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Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille


 
 
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag12.09.2009 11:54
Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille
von Alogius
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille

Ich ging durch die enge Rosengasse, wo neben den leichten Mädchen auch die Hausierer auf den kalten Pflastersteinen saßen.
Die Mädchen hatten meinen Namen schon gerufen, bevor ich im Licht zu sehen war. In ihren grauen Kleidern schienen sie im Laternenschein zu schweben. Die Hausierer bemerkten die Mädchen nicht, denn sie sammelten ihren Tand auf, der bei jedem Hufschlag der Pferde zu Boden ging.
Die Pferde trugen Scheuklappen und zogen schwere Kutschen, sonst wären sie wohl gleich auf die Mädchen gestürzt, um sie zu retten, auf ihren Rücken in wärmere Gegenden zu tragen. Die Kutschen krachten an die Hauswände, denn die Gasse war zu schmal für sie. Fahrgäste hatten sie schon lang nicht mehr, aber ihre Wege waren nicht aufzuhalten.

Zwischen den Häusern gab es noch kleinere Gässchen.
Die Blinden und Kranken lagen dort auf ihren Matten und Heuballen. Verzückt lauschten sie dem Geigenspieler, der jeden Abend  die Salons verließ, um hier zu spielen.
Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke, die ihnen wie Jahre schienen. Die Blinden weinten, und die Kranken streckten ihre Hände aus, um ihn zu berühren. Er aber lief immer schneller, bis nur noch die Musik in den Ecken und Winkeln hing.
Langsam wurde sie leiser, und nachdem das letzte Pferd durch die Gasse gepoltert war, lag die Stille über uns.



_________________
Aus einem Traum:
Entsetzter Gartenzwerg: Es gibt immer noch ein nullteres Fußballfeld. Wir werden viele Evolutionen verpassen.
Busfahrer: Tröste dich. Mit etwas Glück sehen wir den Tentakel des Yankeespielers, wie er den Ereignishorizont des Schwarzen Loches verlässt.
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Canyamel
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 350
Wohnort: Saargemünd


Beitrag13.09.2009 11:41
Re: Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille
von Canyamel
Antworten mit Zitat

Ich find's sehr gut. Hat etwas traumhaftes, entrücktes und wirkt doch unheimlich realistisch. Besonders gefällt mir:

Zitat:
In ihren grauen Kleidern schienen sie im Laternenschein zu schweben.


Das ist ein fantastisches Bild! Man kann sich sofort vorstellen, was gemeint ist und wie die Mädchen im Lichtschein der Straßen wirken. Den Schluss finde ich auch besonders schön:

 
Zitat:
Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke, die ihnen wie Jahre schienen. Die Blinden weinten, und die Kranken streckten ihre Hände aus, um ihn zu berühren. Er aber lief immer schneller, bis nur noch die Musik in den Ecken und Winkeln hing.
Langsam wurde sie leiser, und nachdem das letzte Pferd durch die Gasse gepoltert war, lag die Stille über uns.


Ich habe nur beim ersten Satz dieser Stelle etwas gestutzt. Wenn man ein trauriges Leben hat und plötzlich für wenige Augenblicke etwas Schönes erlebt, gehen die doch eigentlich nach dem eigenen Empfinden viel zu schnell vorbei und werden nicht als Jahre empfunden, oder? Ansonsten ist das m.M. nach einfach klasse geschrieben, klar und doch nicht simple, bildhaft, und doch nicht überladen. Ich bin kein Fan von historischen oder Fantasy- Romanen, aber nach dem Einstieg würde ich sofort weiterlesen!

Viele Grüße

Canya


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Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur die langweilige nicht. (Voltaire)
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag13.09.2009 13:12

von Alogius
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Moin,

Danke fürs Lesen und Kommentieren. smile

Zitat:
Ich find's sehr gut. Hat etwas traumhaftes, entrücktes und wirkt doch unheimlich realistisch.

Das war genau mein Ansinnen dabei.

Zitat:
Ich habe nur beim ersten Satz dieser Stelle etwas gestutzt. Wenn man ein trauriges Leben hat und plötzlich für wenige Augenblicke etwas Schönes erlebt, gehen die doch eigentlich nach dem eigenen Empfinden viel zu schnell vorbei und werden nicht als Jahre empfunden, oder?

Richtig. Hier ist es aber, was natürlich auch seltsam ist, anders herum gedacht. wink

Zitat:
Ich bin kein Fan von historischen oder Fantasy- Romanen, aber nach dem Einstieg würde ich sofort weiterlesen!

Ist es auch beides nicht. wink

Vielen Dank
Gruß
Tom


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EdgarAllanPoe
Geschlecht:männlichPoepulistischer Plattfüßler

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Bronzene Harfe Die Goldene Bushaltestelle
Goldene Feder Lyrik


Die Tauben
Beitrag13.09.2009 13:17

von EdgarAllanPoe
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Leise, poetisch, wunderbar. Neun Federn!

Eddie


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(...) Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Paul Celan

Life is what happens while you are busy making other plans.
- JOHN LENNON, "Beautiful Boy"

Uns gefällt Ihr Sound nicht. Gitarrengruppen sind von gestern. (Aus der Begründung der Plattenfirma Decca, die 1962 die Beatles ablehnte.)
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag13.09.2009 14:35

von Alogius
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Da bleibt mir nur ein "Danke" zu sagen, Eddie. wink

Danke!

Es geht in dem Text einfach um den Moment, der sich vom "Ich (...)" am Anfang bis zum "(...) uns." streckt.


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Jocelyn
Bernsteinzimmer

Alter: 59
Beiträge: 2251
Wohnort: Königstein im Taunus
Das Silberne Fahrrad Ei 1



Beitrag21.09.2009 16:48
Re: Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille
von Jocelyn
Antworten mit Zitat

Alogius hat Folgendes geschrieben:

Langsam wurde sie leiser, und nachdem das letzte Pferd durch die Gasse gepoltert war, lag die Stille über uns.



"Der letzte Satz macht den Text", das möchte ich hier sagen.

Das Geigenspiel als Brücke zur Stille.

Musik, die nirgends anrempeln kann, dann aber doch der Stille weicht, wenn "die Polterer" abgezogen sind.

Schöner Text, Caecilia


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If you dig it, do it. If you really dig it, do it twice.
(Jim Croce)

Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt.
(Aus: Atemschaukel von Herta Müller, Carl Hanser Verlag, München 2009, Seite 198)

"Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer."
(Voltaire)
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

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Vom Verschwinden der Muse
Beitrag21.09.2009 19:28

von Alogius
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Ich danke Dir sehr, denn der letzte Satz ist gerade hier sehr wichtig.
Der hat, ohne Scherz, die meiste Zeit in Anspruch genommen...

Danke smile
Gruß
Tom


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Biggi
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 52
Beiträge: 782
Wohnort: BY



Beitrag22.09.2009 19:44
Re: Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille
von Biggi
Antworten mit Zitat

Hi Tom,
dieser Text gefällt mir sehr gut. Schöne Bilder, die ich mir als Leserin sofort vorstellen kann dank Deiner Beschreibung.
Der schönste Satz für mich? Der hier:
Zitat:
Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke, die ihnen wie Jahre schienen.

Der hat wirklich Seele und sticht heraus. Toll!
Damit war ich auf das Spiel einer einzelnen Geige eingestellt, die ja an sich nicht wahnsinnig laut ist, und da kam plötzlich das:
Zitat:
Er aber lief immer schneller

Das hat mich kurz aufgeschreckt. Im nächsten Halbsatz dann wieder die Vorbereitung auf die kommende Stille, die ich laut Titel erwarten durfte (und der Text war ja beinahe zu Ende, es musste also schnell gehen).
Der letzte Satz strahlt dann die abendliche/nächtliche Ruhe aus und ich lehne mich zurück und denke mir: eine runde Sache.

Danke und Grüße,
Biggi
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag22.09.2009 20:46

von Alogius
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Hi,

meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Ja, das schnellere Laufen soll erschrecken, eben weil die gegebene Textzeit mit dem Anspruch, in die Stille zu treten, bald vorbei ist an dieser Stelle.
Wenn das so geklappt hat, und wenn es am Ende eine runde Sache ist (die ich versucht habe, durch das "Ich" am Anfang und das "uns" am Ende auch zu zeigen), fühle ich mich etwas bestätigt. smile

Danke Dir!
Gruß
Tom


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BlueNote
Geschlecht:männlichStimme der Vernunft


Beiträge: 7304
Wohnort: NBY



Beitrag22.09.2009 22:06

von BlueNote
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Hallo Alogius,

dein Text liest sich sehr angenehm. Man hat nicht den Eindruck, dass beim Lesen irgendwelche Stolperer passieren, Fallstricke warten und (obwohl die Geschichte ja durchaus "phantastisch" ist) dass irgendwelche widersinnige, unlogische Metaphern bemüht werden. Schon der Titel ist großartig. Danach folgt ein Arrangement von Personen und Ereignissen, die sehr interessant sind. Und alles endet schließlich in der Stille.
Ein abgerundetes Ding!
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Alogius
Geschlecht:männlichKinnbeber

Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag22.09.2009 23:44

von Alogius
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Moin,

ich danke auch Dir recht herzlich.

Schön, wenn auch der Titel gefällt. Der war mal ganz anders, aber ich habe den alten vergessen - was wohl zeigt, dass dieser hier richtiger ist. wink

Schön, wenn es auch für Dich ein runder Text ist!

Danke und Gruß,
Tom


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Berni
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Beitrag23.09.2009 00:33

von Berni
Antworten mit Zitat

Boah, Tom!

Das ist ein toller Text! Wie schon jemand schrieb, hat er etwas von Traumerlebnis. Da sind Bilder, die sind realistisch, und doch kann der Leser nur ahnen, was hier eigentlich vor sich geht. Die Phantasie wird angeregt, wobei gleichzeitig durchaus ein realistischer Film abläuft.

Besonderes Kompliment zum Schluss auch von mir: einfach genial, diese Stille ..............  Wink

Sorry, ich muss dich federn!  Wink

Ciao,
Bernd
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Nina
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Beitrag23.09.2009 00:40

von Nina
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hi tom,

auch dieser text von dir sehr gut geschrieben. man kann sich den bildern und eindrücken nicht entziehen. das sind worte, die bilder inclusive ton präsentieren. sehr schön. und am schluß die stille, ist hörbar.

sehr schön.

lg
nina


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LoveIsAnArt
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Beitrag23.09.2009 00:59

von LoveIsAnArt
Antworten mit Zitat

Uff... Mich hat der ganze Text weggezogen in eine Stimmung aus "Name der Rose". Mittelalterliche Gossengesänge, die normal sind, doch aus heutiger Betrachtung ein Gefühl der Stille erzeugen. Der Stille aus Emotion und Mensch. Wie konnte ein Mensch damals Mensch sein?

Strake Bilder werden hier geschaffen. Da ich in Augsburg aufgewachsen bin und diese Stadt ja eine wunderbare Altstadt beherbergt, konnte ich mich doppelt in diesen Text einfühlen. Ich weiß um das Gefühl von kaltem Pflasterstein und engen Gassen, die man in modernem Gewand beschreitet und unwiederstehlich in die Geschichte gesaugt wird.

Das gleiche geschieht hier denke ich mit dem Erzähler. Ich bin mir allerindings nicht sicher. Ich les das morgen auf jeden Fall nochmal smile

Bis hierher kann ich allerdings sagen: Schöne Bilder, die ich nachvollziehen kann. Schöne Stimmung, die mich etwas melancholisch macht. Schöner Text, der mich an mich erinnert.
Daumen hoch!


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Alogius
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Beiträge: 3206

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Vom Verschwinden der Muse
Beitrag23.09.2009 13:50

von Alogius
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Antworte Berni, die anderen beiden folgen nachher (da muss ich an einigen Stellen ausholen^^):

Moin, Berni,

Zitat:
Da sind Bilder, die sind realistisch, und doch kann der Leser nur ahnen, was hier eigentlich vor sich geht.


Genau das sollte passieren - es freut mich immer mehr, dass die Intentionen des Textes auch so ankommen.

Dass Dir die Stille gefällt, ist für mich ein besonderer Bonus. Aber fürs Federn musst Du Dich doch nicht entschuldigen.^^

Vielen Dank
Gruß
Tom

p.s.: Hab gerade nicht viel Zeit; deshalb folgen nachher noch Anmerkungen.


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sleepless_lives
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Beitrag23.09.2009 16:12

von sleepless_lives
Antworten mit Zitat

Da sieht man mal wieder, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sein können. 'tschuldigung, dass ich hier was Negatives sagen muss, aber für mich kriegst du mit diesem Text leider nicht die Kurve und schlidderst in den Kitsch-Graben neben der Straße. Normalerweise halten dich deine eigenartigen, verwinkelten Welten sicher von der Randböschung fern, nicht so hier.

Das fängt schon mit dem Titel an: "Betrachtung des Weges vom Aufbruch in die Stille" - "Betrachtung", "Weg", "Aufbruch", "Stille", vier Wörter, die in Kombination die New-Age-Glocken  heftig bimmeln lassen. Für mich klingt das wie "Die Stille des Schweigens" oder das "Schweigen der Stille", Wörterkombinationen, die sich nicht festlegen, die nichts aussagen wollen, und mehr wegen ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit (oder böse ausgedrückt: Leere) als aufgrund der Assoziationen, die sie erwecken, als poetisch gelten.

Diese Tendenz des Unkonkreten (aber nicht Nebulösen, das wäre etwas anderes) zieht sich durch den ganzen Text. Hier wird im Wesentlichen mit Versatzstücken gearbeitet (enge Gasse; kalte Pflastersteine; graue Kleider; leichte Mädchen; schwere Kutschen; Pferde, die jemand auf ihrem Rücken entführen; Augenblicke, die wie Jahre erscheinen; etc.). Das wirkt, als wärst du durch ein Museum gegangen und hättest dir historische Gemälde angesehen, aber nur ganz oberflächlich hingeschaut. Das soll tiefgründig sein, aber die Glätte und die mangelnde Präzision der Bilder und Wörter machen es nur seicht; das soll eine einfache, schnörkellose Schönheit ausstrahlen, aber es ist ein falsche Schönheit, als ob dem Text Botox gespritzt wurde, denn die Einfachheit ist sichtlich gewollt, konstruiert und mit dem Verlust des Individuellen erkauft. Alles Sperrige wurde entfernt und vor der ersten oder nach der letzten Zeile der Geschichte entsorgt.

Das gilt besonders für das Musik-Motiv am Ende. Anstatt auf die klassischen Vorbilder (z. B. Orpheus, die christliche Krankenheilung) anzuspielen, nimmt es sie als Geisel. Mit den dem "Geigenspieler" "verzückt lauschen"den Kranken und Blinden, die die Hände ausstrecken bzw. weinen, erreichen wir endgültig den harten Boden des, wenn auch gut geschriebenen, Kitsch. Die Kranken sind auch hier generisch Kranke, sie  leiden an nichts Bestimmtem. Und mehr noch, wir haben hier "die Musik in den Ecken und Winkeln hing" (die Häuser und Straßen haben keine Kennzeichen und Funktionen) und "die Stille über uns". Der Ich-Erzähler, der am Anfang aktiv schien - er schien, sich fortzubewegen - hat sich in der Szene aufgelöst. Das wäre spannend, wenn es Absicht wäre und wenn es nicht ein weiteres Mittel wäre, Tiefgründigkeit vorzuspiegeln, wo keine ist: das leere "uns". Ist das "wir" ein pluralis modestia? Oder sind es der Leser und der Ich-Erzähler? Oder sind das "wir" die Kranken und Blinden und der Ich-Erzähler? Aufgrund der bisherigen Allgemeinheit, oder sagen wir Allerweltheit, der Geschichte öffnet das finale, mehrdeutige "uns" nichts, wie es das vielleicht in einer anderen Geschichte tun würde, lässt den Leser keinen neuen Blick auf das Beschriebene werfen, sondern transportiert nur die Bindungslosigkeit der Geschichte. Wie anders würde der Schluss wirken, wenn da stände "lag die Stille über mir". Den individuellen Blick jedoch hast du leider lange vorher aufgegeben.

Grüße,

- sleepless_lives


_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
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Alogius
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Alter: 47
Beiträge: 3206

Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag23.09.2009 16:27

von Alogius
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Moin, Nina,

dass die Stille hörbar ist, fasse ich als Kompliment an den Text auf. Das war/ist mir nämlich ein wichtiger Punkt dabei.

Dankesehr!
--------

Moin, LoveIsAnArt,

Zitat:
Strake Bilder werden hier geschaffen. Da ich in Augsburg aufgewachsen bin und diese Stadt ja eine wunderbare Altstadt beherbergt, konnte ich mich doppelt in diesen Text einfühlen. Ich weiß um das Gefühl von kaltem Pflasterstein und engen Gassen, die man in modernem Gewand beschreitet und unwiederstehlich in die Geschichte gesaugt wird.


Ist das hier so gelungen, freut mich das.
Ich habe, was interessant ist, an Augsburg und an Prag gedacht.

Zitat:
Das gleiche geschieht hier denke ich mit dem Erzähler. Ich bin mir allerindings nicht sicher.


Zumindest ist der Effekt erwünscht. Bin gespannt.

Danke
Gruß
Tom

p.s.: Die letzte Kritik muss ich gesondert beantworten. wink


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Alogius
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Die Goldene Bushaltestelle Goldene Feder Prosa (Anzahl: 2)


Vom Verschwinden der Muse
Beitrag23.09.2009 16:52

von Alogius
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Hi sleepless_lives,


Zitat:
Da sieht man mal wieder, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sein können. 'tschuldigung, dass ich hier was Negatives sagen muss,

Zum Glück sind sie unterschiedlich. Aber entschuldigen muss sich niemand für Kritik, denke ich. Aber dankesehr...

Zitat:
aber für mich kriegst du mit diesem Text leider nicht die Kurve und schlidderst in den Kitsch-Graben neben der Straße

Dass ich das anders sehe, versteht sich. Wo liegt der Kitsch?

Zitat:
Normalerweise halten dich deine eigenartigen, verwinkelten Welten sicher von der Randböschung fern, nicht so hier.

Nur vorab (nein, ich lese das nicht aus Deinen Worten, ich will es nur klarstellen): Ich entwerfe diese "eigenartigen, verwinkelten Welten" nicht, um mich davor zu bewahren. Dann wären sie Mittel zum Zweck.
Hier sehe ich nichts, das eigenartig wäre, maximal verdichtet oder verzerrt, räumlich und inhaltlich.
Schade, dass Du Dir dann ausschließlich den Text vornimmst und nicht jene, wo es Dir gelungener scheint. Andererseits ist es auch nicht schade. Auf jeden Fall nehme ich jede Einschätzung ernst und bin dafür auch zu haben und dankbar.

Zitat:
Das fängt schon mit dem Titel an:

Das wundert mich.
Das Ich "ging durch die Rosengasse", bleibt stehen und betrachtet - bis die Stille eingetreten ist.
Das ist, wie ich finde, ein höchst pragmatischer Titel.
Deshalb sehe ich keine inhaltliche Unbestimmtheit, sondern eher eine direkte Bezeichnung dessen, was geschehen wird...

Zitat:
Hier wird im Wesentlichen mit Versatzstücken gearbeitet (enge Gasse; kalte Pflastersteine; graue Kleider; leichte Mädchen; schwere Kutschen; Pferde, die jemand auf ihrem Rücken entführen; Augenblicke, die wie Jahre erscheinen; etc.)

Das ist richtig. Das Ich oder Text beschreibt das, was das Ich sieht, in der Gasse. Und hört.
Woher nimmst Du die Versatzstücke bzw. was hättest Du in der Gasse erwartet?

Zitat:
Das wirkt, als wärst du durch ein Museum gegangen (...)

Wenn es so wirkt, muss ich dazu sagen, dass ich (a) nicht durch ein Museum gegangen bin (zumindest nicht in jüngster Zeit) und (b) ich dennoch keinen "Fehler" darin sehe, würde der Text zB ein Gemälde oder mehrere Bilder zum Thema haben.
(Das ist nicht so, wäre aber möglich - von daher ist Deine Sichtweise eventuell sogar sehr zutreffend?)

Zitat:
Das soll tiefgründig sein, aber die Glätte und die mangelnde Präzision der Bilder und Wörter machen es nur seicht

Habe ich den Anspruch der Tiefgründigkeit etwa hier postuliert? Ich denke, das habe ich nicht... Natürlich geht es um mehr als nur den Weg durch die Gasse oder das Innehalten des Ichs, aber dem Text mangelnde Präzision vorzuwerfen, ohne es zu begründen, halte ich für eine grobe Fehlwahrnehmung bzw. -formulierung, sorry.

Zitat:
aber es ist ein falsche Schönheit, als ob dem Text Botox gespritzt wurde, denn die Einfachheit ist sichtlich gewollt, konstruiert und mit dem Verlust des Individuellen erkauft. Alles Sperrige wurde entfernt und vor der ersten oder nach der letzten Zeile der Geschichte entsorgt.

Sie ist NATÜRLICH gewollt, und natürlich ist der Text auf das Wesentliche reduziert, weil es sonst mehr Handlung und Länge geben würde. Er soll sich konzentrieren auf die Wahrnehmung des Ichs, mehr nicht.
Was meinst Du mit "alles Sperrige"?
Den Botoxvergleich halte ich für unhaltbar, weil er unbegründet ist.

Zitat:
Anstatt auf die klassischen Vorbilder (z. B. Orpheus, die christliche Krankenheilung) anzuspielen,

Das (bereits ausführlich ausgetretene) Orpheusmotiv ist mir bekannt.
Musik heilt hier aber nicht.
Es ist deshalb Kitsch, weil die Musik die Kranken/Blinden berührt, aber nichts an ihrem Zustand ändert? Ich würde es eher als eine nackte Tatsache beschreiben...

Zitat:
die Häuser und Straßen haben keine Kennzeichen und Funktionen

Sie begrenzen den Weg. Ergo: den Raum.

Zitat:
Der Ich-Erzähler, der am Anfang aktiv schien - er schien, sich fortzubewegen - hat sich in der Szene aufgelöst. Das wäre spannend, wenn es Absicht wäre und wenn es nicht ein weiteres Mittel wäre, Tiefgründigkeit vorzuspiegeln, wo keine ist: das leere "uns".

Richtig und absichtlich ist (ich habe das sogar schon irgendwann bereits herausgestellt..), dass das Ich anfangs aktiv ist, in die Gasse geht, aber dort verharrt, nicht weiter geht. Es ist nicht explizit formuliert, weil der Leser mit dem Ich ebenso in der Gasse verweilt. Tatsächlich hat es sich in der Szene aufgelöst und ist zum "Wir" geworden. Das "Wir" sind alle Beteiligten in der Gasse, die auch am Ende des Textes dort bleiben. Ob der Leser sich so weit damit identifiziert, dass er ebenso zum Plural gehört, steht wohl jedem frei - ich schreibe keinem etwas vor.
Woher weißt Du, dass ich scheinbare Tiefgründigkeit vorspiegeln will oder es tue? Das ist eine subjektive Einschätzung. Ich kann nur aussagen, was meine Absichten sind, mehr nicht.

Zitat:
lässt den Leser keinen neuen Blick auf das Beschriebene werfen, sondern transportiert nur die Bindungslosigkeit der Geschichte

Der Text hat auch nicht die Absicht, dem Leser einen neuen Blick zu geben. Es ist und bleibt die Beschreibung des Augenblicks, die Auflösung oder besser Umwandlung des Ichs zum Wir.

Zitat:
Wie anders würde der Schluss wirken, wenn da stände "lag die Stille über mir"

Aus meiner Sicht würde es dem Text und der Intention schaden. Und zwar in einem sehr hohen Maß.

Zitat:
Den individuellen Blick jedoch hast du leider lange vorher aufgegeben.

Dann muss ich Dich enttäuschen bzw. bestätigen, denn der individuelle Blick, das ist und bleibt Absicht des Textes, geht gezielt verloren. Das ist das Abrunden zum Ende hin, was ich bisweilen dazu selbst kommentiert habe.

Ich danke Dir fürs Lesen und Kommentieren. Nicht jedem kann und soll alles gefallen, und es wäre beinahe unheimlich, wenn ein Text ausschließlich positiv bewertet werden würde, meine ich.
In dieser Hinsicht empfinde ich es auch als produktiv, wenn Texte von beiden Seiten her betrachtet und gelesen werden.

Danke
Gruß
Tom


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sleepless_lives
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Beitrag25.09.2009 17:20

von sleepless_lives
Antworten mit Zitat

Hallo Alogius,


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
aber für mich kriegst du mit diesem Text leider nicht die Kurve und schlidderst in den Kitsch-Graben neben der Straße

Dass ich das anders sehe, versteht sich.

Das denk ich mir. Sonsts hättest du es wohl anders geschrieben.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Wo liegt der Kitsch?

Das wollte meine Rezension ja aufzeigen.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Normalerweise halten dich deine eigenartigen, verwinkelten Welten sicher von der Randböschung fern, nicht so hier.

Nur vorab (nein, ich lese das nicht aus Deinen Worten, ich will es nur klarstellen): Ich entwerfe diese "eigenartigen, verwinkelten Welten" nicht, um mich davor zu bewahren. Dann wären sie Mittel zum Zweck.
Hier sehe ich nichts, das eigenartig wäre, maximal verdichtet oder verzerrt, räumlich und inhaltlich.

Ja, klar. Ich glaub, wenn jemand das als Mittel zum Zweck machen würde, würde das gar nicht funktionieren. Das würde immer konstruiert und künstlich wirken. Man muss schon so denken.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Schade, dass Du Dir dann ausschließlich den Text vornimmst und nicht jene, wo es Dir gelungener scheint.

Zeitgründe. Und wo es gut läuft, fühlt man ja auch weniger einen Handlungsbedarf.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Das fängt schon mit dem Titel an:

Das wundert mich.
Das Ich "ging durch die Rosengasse", bleibt stehen und betrachtet - bis die Stille eingetreten ist.
Das ist, wie ich finde, ein höchst pragmatischer Titel.
Deshalb sehe ich keine inhaltliche Unbestimmtheit, sondern eher eine direkte Bezeichnung dessen, was geschehen wird...

Na ja, der Titel ist nicht gerade "Ich ging durch die Rosengasse" ...


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Hier wird im Wesentlichen mit Versatzstücken gearbeitet (enge Gasse; kalte Pflastersteine; graue Kleider; leichte Mädchen; schwere Kutschen; Pferde, die jemand auf ihrem Rücken entführen; Augenblicke, die wie Jahre erscheinen; etc.)

Das ist richtig. Das Ich oder Text beschreibt das, was das Ich sieht, in der Gasse. Und hört.
Woher nimmst Du die Versatzstücke bzw. was hättest Du in der Gasse erwartet?

Individuelle charakteristische Beschreibungen, keine generischen: Das könnte fast jede Gasse in einer Altstadt sein. Die Menschen darin haben keine Eigenschaften. Da ist nicht eine Nutte, die friert und hin- und hergeht, um sich warm zu halten, da ist kein spezielles Wetter, kein Licht, etc. Mit einem Wort, du warst nicht da. Stattdessen nimmst du Elemente, die allgemein verwendet werden, die Versatzstücke: die enge Gasse, das kalte Pflaster, Pferde, die ... ich fang an mich zu wiederholen.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Das wirkt, als wärst du durch ein Museum gegangen (...)

Wenn es so wirkt, muss ich dazu sagen, dass ich (a) nicht durch ein Museum gegangen bin (zumindest nicht in jüngster Zeit) und (b) ich dennoch keinen "Fehler" darin sehe, würde der Text zB ein Gemälde oder mehrere Bilder zum Thema haben.

Das war im übertragenen Sinne gemeint.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Das soll tiefgründig sein, aber die Glätte und die mangelnde Präzision der Bilder und Wörter machen es nur seicht

Habe ich den Anspruch der Tiefgründigkeit etwa hier postuliert? Ich denke, das habe ich nicht...

Doch, das hast du. Die Geschichte ist ganz klar nicht eine einfache Situationsbeschreibung. Es ist nicht eine impressionistische Schilderung der Abendstimmung in der Rosengasse. Dafür sind die gewählten Elemente viel zu symbolträchtig und, wie schon erwähnt, ohne individuelle Details.  


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Natürlich geht es um mehr als nur den Weg durch die Gasse oder das Innehalten des Ichs, aber dem Text mangelnde Präzision vorzuwerfen, ohne es zu begründen, halte ich für eine grobe Fehlwahrnehmung bzw. -formulierung, sorry.

Siehe oben. Nenn mir nur eine Sache außer dem Namen "Rosengasse", die die Geschichte an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort bindet. Das ist alles eher im abstrakt Unbestimmten angesiedelt. Das wär kein Problem, wenn es sich dabei nicht, um so oft benutzte Bilder handeln würde (Ausnahme: die Kutschen, die an den Gebäuden anstoßen).


Alogius hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
aber es ist ein falsche Schönheit, als ob dem Text Botox gespritzt wurde, denn die Einfachheit ist sichtlich gewollt, konstruiert und mit dem Verlust des Individuellen erkauft. Alles Sperrige wurde entfernt und vor der ersten oder nach der letzten Zeile der Geschichte entsorgt.

Sie ist NATÜRLICH gewollt, und natürlich ist der Text auf das Wesentliche reduziert, weil es sonst mehr Handlung und Länge geben würde. Er soll sich konzentrieren auf die Wahrnehmung des Ichs, mehr nicht.

Das tut er aber nicht. Da ist kaum Wahrnehmung drin. An sich kein Problem, aber siehe oben. Einfachheit, die als gewollt auffällt, ist problematisch. Das trifft aber auch zum Beispiel auf den späten Hemmingway zu.
 

Alogius hat Folgendes geschrieben:
Was meinst Du mit "alles Sperrige"?

Dinge, die sich nicht so einfach ins Bild einfügen lassen. Widersprüche. Etwas, das nicht ins weitgehend epigonale Bildvokabular passt, das in der Geschichte benutzt wird.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Den Botoxvergleich halte ich für unhaltbar, weil er unbegründet ist.

Die Begründung war die Glätte der Geschichte. Die Falten fehlen, eben die individuellen Eigenschaften und Beobachtungen. Die Begründung war die in eine bestimmte Richtung gestylte Wortwahl und Sprache.   


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Anstatt auf die klassischen Vorbilder (z. B. Orpheus, die christliche Krankenheilung) anzuspielen,

Das (bereits ausführlich ausgetretene) Orpheusmotiv ist mir bekannt.
Musik heilt hier aber nicht.
Es ist deshalb Kitsch, weil die Musik die Kranken/Blinden berührt, aber nichts an ihrem Zustand ändert?

Es ist deshalb Kitsch, weil das Leid der Kranken und der Blinden durch die Musik ausgerechnet eines Geigers der ausgerechnet auch noch auf der Straße spielt gelindert wird. Das ist ein so ausgeleiertes Motiv. Und du fügst dem nichts hinzu, weil du den Figuren und der Situation keine Individualität gibst. Es ist auch kein Bruch drin, wie wenn es der Leierkastenmann wäre, der immer dasselbe Lied und auch noch schlecht singt.



Alogius hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
die Häuser und Straßen haben keine Kennzeichen und Funktionen

Sie begrenzen den Weg. Ergo: den Raum.

Das meinte ich nicht. Es sind einfach nur Häuser. Nicht, sagen wir, heruntergekommene Miethäuser, das Rathaus, die Apotheke, die Eckkneipe, sie haben keine schiefen Fensterrahmen oder ausladenden Balkons, blau gestrichenen Türen, von denen die Farbe abblättert, rote Ziegeldächer, die in der Abenddämmerung aufscheinen, vergoldete Türknäufe oder abgewetzte Türschwellen, auf denen deshalb auch niemand sitzen kann und die niemand kehren kann, sie ducken sich nicht in die Straße oder machen großspurig Front gegen den Betrachter, da ist kein Licht in einem Fenster und da ist auch nicht kein Licht in einem Fenster. Die Straßen haben keinen Namen und führen auch nirgendwo hin, sie gehen nicht bergauf, bergab oder eben. Da sind keine Löcher in den Pflastersteinen, hohe Gehsteige, von Hofeinfahrten durchbrochen, oder Verfärbungen, wo das Wasser nach dem letzten heftigen Gewitterregen lange Zeit nicht ablief. Das meine ich mit "nicht präzise". Und das führt in diesem Zusammenhang zu einer verkitschten Darstellung, intellektueller Kitsch auf hohem Niveau, aber immer noch Kitsch.    


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Der Ich-Erzähler, der am Anfang aktiv schien - er schien, sich fortzubewegen - hat sich in der Szene aufgelöst. Das wäre spannend, wenn es Absicht wäre und wenn es nicht ein weiteres Mittel wäre, Tiefgründigkeit vorzuspiegeln, wo keine ist: das leere "uns".

Richtig und absichtlich ist (ich habe das sogar schon irgendwann bereits herausgestellt..), dass das Ich anfangs aktiv ist, in die Gasse geht, aber dort verharrt, nicht weiter geht. Es ist nicht explizit formuliert, weil der Leser mit dem Ich ebenso in der Gasse verweilt. Tatsächlich hat es sich in der Szene aufgelöst und ist zum "Wir" geworden. Das "Wir" sind alle Beteiligten in der Gasse, die auch am Ende des Textes dort bleiben. Ob der Leser sich so weit damit identifiziert, dass er ebenso zum Plural gehört, steht wohl jedem frei - ich schreibe keinem etwas vor.

Dass alle Beteiligten in der Gasse gemeint sind wird nicht klar. Das wäre wichtig, weil es die Aussage der Geschichte stark beeinflusst und weil, wie schon dargestellt, die Ambiguität des "Wir" hier keine positiven Effekt hat, wie sonst normalerweise.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Woher weißt Du, dass ich scheinbare Tiefgründigkeit vorspiegeln will oder es tue? Das ist eine subjektive Einschätzung. Ich kann nur aussagen, was meine Absichten sind, mehr nicht.

Weil es ein "wir/uns" ist und nicht ein "ich". Weil du damit einen größeren Bogen spannst und den der Szene fremden Betrachter mit denen von der Rosengasse vereinst.  

Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
lässt den Leser keinen neuen Blick auf das Beschriebene werfen, sondern transportiert nur die Bindungslosigkeit der Geschichte

Der Text hat auch nicht die Absicht, dem Leser einen neuen Blick zu geben. Es ist und bleibt die Beschreibung des Augenblicks, die Auflösung oder besser Umwandlung des Ichs zum Wir.

Letzteres wäre doch wohl ein neuer Blick, oder?


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Wie anders würde der Schluss wirken, wenn da stände "lag die Stille über mir"

Aus meiner Sicht würde es dem Text und der Intention schaden. Und zwar in einem sehr hohen Maß.

Dann aber, so meine ich, musst du klarmachen, wer mit dem "wir" gemeint ist. Immerhin ist der Ich-Erzähler nur in den ersten zwei Sätzen präsent und später wechselt die Erzählperspektive praktisch in eine auktoriale ("Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke").


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Den individuellen Blick jedoch hast du leider lange vorher aufgegeben.

Dann muss ich Dich enttäuschen bzw. bestätigen, denn der individuelle Blick, das ist und bleibt Absicht des Textes, geht gezielt verloren.

Ich würde dagegenhalten, dass der Blick nie individuell war.


Grüße,

- sleepless_lives


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Alogius
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Vom Verschwinden der Muse
Beitrag25.09.2009 18:50

von Alogius
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ich versuche jetzt mal knapper zu antworten, denn ich vermute, dass wir uns nicht einigen werden. wink

Zitat:
Na ja, der Titel ist nicht gerade "Ich ging durch die Rosengasse"

Jetzt wirst Du kleinlich - Du weißt genau, was ich meine und wie ich es meine.

Zitat:
Das könnte fast jede Gasse in einer Altstadt sein. Die Menschen darin haben keine Eigenschaften.

Klar, stimmt.
Du meinst also, dass dies für einen Text dieser Art und mit der vorliegenden Intention von Belang wäre. Da widerspreche ich.

Zitat:
Doch, das hast du. Die Geschichte ist ganz klar nicht eine einfache Situationsbeschreibung. Es ist nicht eine impressionistische Schilderung der Abendstimmung in der Rosengasse. Dafür sind die gewählten Elemente viel zu symbolträchtig und, wie schon erwähnt, ohne individuelle Details.

Impressionismus habe ich nie erwähnt - und impressionistisch ist der Text auch nicht, richtig...
Natürlich sind die Elemente symbolhaft, was sollten sie sonst sein, wenn der Text sich allgemeiner sieht als Du ihn Dir wünschst.

Zitat:
Das ist alles eher im abstrakt Unbestimmten angesiedelt. Das wär kein Problem, wenn es sich dabei nicht, um so oft benutzte Bilder handeln würde (Ausnahme: die Kutschen, die an den Gebäuden anstoßen)

Ziel war und ist nicht, vollkommen neue Bilder oder Strukturen zu entwerfen, sondern Bekanntes und Unbekanntes zu vermengen. Siehe die Kutschen.
Unbestimmt - stimmt. Das sehe ich nicht als Schwäche, wenn es genau so gemeint ist.  Question

Zitat:
Einfachheit, die als gewollt auffällt, ist problematisch

Gut, sie ist DIR als gewollt vorgekommen - dagegen kann ich schwerlich was tun. wink

Zitat:
Es ist deshalb Kitsch, weil das Leid der Kranken und der Blinden durch die Musik ausgerechnet eines Geigers der ausgerechnet auch noch auf der Straße spielt gelindert wird

Das Leid wird nicht gelindert.
Es verschwindet - und nur für eine bestimmte Zeit. Es ist zu erwarten - und wird im Text auch angedeutet - dass das Leid danach in gleicher Form wieder da ist. Da sehe ich einen wichtigen Unterschied...
Zitat:
Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke


Zitat:
Die Straßen haben keinen Namen und führen auch nirgendwo hin

Stimmt.

Zitat:
Ich würde dagegenhalten, dass der Blick nie individuell war.

Doch, das war er. Für einen einzigen Teilsatz, den ersten Teilsatz.
Ich halte dagegen, dass Deine Einschätzung offenbar schwankt oder ich aus Deiner Sicht die Individualität vor dem Schreiben des Textes aufgegeben habe:
Zitat:
Zitat:
Den individuellen Blick jedoch hast du leider lange vorher aufgegeben.


Zitat:
Dann aber, so meine ich, musst du klarmachen, wer mit dem "wir" gemeint ist. Immerhin ist der Ich-Erzähler nur in den ersten zwei Sätzen präsent und später wechselt die Erzählperspektive praktisch in eine auktoriale ("Ihr Leid und das Grauen verschwanden für wenige Augenblicke").

Ich wüsste nicht, weshalb dieser Text eine solche Klarstellung brauchen könnte.

T.


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sleepless_lives
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Beitrag25.09.2009 21:38

von sleepless_lives
Antworten mit Zitat

Alogius hat Folgendes geschrieben:
Ich versuche jetzt mal knapper zu antworten, denn ich vermute, dass wir uns nicht einigen werden. wink

Ja, um Einigung geht es ja auch nicht. Konträre Ansichten können ja ruhig nebeneinander stehen. Nur was wirklich gemeint war auf beiden Seiten, sollte deutlich werden. Insofern hat das bisherige auch schon sehr viel aufgehellt, wie du deine Geschichte siehst. Überzeugt hat es mich nicht, aber das erwartet wohl auch keiner. Die Diskussion selbst ist doch sehr interessant.


Alogius hat Folgendes geschrieben:
Natürlich sind die Elemente symbolhaft, was sollten sie sonst sein, wenn der Text sich allgemeiner sieht als Du ihn Dir wünschst.

Mit meinen Wünschen hat das wenig zu tun, da hätte ich mir eine lange Argumentation sparen können und einfach gesagt: "Mach das weniger allgemein."



Alogius hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Ich würde dagegenhalten, dass der Blick nie individuell war.

Doch, das war er. Für einen einzigen Teilsatz, den ersten Teilsatz.
Ich halte dagegen, dass Deine Einschätzung offenbar schwankt oder ich aus Deiner Sicht die Individualität vor dem Schreiben des Textes aufgegeben habe

Letzteres.


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Alogius
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Vom Verschwinden der Muse
Beitrag25.09.2009 21:41

von Alogius
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Zitat:
a, um Einigung geht es ja auch nicht. Konträre Ansichten können ja ruhig nebeneinander stehen. Nur was wirklich gemeint war auf beiden Seiten, sollte deutlich werden. Insofern hat das bisherige auch schon sehr viel aufgehellt, wie du deine Geschichte siehst. Überzeugt hat es mich nicht, aber das erwartet wohl auch keiner. Die Diskussion selbst ist doch sehr interessant.


Ich finde sie ebenso interessant. Ist doch erhellend, wie andere die Dinge betrachten.
Das verstehe ich auch unter Rezension: die Dinge nicht debattieren oder einseitig erfassen, sondern austauschen.
Daher: Danke. wink


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