Tempus fugit (Alltagsbetrachtung)

[Biggi]

- Ich bin für die Aufweichung des Zeitlimits, wenn es sprudelt -

Daran, die Lebkuchen im Haus zu haben, durfte ich mich dank der Disponenten des Supermarktes schon seit Ende September gewöhnen. Gestern hat es mich aber dann doch härter getroffen bei frühlingshaften fünfzehn Grad im Schatten.
Mir wurde tatsächlich ein Adventskranz angeboten bei freier Auswahl zwischen roten, blauen und weißen Kerzen. Der hat doch keine Nadeln mehr, bis ich den brauche, dachte ich und habe kurz überlegt. Der letzte Schultag ist dieses Jahr freundlicherweise der 23. Dezember, damit die Kinder noch gut zu tun haben und nicht zu lang nervös sein müssen, bevor die Geschenke unter dem Baum liegen. Dieser Tag wird ein Mittwoch sein. Meine Rückwärtsrechnung hat ergeben: der Sonntag, an dem die erste Kerze fällig ist, liegt gar nicht mehr so fern wie erhofft.

Mir ist der Satz durch den Kopf gegangen, den ich vor etwa dreißig Jahren von meinen Großeltern nicht nur gehört, sondern langsam auch verstanden habe: ‚Kinder, wie die Zeit vergeht!’.
Das war einmal - neben der Feststellung, dass wir ein gutes Stück gewachsen sind,- der Spruch der alten Leute. Aufgrund meiner noch kaschierbaren Krähenfüße würde ich zwar behaupten, noch nicht dazu zu gehören, aber ich frage mich trotzdem: wo ist sie dieses Jahr nur wieder hingegangen? Wie oft habe ich mich und andere gehetzt, und es hat offenbar doch nichts geholfen?

Mir fällt die Kassiererin ein, die vor einigen Monaten neu im Laden war. Wie immer hatte ich hektisch alles aus dem Wagen aufs Band gelegt, bin den ersten Artikeln umgehend hinterher gelaufen, um sie nach dem Scanner abzufangen und einzutüten. So schnell wie möglich, man will ja niemanden aufhalten, der es eiliger hat als man selbst.
Die besagte Frau an der Kasse meinte grinsend: „Sie sind auf der Flucht, oder?“ Ich musste lachen. Nein, war ich nicht, aber ich hatte mich wohl so verhalten.
Sie ist mir nun schon länger nicht mehr begegnet. Wahrscheinlich war sie zu langsam für ihren Job, denn im Supermarkt an der Kasse ist nur derjenige gut aufgehoben, der die Leute antreibt.
Ab und zu, so scheint es mir, muss etwas hinter dem Band auf den Boden fallen. Den Artikel darf man sich dann aus reiner Kulanz noch einmal frisch aus dem Regal holen, falls er kaputtgegangen ist.
„Kann ja mal passieren“, sollen sie dazu sagen, laut Schulung. Ich weiß dann immer nicht, ob sie sich selbst damit meinen oder ob das ein versteckter Vorwurf gegen mein Reaktionsvermögen sein soll.
Vorbei sind die Zeiten, als noch fleißig getippt wurde und die Fingerfertigkeit der rechten Hand einer Kassiererin der limitierende Faktor war. Seitdem die Menschen, die meine nonverbalen Kaufanträge annehmen, nicht mehr auf jeder Seite den Barcode suchen müssen, weil er nahezu überall auf der Verpackung aufgedruckt ist, sind sie zu schnell geworden für die Kundschaft, die immer älter wird.

Es ist trotzdem faszinierend. In vielen Lebensbereichen, nicht nur im Supermarkt, werden wir beständig auf Geschwindigkeit trainiert und haben doch alle keine Zeit.
Wahrscheinlich hatte also Herr Ende doch recht, und das vor mittlerweile 36 Jahren. Die grauen Herren gibt es wirklich. Sie sparen die Minuten auf einem Konto für uns. Denn wo sonst sollen sie sein, so wie wir uns alle immerzu beeilen?

„Gehen wir noch auf den Spielplatz“, hat mich meine kleine Tochter heute am späten Nachmittag gefragt, als die Sonne noch zu sehen war.
„Gleich, ich muss erst noch…“, habe ich den Satz angefangen, als sie mir schon ins Wort fiel.
„Nicht gleich. SOFORT. Sonst ist es wieder dunkel.“
Wo sie recht hat, hat sie recht. Manchmal muss man sich die Zeit einfach nehmen.

[Maria]

die Biggi und ihr automatischer Irrsinn.
Man merkt beim Lesen wie Du vom Automatismus Deiner Finger eingesaugt wurdest. Weg von den zu frühen Lebkuchen, hin zum trockenen Adventsgesteck, die rasende Zeit, die dann garnicht so rasend ausklingt sondern ein entzückendes Ende findet.
Wirklich unterhaltsam. Wie einem die GEdanken eben so in den Kopf schießen. Da fällt mir ein Text der FFF ein - warst das nicht auch Du? Mal nachsehen gehen.  

Macht Lust es selbst mal zu versuchen. Mal sehn, wann ich fünf Minuten Ruhe finde, ich muss ja noch ...



Lieber Gruß

[Biggi]

Ja, Maria,
das ist einfach nicht zu leugnen, dass die Finger über die Tastatur fliegen und es kaum schaffen einzufangen, was an Assoziationen kommt.

Würde mich freuen, wenn Du erst noch das erledigen würdest, was zu tun ist und Dir dann mal die fünf bis zehn oder so Minuten gönnst, damit ich nicht so einsam bin hier in meinen Alltagsirrsinnsfluten...
Und war ich's beim FFF? Keine Ahnung. War da was??? Ach so, ich hab mich ja geoutet. Blöder Fehler, wirklich blöd...

Also dann, auf Wiederlesen!
Lieben Gruß,
Biggi

[sonya]

N'abend Biggi,
mal wieder Lesen was du so geschrieben hast, in der letzten Zeit....
FFF? Darf ich es auch wissen? Bitte, ich bin doch so neugierig.

lgsonya

[Maria]

wollte ich noch nachreichen: Du warst das tatsächlich beim FFF (Sonya: Festival der Flinken Federn), hab das auch in meine Begründung eingebaut: authentische Gedankenspielereien.  Siehste mal! Dafür, dass ich mir das bis heute im Gedächtnis blieb, sollte ich eigentlich dort noch umbewerten dürfen.

[Biggi]

sonya: bitte gerne, lies nur. Da war schon die eine oder andere Geschichte dazwischen... vielleicht ist ja was für Dich dabei.
Beim FFF war die einzige total abgedrehte Fensterstory von mir, die findest Du sicher! Und die anderen freuen sich auch, wenn Du im Vorbeifliegen den einen oder anderen Beitrag (nochmals) liest.

Maria, aber nur höher umbewerten, gell! Denn dann war die Flohhysterische ja doch viel tiefsinniger als auf den ersten Blick zu erkennen .

Liebe Grüße,
Biggi

[Alogius]

Moin,

wenn Du loslegst, dann aber richtig. Finde, dass diese Kategorien hier ohnehin stiefmütterlich behandelt werden. Und dann liest man solche Perlen der Alltagsbetrachtung mit Sinn.

Die Geschwindigkeit, in der das Leben hetzt, ist schon bedenklich. Und achtet man nicht darauf, bemerkt man irgendwann - hier sehr schön humorig gezeigt - wie man selbst schon mittendrin ist. Teil der Maschinerie geworden, muss man sich das Zeitnehmen neu antrainieren.

Eine sehr schöne und wichtige Erkenntnis, die Du sprachlich wie gewohnt auf bestem Niveau, dazu noch sehr unaufdringlich, servierst.

Klasse!

Danke

Gruß
Tom

[Biggi]

Hi,