sah er ihre Augen, die in vielen Farben blinzelten. Dann wurde es wieder schwarz.
„Es gibt ein altes Kino in der Nähe der Versicherung, kennst du es? Der Betreiber ist ein alter Bekannter, der auf unserer Seite steht. Versteck dich dort bis Montag“, sagte sie.
„Ich weiß, wo das ist. Aber wenn etwas geschieht, wie erreiche ich dich oder den Anführer?“
„Du kannst im Dom eine Nachricht hinterlassen, im Beichtstuhl. Der Widerstand ist größer als du denkst“, antwortete Ruth.
„So werde ich es machen.“
Ruth antwortete nicht, gab ihm noch einen Kuss, dann erhob sie sich langsam, stieg hinaus und kletterte durch die Ohrmuschel des Telefons in das Rauschen zurück.
Mika griff zum Kissen und drückte sein Gesicht hinein. Er musste allen Mut sammeln, einen klaren Kopf behalten und alles in die Wege leiten. Er stand auf und ließ den Hörer auflegen.
Obwohl von der Helligkeit nach dem Einschalten des Lichtes geblendet, stellte er Janosch eilig einen zweiten gefüllten Napf in die Ecke des Zimmers. Er wusste, er würde nicht zurückkehren. Die Nachbarn oder gar Agenten würden seine Katze finden, sobald sie die Tür aufgebrochen hätten. Von Verwandlungen der Haustiere hatte er noch nicht gehört, weshalb Janosch in Sicherheit war. Aus dem Schrank in der Küche nahm er einen kleinen Kanister und Zündhölzer, die er im Flur in eine Tasche stopfte. Das Buch des Professors ließ er auf dem Nachtschrank liegen. In den Keller ging er auch heute nicht.

Vor dem Haus glühten die Laternen. Das Licht spiegelte sich in kleinen Pfützen, denn seit Anfang April regnete es beinahe jede Nacht. Wenige Spaziergänger verschwanden in den Straßen. Jeder konnte ein Agent oder ein getarnter Fremder sein. Aber als Mitglied des Widerstandes kannte Mika alle Schleichwege, um möglichst unbehelligt zu bleiben. Am Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause fuhr, konnte er die offenen Wege nicht meiden, aber in der Dunkelheit schlichen alle Menschen herum – er fiel weniger auf. Manchmal fragte er sich, ob die unschuldigen Leute eine Ahnung von der Bedrohung hatten. Doch wenn er an die Vertuschungen durch die Behörden und die eigene Arbeitsstelle dachte, ging er davon aus, dass nur Eingeweihte die schreckliche Wahrheit kannten. Die Welt stand am Abgrund, und er war nun der Schlüssel, den Untergang abzuwenden. Ohne Ruth hätte er nie erfahren, dass hinter dem Mantel der Alltäglichkeit all diese Dinge geschahen. Er war ihr dankbar für die ihm zugeteilte Rolle. Er würde sie und auch den Professor nicht enttäuschen.
Das Kino war kaum besucht. Der Besitzer, ein alter Mann, nickte ihm zu.
„Ich darf Ihnen Grüße von Ruth ausrichten. Ob ich wohl bis Montag hier bleiben dürfte?“, fragte Mika vorsichtig.
„Widerstand“, flüsterte der Mann und hob beide Arme über den Kopf. Das war das Zeichen, das jeder Eingeweihte kannte. Mika erwiderte die Geste mit einigen Problemen, denn der Kanister Benzin war schwerer als er aussah. Der Mann führte ihn in einen leeren Kinosaal und deutete auf eine der Bänke.
„Es ist nicht sehr komfortabel, aber hier sind Sie sicher, mein Freund“, sagte er.
„Danke. Wirklich nur bis Montag“, antwortete Mika.
Das väterliche Lächeln beruhigte ihn.
„Keine Sorge. Am besten schlafen Sie jetzt“, sagte der Mann und ließ ihn allein.
Mika stellte die Tasche neben die Bank. Er lag um 23 Uhr 58 auf dem Rücken und schlief endlich ein. An seine Träume erinnerte er sich beinahe nie. Doch als er um 1 Uhr 12 an ein weites Meer dachte, die Wellen geteilt durch den Rumpf einer riesigen Galeone, erwachte er und traute seinen Augen nicht.
„Hier sind Sie also“, sagte Doktor Blockenberg, der neben ihm auf der Bank saß.
Sofort griff Mikas Hand zur Tasche. Sie war noch dort.
„Was machen Sie hier? Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte er entsetzt.
„Ach, wissen Sie“, erklärte der sich verwandelnde Doktor, „wir finden jeden, den wir suchen. Es liegt in der Natur verborgen. Instinkt, verstehen Sie?“
Mika sprang auf. Der Kittel seines Arztes schob sich nach oben, und breite Flügel stülpten sich hervor. Seine Augen fielen wie Obst auf den Teppich. Dahinter krochen Stiele hervor, die langsam die Umgebung abtasteten. Blockenberg öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber aus dem Unterkiefer brachen die Mundwerkzeuge hervor, die in Murnaus Buch so treffend als scharfkantige Waffen beschrieben wurden.
Bevor stachelbesetzte Arme nach Mika greifen konnten, schnappte er sich die Tasche und schlug sie gegen den braun glänzenden Schädel des Doktors. Der stürzte von der Wucht getroffen nach hinten, und Mika rannte schreiend hinaus. Den Saal verlassen, lief er zum Eingang des Kinos. Zwei Fremde beugten sich über den alten Mann.
„Lasst ihn nicht entkommen“, schallte Blockenbergs Stimme bis zum Ausgang.
Die Fremden klapperten mit den Mundwerkzeugen und stürzten auf Mika zu, der hilfesuchend zum alten Mann blickte.
„Verschwinden Sie, ich bin verloren!“, schrie er, während eine wurmförmige Larve in seine geöffnete Brust kroch.
Mika wusste, dass jedes weitere Zögern auch sein Ende wäre. Mit der Tasche unter dem Arm rannte er auf die Straße. Einer der Fremden musste beim Mann geblieben sein; der andere verfolgte ihn. Wenn er in eine Gasse einbog, stieg der Fremde in die Höhe und folgte ihm im Flug. Fand er ein Versteck in einem Hinterhof, umkreiste er ihn – jedoch griff er ihn kein einziges Mal an. Sein Atem ging immer schneller, und bald würde ihm die Luft ausgehen. Wahrscheinlich wollte der Fremde ihn in die Arme einer ganzen Gruppe treiben. Vor den Augen aller Feinde würden sie ihn sterben lassen. Ein weiterer tragischer Unfall, hieß es dann in den Akten Wissmuths. Mika schloss die Augen. Er dachte an Ruth, wie sie ihm Mut gemacht hatte, ihn eingeweiht hatte in die Vorgänge. Es durfte nicht so enden. Er atmete aus und trat in die Mitte einer Straße. Doch wohin er auch blickte, sein Verfolger war nicht mehr zu sehen. Ob er ihn verloren hatte?
Im Kino gab es keinen Platz mehr für ihn. Erst am Montag würden ihn die Verbündeten im Dom erwarten. Er musste eine Nachricht dort hinterlassen. Wenn man sie noch vor morgen lesen würde, könnte man ihm neue Anweisungen geben. Er beschloss, nicht länger als ein paar Stunden auf eine Antwort zu warten. Der Feind hatte ihn entdeckt, und er durfte ihm keine Zeit geben, die Akten Wissmuths zu sichern. Würde Murnau nicht antworten, müsste Mika handeln, ins Gebäude eindringen und die Akten stehlen.

Die Türme des Doms warfen einen Schatten auf das Licht in den Pfützen. Mika schob einen schweren Riegel zur Seite, während der andere Arm die Tasche wie einen Schatz umklammerte. Doch bevor er eintrat, hörte er leises Gerede.
„Er wird gleich eine Nachricht hinterlassen.“
„Hat Blockenberg ihn entkommen lassen?“
„Ja.“
„Ausgezeichnet.“
Stille. Hatten sie etwa den Riegel gehört? Woher wussten sie von der Nachricht und von Blockenberg? Nur Ruth und Murnau kannten die Pläne. Es gab Verrat in den eigenen Reihen. So sehr er auch wollte, er war kaum in der Lage, sich zu bewegen. Wenn der Feind von allen Plänen wusste, dann war das ganze Unternehmen gescheitert. Es musste Spione im Widerstand geben, die Murnaus Absichten an die Fremden verkauften. Nachdem er seine Gedanken sortiert hatte, konnte er endlich in die Tasche greifen. Er war überrascht, wie flink und schnell er eines der Zündhölzer fassen konnte.
„Hinein, gehen Sie hinein.“
Die Stimme des Kinobesitzers. Mika drehte sich um. Ein alter Borkenkäfer drängte ihn in den Kirchensaal. „Sie auch“, flüsterte er. „Die Verwandlung ist nicht aufzuhalten“, erklärte der Käfer.
Fassungslos lief Mika in die Mitte des Doms. Oben neben der Kanzel stützten die schweren Beine eines riesigen Mistkäfers am Altar einen fetten, glänzenden Leib. Das Kerzenlicht, gespiegelt von den bunten Kirchenfenstern, wurde als matter Schein auf den Panzer geworfen. Der Mistkäfer rückte eine Lesebrille zurecht und warf seinen Blick auf einen Nachtfalter, der über dem Altar in einem Kronleuchter hing.
„Was für eine Freude, Sie zu sehen. Es ist natürlich kein Zufall, dass wir uns hier treffen“, erklärte der Mistkäfer. Seine Mandibeln scharrten mit den gesprochenen Worten.
„Es ist alles eine Falle. Bringen wir es hinter uns“, sagte Mika, der keinen Grund mehr sah, sich zu fürchten. Offensichtlich hatte er es mit den Anführern der Verschwörer zu tun.
„Aber, aber. Wir wollen Sie gar nicht umbringen. Wir werden Sie verwandeln, und dann können Sie Wissmuths Platz einnehmen. Immerhin haben Sie doch mein Buch studiert. Wer, wenn nicht Sie, könnte besser als Verbindungsoffizier dienen?“, fragte der Anführer.
„Murnau. Sie sind Murnau. Alles ist eine Lüge!“, schrie Mika und lief weiter auf den Mistkäfer zu. Der alte Borkenkäfer folgte ihm.
„Siehst du, Mika, wir mussten einen Weg finden, dich langsam zu überzeugen und vorzubereiten“, sagte der Falter. Er hatte Ruths Stimme.
„Du? Das bist du? Ich liebte dich“, sagte Mika.
„Und ich liebe dich auch. Mit mir an deiner Seite werden dir die Aufgabe und deine Verwandlung leichter fallen. Bitte, sei nicht enttäuscht. Erinnere dich an unsere gemeinsamen Stunden. Wir wollen einen Richtungswechsel. Die Menschen müssen erkennen, dass die Umwandlung aller Verhältnisse ihre einzige Rettung ist“, sagte der Nachtfalter.
Wie konnte ausgerechnet sie ihn belügen?
„Wie lange bist du schon verwandelt?“, fragte er.
„Seit ich dich das erste Mal angerufen habe.“
Mika glaubte nicht mehr an sie. Ruth war eine Lüge. Alles eine Lüge. Die Menschheit war von Anfang an verloren, und man hatte ihn benutzt.
„Treten Sie näher. Wir werden nun beginnen“, sagte Murnau.
Der alte Käfer trieb ihn bis zum Altar. Er ließ es sich gefallen. So leicht würde er es ihnen jedoch nicht machen. Er wirbelte herum und traf den überraschten Borkenkäfer am Kopf. Das dumpfe Geräusch des auftreffenden Kanisters schallte durch den Dom. Bevor der Nachtfalter, der sich vom Kronleuchter gelöst hatte, ihn erreichen konnte, hielt Mika den Kanister in der Hand. Das Zündholz streifte eine Kirchenbank und brannte.
„Keinen Schritt!“, schrie er.
„Warten Sie, Ruth“, sagte Murnau. Der Nachtfalter hielt inne und flatterte auf der Stelle.
„Wenn Sie auch siegen, ich nehme Sie alle mit“, drohte Mika.
„Bitte beruhigen Sie sich. Wir haben Ihnen ein geregeltes Leben geschenkt. Janosch ist Ihnen ein treuer Begleiter geworden. Ihre Arbeitsstelle ist gesichert. Wollen Sie denn wirklich alles aufgeben, nur weil sie die Verwandlungen ohnehin nicht aufhalten können? Ihr Leben ist sicher und in Ordnung. Werfen Sie es nicht weg“, sagte Murnau.
„Es war nie unsicherer!“
Mika warf den Kanister auf den Körper Murnaus. Der Falter wollte dazwischen gehen, aber war zu langsam. Das Benzin verschüttete sich zwischen Mika und den Feinden. Der alte Käfer berührte gerade seine Schultern, doch Mika warf das Zündholz auf den Boden. Schnell stand er selbst in Flammen. Das Feuer fraß sich durch die Bänke, und ein krächzender Schrei des Falters ertönte, als aus dem Mistkäfer kochende Säfte flossen. Ruths Flügel brannten. Sie fiel zu Boden. Der Geruch verglühender Insektenhaut und brühender Körper erfüllte den ganzen Saal. Mika sah noch, wie der alte Käfer das Weite suchte.
„Mika“, krächzte Ruth.
Er näherte sich der Sterbenden und legte sich in ihre ausgebreiteten Arme. Der Dom würde bald über sie einstürzen. Er hatte nichts erreicht, aber leben wollte er nicht mehr.
„Ich liebe dich“, sagte er um 1 Uhr 49.

Seine Augen mussten sich an die Helligkeit gewöhnen. Wie lange er sie geschlossen hatte, wusste er nicht. Wo war seine Uhr?
„Wie spät ist es?“, fragte er leise.
Sein ganzer Körper schmerzte.
„Es ist 23 Uhr 17“, sagte ein Mann.
„Ruth, ich muss mit Ruth sprechen“, antwortete Mika.
Dann hörte er wieder den Mann, wie er mit anderen sprach.
„Ja, er wurde vor einigen Tagen gefunden.“
„An der Kirche?“
„Ja. Mit einem leeren Kanister in der Hand. Nachbarn haben ihn erkannt. Seit Tagen ist er nicht bei der Arbeit erschienen. Sein Kollege ist zu ihm nach Hause gefahren. Schauen Sie, wie er sich den Bauch hält. Als wäre er verletzt.“
„Was ist passiert? Sie haben da eine mächtige Beule.“
„Er hat um sich geschlagen. Er hat einige Menschen angegriffen und immer wieder eine Frau namens Ruth verlangt. Er sammelt Käfer und Schmetterlinge. Wenn wir ihn an eine vertraute Tätigkeit erinnern können, wird er uns vielleicht sagen können, wer Ruth ist. Seine Nachbarn haben zwar eine Frau erwähnt, aber ihren Namen kennen sie nicht. Seit Monaten ist er aber allein. Seinen Arzt, einen Doktor Blockenberg, haben wir verständigt“, sagte der Mann.
„Hat man noch etwas gefunden? Vielleicht in seiner Wohnung?“
„Ein Buch, ein paar Zeichnungen. Er hat sich regelrecht versteckt.“
Wer Ruth war und warum er eine tiefe Liebe fühlte, wenn er an den Namen dachte, konnte sich Mika nicht erklären.
Eine Tür öffnete sich irgendwo.
„Herr Doktor, wir haben in seinem Keller etwas gefunden. Konserviert.“



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Aus einem Traum:
Entsetzter Gartenzwerg: Es gibt immer noch ein nullteres Fußballfeld. Wir werden viele Evolutionen verpassen.
Busfahrer: Tröste dich. Mit etwas Glück sehen wir den Tentakel des Yankeespielers, wie er den Ereignishorizont des Schwarzen Loches verlässt.
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EdgarAllanPoe
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Bronzene Harfe Die Goldene Bushaltestelle
Goldene Feder Lyrik


Die Tauben
Beitrag24.12.2009 18:43

von EdgarAllanPoe
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Eine sehr lange, aber nicht langweilige Geschichte, die die zwanghaften Vorstellungen eines psychisch Kranken sehr schön ausleuchtet. Allerdings sind ein paar Dialoge zu hölzern geraten, und auch die Charakteren konnte ich mir in ihrem Äußeren nicht sehr gut vorstellen. Summa summarum: 7 FEDERN.

Eddie


_________________
(...) Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Paul Celan

Life is what happens while you are busy making other plans.
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Uns gefällt Ihr Sound nicht. Gitarrengruppen sind von gestern. (Aus der Begründung der Plattenfirma Decca, die 1962 die Beatles ablehnte.)
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Hardy-Kern
Kopfloser

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Wohnort: Deutschland


Beitrag26.12.2009 14:29

von Hardy-Kern
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Ich habe beim Lesen regelrecht gemerkt, wie dein Finger zuckte um einige Teile zu setzen. Das Schaukelpferd Phantasie hat dich mal wieder durcheinander gewirbelt und dein Ehrgeiz dir eine gute Fleißarbeit aufgebürdet.

Liest sich gut und der Surrealismus ist doch etwas im Hintergrund geblieben, was der Geschichte augenscheinlich gut tut. Smile
Hoffe nicht, mich im Ingognito zu irren.

Hardy
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femme-fatale233
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Das Bronzene Pfand


Beitrag26.12.2009 17:13

von femme-fatale233
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Shocked

Guten Tag!
Ich wünsche Dir erst mal fröhliche Weihnachten.


Nun ich glaube der Text stammt von EdgarAllanPoe, denn sowas krankes und dennoch genau durchdachtes würde zu ihm - auf Grund der Texte, die ich bereits von ihm gelesen habe - gut passen.

An dieser Stelle muss ich ein ganz großes Lob aussprechen: Diese Geschichte war so spannend wie selten eine vorher, weil man sich die ganze Zeit fragt ob das real ist oder nur im Kopf von Mika passiert, und auch die Pointe fand ich richtig gut.
Die Einbindung der Textpassage ist sehr gelungen, am Anfang hätte ich es fast selber nicht gemerkt, wo der vorgegebene Teil anfängt.
Mir ist aufgefallen, dass mich Mika durch seinen Tagesablauf ein bisschen an Harold Crick aus "Schräger als Fiktion" erinnerte und die Schriften und die Organisation des Widerstands mich an 1984 von George Orwell denken ließen.

Fazit: Sehr guter und vor allem spannender Text.  Shocked

Welche Befederung du erhältst werde ich später entscheiden.

Liebe Grüße,
Caro
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Traumtänzerin
Fähnchen Fieselschreib

Alter: 30
Beiträge: 1178



Beitrag27.12.2009 13:46

von Traumtänzerin
Antworten mit Zitat

Meine Güte, was für ein Text. Blink Ausgezeichneter Stil. Hat mir ausgesprochen gut gefallen, werde mir aber - bevor ich es bewerte - auch noch die anderen Texte durchlesen.

LG,
Traumtänzerin


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Title sponsored by Boro, (c) by Alogius
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Es genügt nicht, keine Meinung zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.
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Eine spitze Zunge ist in manchen Ländern schon unerlaubter Waffenbesitz.
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Dem wird befohlen, der sich selbst nicht gehorchen kann. (Nietzsche)
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Inquisition war in der frühen Neuzeit der ganz große Burner.
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Estelle
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen

Alter: 57
Beiträge: 44
Wohnort: Berlin


Beitrag27.12.2009 14:09

von Estelle
Antworten mit Zitat

Der vorgegeben Text ist makellos in die Geschichte gefügt, als würde er dazu gehören.

Diese Story ist sehr lang und beim ersten Lesen habe ich im Mittelteil einiges nur überflogen.
Da ich angekündigt hatte, zu allen Texten etwas zu schreiben, habe ich die Geschichte komplett gelesen. Hatte jedoch mehrmals das Gefühl Aussagen wiederholen sich.
Auch wenn es nicht mein Genre und die Idee im doppelten Sinn nicht neu ist, hast du mich gefesselt.
Da ich nun weiß, dass Coleoptera die Gattung der Käfer bezeichnet erklärt sich mir der Titel.

Verstanden habe ich die Story so: Mika ist schizophren lebt in zwei Identifikationen. Er triftet immer mehr in seine Schizophrenie, glaubt an eine imaginäre Weltverschwörung und will helfen, die Menschheit (Klima) zu retten.
Den Schluss verstehe ich so: Er hat seine im wahren Leben Ehefrau Ruth im Keller konserviert?
Allerdings habe ich das erst verstanden, nachdem ich noch einmal von vorn angefangen habe und mir dann die Einleitung klar wurde.  

Im Gespräch am Ende über Mika würde ich zwischendrin noch einen Satz einbringen, indem Mika etwas sagt, damit er in das Gespräch eingebunden ist oder er sagt nichts, denkt nur den Satz „Wie spät ist es?“ und ist ebenso Zuhörer, wie der Leser, der nun alles erfährt.

7 Punkte

LG Estelle
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Gast







Beitrag27.12.2009 20:06

von Gast
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Hallo liebe(r) Unbekannte(r),

hier bin ich hin- und hergerissen. Sprachlich ist das absolut klasse, da gibt's überhaupt nichts zu meckern. Rein gar nix. Hmpf...  Laughing Die Textvorgabe ist so gut eingebunden, dass ich sie beim ersten Lesen nicht mal als "Ach, das ist der Teil, der eingefügt werden musste!" identifiziert habe - ich musste tatsächlich nachprüfen, ob die zu zitierende Stelle wirklich vorkommt - also ist auch das sehr gut gelungen. Inhaltlich funktioniert es auf jeden Fall, den Leser in Mikas Denken zu ziehen, was natürlich auch eine gute Sache ist.

Jetzt kommt allerdings das Aber: Ich weiß einfach nicht wirklich, was mir dieser Text sagen will. Was soll das alles mit den Käfern, warum ist diese Ruth plötzlich ein Falter, was soll dieses ganze Verschwörungszeugs? Hat Mika irgendwann eine Ruth umgebracht und ist darüber verrückt geworden? Oder ist er einfach so psychisch krank, ohne jemanden umgebracht zu haben? Wahnvorstellungen und Kontrollmacke (Uhrzeiten) - wieso weshalb warum? Oder vielleicht sogar versteckte Gesellschaftskritik, die ich nicht kapiere? Ich habe (und das betone ich ja nicht zum ersten Mal) immer ganz wenig Lust, mir den Sinn eines Textes mühsam zu erschließen, das mochte ich in der Schule schon nicht. wink Irgendwie reißt mich das einfach nicht so mit, weiß nicht warum. Wenn mir eine zunächst "normal" erscheinende Geschichte erzählt wird, die auch tiefere Deutungsebenen zulässt, dann bin ich gerne bereit, detailliert darüber nachzudenken. Hier fehlt mir aber einfach schon die erste, realistische Bedeutungsebene. Mag an mir liegen, andere finden das sicher gut oder sind gleich beim ersten Mal lesen schlauer als ich - aber meine Art von Literatur ist das einfach nicht. Dreimal gelesen, und ich rätsle immer noch... *seufz*

Wow, ganz schön langer Text, um zu rechtfertigen, warum ich hier trotz stilistischer Perfektion von der Höchstfederzahl ein paar Federn abzwacke. wink

LG

Soraya
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Jocelyn
Bernsteinzimmer

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Beitrag27.12.2009 20:08

von Jocelyn
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Liebe(r) Autor(in) von Die Physiognomie und Konservierung der Coleoptera!

Titel:
So schräg, dass er schon wieder gut ist, aber als Buchtitel würde ich wohl denken: Was'n das für'n Scheiß? -, und dann den Klappentext lesen....
7 Punkte

Idee:
Ausgefallen, also schon mal gut!
9 Punkte

Einbindung der Vorgabe:
Gut gemacht.
8 Punkte

Rechtschreibung und Grammatik:
Nichts Negatives bemerkt.
9 Punkte

Unterhaltung:
Der Mittelteil hat mich als Leserin geradezu gequält. Das hat keinen Spaß gemacht, alles so verworren, so schwer zu verstehen. Hätte ich es nicht lesen müssen, um es zu beurteilen, dann hätte ich aufgehört.
2 Punkte

Spannung:
Da die Entwicklung so schwer zu verstehen war, war es auch nicht spannend. Sondern anstrengend.
2 Punkte

Stil:
Sehr hohes Niveau! Toll!
9 Punkte

Ende:
Gelungen, überraschend, besonders die Leiche im Keller.
9 Punkte

Durchschnittspunktzahl: 7


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If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)

Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire)
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BlueNote
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Beitrag27.12.2009 21:55

von BlueNote
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Phantastisch geschrieben - für mich jedoch uninteressant.

BN
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Jocelyn
Bernsteinzimmer

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Das Silberne Fahrrad Ei 1



Beitrag28.12.2009 08:51

von Jocelyn
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Leider kann ich meinen Beitrag nicht mehr editieren, was ja hier keinen Sinn macht, nebenbei bemerkt.

Also ich möchte zur Einbindung der Vorgabe (s.o.) noch hinzufügen, dass ich die Idee, die genaue Uhrzeit als Tick des kranken Prota zu verwenden, pfiffig fand.


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(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

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*Gast*
Klammeraffe
*


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*
Beitrag28.12.2009 12:59

von *Gast*
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Hallo,

puh, beim vierten Anlauf bis zum Ende gelesen. Eine seltsame Geschichte, gut in einer Wahnvorstellung geblieben. Nur zu lang dafür, für meinen Geschmack. Der Mittelteil zieht sich sehr lange hin, so dass ich zwischendrin immer merkte, dass meine Konzentration nachließ. Deshalb musste ich immer wieder neu starten.

Bis auf ein paar einzelne Wörter fand ich die Geschichte sehr gut ausgearbeitet und ausgereift. Bei der Länge wirklich eine Leistung. Trotzdem würde ich aus Leserfreundlichkeit nochmal mit der Schere daran gehen.
Der vorgegebene Textabschnitt ist vorbildlich in der Geschichte untergegangen. Was mir das Lesen vielleicht erschwert hat, weil ich diesen Textabschnitt schon beim ersten Lesen nicht unbedingt mochte.

Die Geschichte empfand ich trotz meiner Anlaufschwierigkeiten und der Länge als eine der sehr guten.

Gruß
Sabine
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Biggi
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Wohnort: BY



Beitrag28.12.2009 23:04

von Biggi
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Hi T* (von wem sonst sollte denn diese Geschichte sein?),

der Text ist von ungeschlagener Länge.
Aber er ist auch sauber entwickelt und lebendig geschrieben.

Ein gruseliges Ende, denn es liegt nahe, dass das Fundstück aus dem Keller kein Käfer ist...

Gruß Biggi
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Fao
wie Vendetta

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Beitrag29.12.2009 20:20

von Fao
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Uff, nun hab ich das endlich auch "bewältigt".
Der Titel war schonmal sehr lese-anregend, aber die große Menge Text hat mich doch etwas abgeschreckt (anstrengend mit dem Computerbildschirm, ausdrucken geht leider nicht).

Ich muss sagen, während dem Lesen dachte ich zuerst "wow" und hatte schon 9 Feder im Hinterköpfchen. Sprachlich nichts drann auszusetzen.
Nun kommt aber das negative (das, was einen angeblich weiterbringt..bringen soll...) :

Das ganze ist wie ein Buch, das zu einer Kurzgeschichte kompremiert wurde.
Sehr viel Inhalt für relativ wenig Wörter.
Da wird viel Information auf einmal hingeworfen, die ersteinmal verdaut werden müssen.

Zudem fehlte mir teilweise ein roter Faden, ich war manchmal sehr verwirrt, quasi "wo kommt jetzt der Benzinkanister her...Warum ist jetzt der dort, und eben war doch der noch dort" , manchmal musste ich inne halten und ein kleines Fragezeichen bildete sich. Ab und an kamen Einschübe, die m.M nach nicht reingepasst haben.

Aber ich finde es wahnsinnig toll, aus dieser Vorgabe solch einen Text zu weben.

Auf jedenfall nicht unter 8 Federn, aber ich glaube, nach meinem Bauchgefühl reicht es nicht für 9 Federn.
Ach, ich hoffe du bist mir nicht böse.

Im übrigen habe ich noch nicht alle Texte gelesen, vielleicht ist deiner ja wirklich (m.M nach) der Beste und verdient doch 9 Punkte.
Ach verdammt, es ist "Nur" ein Foren-Wettbewerb..

lg
Fao


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Beitrag30.12.2009 11:12

von Bananenfischin
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Eine schöne Geschichte, noch besser erzählt, der ich dankbar dafür bin, dass ein wirklicher Bogen vom - ich nenne es mal so - Prolog bis zum Ende hin gespannt wird; auch, dass sich vieles klärt, ohne dabei zu arg mit dem Holzhammer präsentiert zu werden.
Abzüge gibt es für mich, weil ich finde, dass das Zitat nicht so gut eingebaut ist. Wenn ich mir die Zeilen davor durchlese, erscheint einiges doppelt gemoppelt. Auch Ruths Eigenschaften erscheinen mir innerhalb des Wahnkonstrukts nicht ganz schlüssig. Klar, es ist ein Wahn, aber auch der folgt ja einer Logik. Und da Ruth als Mensch wahrgenommen wird, ist es für mich unlogisch, dass sie durch den - ähem - Hörer kriecht. Dies scheint mir dann eher ein Hinweis für den Leser zu sein, dass es sich eben nicht um reales Geschehen handelt; es passt für mich aber einfach nicht. Wozu es zuvor unbedingt des Anrufs bedarf, wo Ruth doch auf so "sichere" Art und Weise erscheinen kann, wird auch nicht klar.
Das Thema Versicherungsgesellschaft und Menschen, die sich in Käfer verwandeln, kam mir natürlich auch arg bekannt und mittlerweile schon oft gelesen vor.
Dennoch: Ein Favorit.


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Beitrag30.12.2009 17:20

von hobbes
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Normalerweise höre ich auf zu lesen, wenn Fremde mit Scheren gegen Gleise klopfen. Oder spätestens dann, wenn es darum geht, ob Menschen sich in Insekten verwandeln.
Also, ich hab nicht aufgehört. Wollte nämlich wissen, wie es weitergeht und was nun Realität ist und was nicht (Ha - wer weiß das schon...).

Sehr gut geschrieben, eine runde Geschichte, die zusammen passt und bei der ich über gar nichts gestolpert bin.
Das Ende ist auch gut gelungen. Was hat er nur konserviert? Seine Frau?
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Parabolo
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P
Beitrag31.12.2009 12:02

von Parabolo
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Hi,

die Geschichte um einen Paranoiden, der in eine geschlossene psychiatrische Abteilung gehören würde, hebt sich von der Idee her deutlich von der Konkurrenz ab.
Das offene Ende gefällt mir gut. Entweder hat ihn die Frau laut Eingangsabsatz verlassen oder er hat sie in Essig und Öl eingelegt. Dann hätte der behandelnde Arzt allerdings grob versagt und sollte mit angeklagt werden.
Mit der Länge des Textes habe ich ein Problem. In manchen Passagen sind Dinge in epischer Breite erzählt, die nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Postsortieren, die Verwandlung der Menschen in Insekten, auch die Dialoge und erklärenden Einschübe nur als Beispiele. Gestrafft würde die Geschichte auf mich stärker wirken.
Mit der Emotionsarmut der Sprache, die Richtung Horror/Thriller weist, könnte ich mich anfreunden. Sachlich würde sie zu einem Patienten passen, der unter starken Medikamenten steht. (Widerspricht aber wahrscheinlich der Empfindungstiefe während der Bettszene mit der fiktiven Ruth.)
Alles in allem zwar solide geschrieben, aber für mich zu breit gewalzt.

Gruß, Parabolo
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Nihil
{ }

Moderator
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Beiträge: 6039



Beitrag01.01.2010 20:42

von Nihil
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Das fand ich ziemlich geil. Ich habe die Geschichte schon ein paar Mal wegen des Titels angeklickt, der mein Interesse geweckt hat, aber erst jetzt hatte ich Lust und Zeit, diese längere Geschichte zu lesen. Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Der Vorspann macht neugierig und wirft Fragen auf, die zwar verwirren, aber sich mit dem letzten Satz spätestens geklärt haben. Der Anfang war stellenweise etwas verwirrend, aber nach dem Mittelteil hat mich die Geschichte richtig gepackt.

Es gab außerdem ein paar nette Ideen, die mir gut gefallen haben. So zum Beispiel der simple, aber effektive Trick, viele ungerade Uhrzeiten zu nennen, so wird die komische 23:17 in der Textvorgabe begründet. Und diese Zeitneurose hat sogar seine inhaltliche Berechtigung und Motivation. Überhaupt fand ich den gegebenen Absatz sehr gut und lückenlos in die übrige Geschichte eingefügt. Jedes Detail, die Katze, Ruth, das Zeichen, selbst die schwere Lektüre wurden bereits vorher benannt und wirken deshalb sehr stimmig. Allein die Tatsache mit dem Licht wirkt ein wenig zu sehr nach einer Ausrede. Dass Ruth im Dunkeln besser sehen kann und sich vor dem Licht fürchtet, passt zwar zur Obskurität des Textes, scheint aber nicht wirklich nötig zu sein.

Auch die Metaphorik ist merkwürdig in der wörtlichen Bedeutung. Für meinen Geschmack werden die Bilder aber häufig etwas zu wuchtig und abgefahren, verwirren eher, als dass sie bildhaft erklären. Damit meine ich vor allem die Bahnhofsszene, auf der Mika die verschiedenen Gruppen beobachtet. Ich dachte erst, es handele sich um Tauben und andere Tiere, konnte dann jedoch mit den Scheren nichts anfangen. Die Bilder sind in ihrer Masse und Abstraktion zu viel des Guten. Hier warst du meiner Meinung nach zu sehr in Mika drin, ohne an den Leser zu denken, der sich in seinen Verstand ja erst noch hineindenken muss. Dass die anderen böse Insekten sind, die eine Verschwörung planen, erfährt man ja erst später. Einige Hintergrundinformationen wurden außerdem nicht auf die geschickteste Weise eingeführt. Ruths Dasein sowie "der Plan" werden zu nebensächlich eingeführt. Ich dachte beim Lesen, ich hätte einen wichtigen Absatz verpasst, in dem das näher erklärt würde. Wie schon gesagt, im Nachhinein klärt es sich zwar auf, was aber keine ungenaue Einführung entschuldigt. Wenn man als Leser meint, einen Fehler oder eine Unstimmigkeit gefunden zu haben, schmälert das ja auch bereits das Lesevergnügen.

Wenn man dann aber einmal drin ist, reißt die Geschichte mit. Die Dialoge, die Beschreibungen sowohl von Mikas Gedanken als auch der Handlungen selbst finde ich sehr gelungen. Man denkt sich zwar bereits, dass alles nur ein Wahn ist, aber es ist trotzdem schön, dass Mika dann "in Wirklichkeit" auch Käfer und Schmetterlinge sammelt, die sich dann gegen ihn wenden. Ironisch ist auch, dass die Schmuckstücke aufgereiht hinter einem Glaskasten sicher sind und Mika sich in seiner wahnwitzigen Welt nach Sicherheit sehnt. Ich interpretiere außerdem das Ende (im Hinblick auf den Vorspann) so, dass Mika Ruth umgebracht hat, da sie ja "so nicht mehr leben" kann. Wahrscheinlich hat er sie aus Liebe umgebracht und meinte es auch noch gut, an eine blutlose Therapie hat er vielleicht gar nicht gedacht.

Eine sehr mitreißende Geschichte, die ich gerne gelesen habe. Gut gemacht, A.
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Mardii
Stiefmütterle

Alter: 64
Beiträge: 1774



Beitrag01.01.2010 22:37

von Mardii
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Sehr gelungener Text.
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Mardii
Stiefmütterle

Alter: 64
Beiträge: 1774



Beitrag01.01.2010 22:50

von Mardii
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Sehr gelungener Text. Dem Erzählfluss konnte ich mühelos folgen. Die düstere Atmosphäre zieht einen von Anfang an in ihren Bann. Bis zum Schluss stellt der Erzähler die phantastische Szenerie glaubwürdig dar und man ist überrascht, dass die Auflösung auf eine realistische Ebene wechselt. Ganz kann man das nicht akzeptieren, so sehr ist man von der Sicht, die Mika einnimmt, gefangen. Spannend aufgebaute Dramatik, phantasievoller Plot. Könnte ich mir als Beginn eines phantastischen Romans vorstellen.
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Maria
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Beitrag03.01.2010 18:54

von Maria
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Hey,
Du bist mein schwierigster Fall.
20 Hits sind hier sicherlich von mir, sooft habe ich den Text nämlich angeklickt, nach einer Woche jedesmal ein Stückchen weiter hinten begonnen zu lesen. Aber es tut mir aufrichtig leid, ich komm nicht in den Text, egal an welchem Tag, egal in welcher Stimmung.

Der Beginn ist mir zu dröge - liegts an den Uhrzeiten, Zahlen, an der eher wenig handlungsintensiven Beobachtung oder den Vergleichen (sinds überhaupt welche, hab ich nicht rausgefunden)? Ich komm nicht rein. Zweifellos eine Schreibe auf sehr gutem Niveau, aber leider habe ich den Text nicht in einem Stück lesen können, da meine Aufmerksamkeit stets nach dem zweiten Absatz komplett weg war. Vielleicht ein Hinweis? Vielleicht aber auch nur eine Geschmacksfrage.

Hilft nix. Hatte die Wahl niedrig zu werten, weil mich der Text nicht halten oder erreichen kann, hab mich für die Alternative nicht zu werten entschieden, erscheint mir nach langer Überlegung richtiger, da ich ihn ja nicht vollständig ... usw.
Tut mir leid!

Lg
Maria


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Aknaib
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Beitrag03.01.2010 23:14

von Aknaib
Antworten mit Zitat

Für mich war der Text schwere Kost. Die Geschichte hat mich nicht gefesselt. Der Text war mir zu lang, nicht  geradlinig und zu abgefahren.

Die Vorgabe ist sauber eingebaut, daran gibt es nichts zu kritisieren.

In der Einleitung bin ich gleich gestolpert.
Zitat:
„Du musst dir helfen lassen, Mika. So geht es nicht weiter.“
„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Schau dich an. Wie du dich fürchtest. Du versteckst dich sogar vor deiner Sammlung, erzählst von Lügen auf der Arbeit, wohin soll das führen?“
Auf die Aussage:  „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
 Wäre eine erste Reaktion, ein Vorschlag was er tun soll.

Am Anfang wird mehrmals in der Zeit hin und her gesprungen. Da hatte ich Mühe dem Text zu Folgen und hätte normalerweise nicht weiter gelesen. Die Verwendung von Daten und Uhrzeiten macht es nicht besser. Vielleicht solltest du die Möglichkeit prüfen, von vornherein chronologisch zu erzählen.
Was dann  der 8.März wäre, mit dem Nichtwissen woher die Katze kommt.

Mit Grüßen
Bianka

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sleepless_lives
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Beitrag03.01.2010 23:44

von sleepless_lives
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Die Vorlage ist auf den ersten Blick gut integriert, aber bei genauerem Hinsehen macht sie nicht besonders viel Sinn in der Geschichte. Warum sollte er sagen "Er schenkte ihm kaum noch Beachtung. Öfter lag er schon im Bett und sah, wenn es sich meldete, nicht einmal auf. ",  wenn Ruth jedes Mal so durch das Telefon zu ihm kommt (Klasse-Idee, übrigens) und er dazu den Telefonhörer abheben muss?

Desgleichen hab ich viele andere kleine Ungereimtheiten gefunden, zum Beispiel:

Zitat:
Jetzt, um 16 Uhr 10, stellte er fest, dass heute nicht so ein Tag war.

Etwas seltsam, erst wird davon geredet, dass er diese Tage schon an morgen erkennt, jetzt stellt er es erst am Nachmittag fest.


Zitat:
Er würde daheim ohne weitere Probleme die Tür öffnen können,

Gerade war noch von der Pforte in der Arbeit die Rede.


Zitat:
Die Sicherheit, die ihm seine Uhr gab, wusste er in jeder Minute zu schätzen.

Das muss nicht mehr explizit ausgesprochen werden, es mehr als klar.


Zitat:
Wer ihn aber anrief, konnte nur ein Freund sein, denn bisher waren alle Erklärungen einleuchtend gewesen.

Entweder oder. Entweder ist jeder, der ihn anruft, ein Freund, oder er ist ein Freund, weil alle seine Erklärungen einleuchtend waren.


Zitat:
Eine Minute danach war Janosch beinahe satt.

Beinahe?


Zitat:
Mika konnte sich nicht erinnern, wie er an die Katze gekommen war. Am 8. März um 19 Uhr 17 war ihm das neue Haustier aufgefallen

Der zweite Satz widerspricht dem ersten.


Zitat:
Doktor Blockenberg hatte ihn gelobt, weil ein Haustier feste Regeln und Zeitpunkte benötigte – etwas, das auch ihm helfen würde.

Unwahrscheinlich, dass Mika vorher ohne feste Regeln und Zeitpunkte gelebt hat. Wenn der Fall, müsste diese Veränderung irgendwo anders nochmal (ausführlicher) erwähnt werden.


Zitat:
konnte Mika fast furchtlos das Haus verlassen, doch in den Keller ging er nie. Bahnhöfe und Orte mit vielen Menschen führten dazu, dass sich Fremde in seine Gedanken legten.
 

Anschluß? Mika kann furchtlos das Haus verlassen, aber der Keller birgt Angsteinflössendes. Dann wird aber geschildert, dass das Aus-dem-Haus -Gehen keineswegs unproblematisch ist (und aus dem Text davor wissen wir, das Mika immer noch Furcht empfindet).


Insgesamt:
Das Thema eines von paranoiden Wahnvorstellungen Verfolgten mit einer Leiche im Keller (?, oder ist es nur eine Insektensammlung) ist konsequent umgesetzt, aber alles andere als neu. So oder ähnlich schon oft gelesen oder gesehen. Die Erklärungen am Ende vertragen sich nicht besonders mit der kaffkaesken Welt (bedeuten eine Trivialisierung). Und da sind wir schon beim niederschmetternden Manko des Textes: der Stil ist an Kafka angelehnt, die tschechischen und deutschen Namen sind an Kafka angelehnt, die Atmosphäre ist an Kafka angelehnt, die Motive sind teilweise bis ins Detail an Kafka angelehnt. Und dann verwandeln sich auch noch Menschen in Insekten und speziell Käfer. In Kafkas bekanntester Geschichte wacht die Hauptperson eines Morgens auf und findet sich in einen Käfer verwandelt. Ich hab Australier getroffen, die den ersten Satz von "Die Verwandlung" auf Deutsch aus dem Gedächtnis zitieren können. Alles was danach kommt und der Insektenverwandlung nicht einen radikal neuen Aspekt abgewinnt, kann nur als Abklatsch angesehen werden. Doch hier wird es mit anderen Kafka-Elementen verbunden und das nicht als Anspielung oder als postmodernes Spiel mit den Motiven.
Tut mit leid, das geht einfach nicht.


_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
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