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Kein Platz für mich

 
 
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Guy Incognito
Wortedrechsler

Alter: 70
Beiträge: 76



Beitrag27.10.2008 16:44
Kein Platz für mich
von Guy Incognito
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Kein Platz für mich

„Setzen sie sich nur. Möchten sie auch ein Glas? Der Wein ist wirklich gut.“
„Nein danke. Aber ein Wasser wäre nett.“
Ich bin überrascht, wie professionell sie wirkt. Sie kennt mich doch, das tut zur Zeit jeder. Eigentlich müsste sie doch aufgeregt sein – mit diesem Interview wird sie die Auflage ihrer Zeitung verzehnfachen.
„Sie wollten mit mir über meine Vergangenheit reden. Wo soll ich denn ihrer Meinung nach anfangen?“
„Wie wäre es mit der Schule, ihrer Jugend?“. Kess, wirklich kess, die Frau.
„Sie glauben wohl, sie wäre irgendwie verrückt gewesen, nicht wahr?“ Jetzt muss ich grinsen und plötzlich erscheint mir der Termin nicht mehr lästig. Das würde interessant werden.
„Tja, da muss ich ihnen tatsächlich Recht geben, so klischeehaft das auch klingt. Also wie gesagt, die Schule…
Ich wusste schon damals, dass ich anders war. Es ist schwer, sowas zu beschreiben, wenn man noch nicht mal sechzehn Jahre alt ist. Ich erinnere mich immer noch an eine Formulierung, die eigentlich ganz gut passen müsste: damals stellte ich mir bildlich vor, wie alle um mich herum blonde Haare hatten und weiße, glänzende Sachen trugen. Nur ich, inmitten von ihnen, ganz in schwarz, mit dunklem Schopf und faltigen, zitternden Händen.
Die Lehrerin, die vor mir stand, ihre Lippen formten meinen Namen widerwillig, als wäre er eine Krankheit, die sie besudeln könnte, wenn sie ihn ausspräche. Man hielt mich für böse, für anders, ich war der, der nie beachtet wurde und wenn doch, dann mit finsteren Blicken oder fast schon…Furcht.“
Ich lehne mich im Sessel zurück und blicke gedankenverloren durch die Wand hindurch. „Dabei war ich doch…besser als sie. Sie waren alle nur Hüllen, Puppen, leere Maschinen und ich, ich war der, in dem es lebte, in dem es sich bewegte und der sich veränderte. Ich wusste, dass ich ihnen über war. Ich war weder überdurchschnittlich intelligent, stark oder kreativ, ich war bei weitem nicht beliebt oder extrovertiert, aber ich war einfach…tiefgründig, menschlich. Manchmal frage ich mich, was heute wäre, wenn damals alles einfach so weitergegangen wäre. Vielleicht wäre ich schon tot, hätte mich selber umgebracht und einen Abschiedsbrief geschrieben – keine Reue, kein Verzeihen, nur Verachtung und Freude, Freude, dass es endlich vorbei ist.“
Ich atme tief ein, innerlich bin ich aufgewühlt und alles kommt wieder hoch.
„Was ist denn damals passiert?“, fragt mich die Frau vor mir. Sie hat lange, glänzend-braune Haare. Wie sie. Komisch, dass mir das jetzt erst auffällt.
Ich muss schmunzeln und lache leise – verbittert?
„Dann kam sie. Eines Tages kam sie zu uns auf die Schule und als ich sie das erste Mal sah, ist irgendwas mit mir…passiert. Ich muss gestehen, dass ich nicht einmal ihren Namen mehr weiß.“
„Ein Mädchen?“
„Ja.“
„Sie waren also verliebt.“ Sie schmunzelt - pah, sie weiß gar nichts. Erst nimmt sie meine schlimme Kindheit so gleichgültig zur Kenntnis und dann wittert sie eine schmalzige Liebesgeschichte!
„Das kann ich mit Bestimmtheit gar nicht mehr sagen. Es war für mich wie ein Wunder, dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat – und alleine das hat mich schon aufgewühlt. Es schien mir, als hätte sie gewusst, wie ich war – alleine, ausgestoßen, eingeschüchtert, aber irgendwie auch…bösartig. Und genau das war es, was mich an ihr einerseits fasziniert hat: sie schien mich zu kennen, sie schien mich einerseits beschützen zu wollen, aber sie wusste auch genau, womit sie mich verletzen konnte. Sie war mal einfühlsam, mal eiskalt, mal dominant und selten devot. Wenn man so will, war sie wie ein Erzieher.“
„Hatten sie ein Verhältnis?“
Lange schweige ich. Bilder rauschen vor meinen umher, genauso, also würde jemand mein Leben noch einmal im Schnelldurchlauf zeigen.
„Wenn man so will, ja. Zu dieser Zeit würde man es natürlich nicht so nennen, mein Gott, wir waren Teenies. Aber um auf den Kern ihrer Frage zurückzukommen – ja wir hatten Sex. Einmal. Und dann nie wieder.“
Ich presse die Lippen zusammen. Wahrscheinlich wird sie das jetzt als Frustration interpretieren. Sexsüchtig – das wird Schlagzeilen geben.
„Bitte, erzählen sie nur weiter.“
Meine Lippen sind immer noch zusammengepresst, ich beginne zu zittern. Sie schaut interessiert. Was sie jetzt erwartet? Eingeständnisse von Gier, Fetischen oder Impotenz? Alleine der Gedanke macht mich wütend. Gerade setzt sie zu noch einem Satz an, da komme ich zuvor, bevor noch etwas passiert. Ich blicke sie an, fixiere ihre Augen.
„Ich habe sie getötet. Fragen sie nicht, warum. Eigentlich war ich glücklich mit ihr, irgendwie – auch wenn ich nicht wusste, was sie eigentlich für mich empfand. Ob sie mit mir spielte, oder ob sie wirklich so war, so kalt, so belächelnd und doch so liebevoll. In dieser Nacht, ich könnte ihnen Datum und Uhrzeit sagen, wenn sie wollen, brachen wir in die Schule ein und taten es dort. Wir waren in der Schulkantine, nackt auf den Tischen, das erschien uns provokativ. Wir zitterten, als sie sich auszog und ich wusste, dass ich nicht bereit dazu war. Ich sprach das aus, was ich jeden Tag, an dem ich mit ihr zusammen war, gedacht habe: ich flehte sie an, nicht mein Herz zu brechen. Aber sie grinste nur und dann fiel das Schüchterne, Mädchenhafte von ihr ab und sie setzte sich auf mich. Auch wenn ich es genoss, nach ein paar Minuten wollte ich nicht mehr – meine Psyche machte das nicht mit. Ich wusste, dass diese körperliche Nähe, diese Intimität mir völlig neu war und ich damit nicht umgehen konnte. Erst flüsterte ich, dann rief ich und dann wehrte ich mich, aber sie hörte mich nicht. Ich stieß sie von mir herunter und vom Tisch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits die Kontrolle verlieren und irgendein Hebel in meinem Kopf legte sich um. Sie lag da am Boden, völlig verunsichert und irritiert und die dominante, kalte Seite von ihr war verschwunden. Und dennoch sagte ich zu ihr: ‚Ich habe dir gesagt, du sollst mein Herz nicht brechen.‘ Dann rang ich noch einmal verzweifelt mit mir, aber es war zu spät. ‚Jetzt breche ich dich‘, sagte ich und brachte sie um.“
Jetzt sitzt sie dort und schaut mich an. Ihr Mund steht vor Erstaunen offen und ihre Hand schwebt kurz über dem Diktiergerät, aber trotzdem lässt sie es weiterlaufen. Na, hast du sowas erwartet?
„Ich fühlte nichts Positives dabei“, fuhr ich fort, denn sie würde nichts mehr sagen. „Es war einfach ein Drang, ein Zwang, ein Selbsterhaltungstrieb. Irgendein Ding in mir übernahm die Kontrolle, um mich zu schützen. Jetzt ist sie tot und ich denke noch oft an diese Nacht zurück.“
Sie schweigt immer noch, ich weiß, wie sehr ihr Herz in diesem Moment schlägt.
„Und so wurde ich zudem, was ich heute bin. Ich war nicht immer so, aber wie ich ihnen schon sagte: ich fühlte, dass ich anderes war, als die Leute um mich herum. Und diese Nacht hat mir gezeigt, dass ich mit dieser Welt nicht klarkomme, dass ich hier nicht leben kann. Vielleicht werde ich eines Tages jemanden finden, der wie ich auch nicht von dieser Welt ist. Dann werde ich vielleicht irgendwann Frieden finden.“
Wir erheben uns gleichzeitig, und sie weicht rückwärts zur Tür zurück. Tja, kess ist sie, aber offensichtlich genauso naiv wie alle anderen. Was hatte sie sich denn vorgestellt, als ich ihre Bitte nach einem Treffen angenommen habe?
„Und heute drehen sich die Leute immer noch nach mir um. Nennen mich Freak, Widerling oder Psychopath. Und meistens ist es besser, in dem Wissen, dass man besser ist, zurück zu grinsen, als zurück zu spucken. Es kostet weniger Kraft.“
Natürlich ist die Tür längst abgeschlossen. Trotzdem rüttelt sie verzweifelt daran.
„Aber von Zeit zu Zeit ist es besser, die angestaute Wut herauszulassen“, sage ich und ziehe das Messer.
Das Interview ist beendet.

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WhiteMonkeY
Leseratte


Beiträge: 197



Beitrag18.11.2008 00:54

von WhiteMonkeY
Antworten mit Zitat

Diese Geschichte war mein Geheimtipp.
Mir war klar, dass nicht alle meine Affinität zu kranken Charakteren teilen, dass die allgemeine Bewertung jedoch so "schlecht" ausfällt, hätte ich mir nicht träumen lassen.
Spannend, überraschend und noch dazu in passender und interessanter Interview-Form - Danke fürs Lesen!


_________________
"Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor zwanzig Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt." aus Uganda

"Erfolg buchstabiert sich T-U-N.“ Susanne Westphal
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Pütchen
Geschlecht:weiblichWeltenbummler

Moderatorin

Beiträge: 10312
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Wohnort: Im Ländle
DSFo-Sponsor


Beitrag18.11.2008 01:55

von Pütchen
Antworten mit Zitat

Hallo,

schließe mich da White Monkeys Worten an. Bin auch wirklich erstaunt, da mir diese Geschichte toll gefiel.

Liebe Grüße, Pütchen


_________________
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"Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken."
(Isaac Newton, 1642-1726)

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Gast







Beitrag02.03.2009 12:05

von Gast
Antworten mit Zitat

Die Geschichte war von mir.

Sorry, dass ich erst jetzt schreibe, aber ich habs im Prinzip vollkommen vergessen. Na ja, schön dass sie euch gefällt - ich für meinen Teil hätte gedacht, dass das ein zu wagemutiges Experiment ist. wink
Noch irgendwelche inhaltlichen Fragen? Wink

LG Martin
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