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Bananenfischin Show-don't-Tellefant
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02.01.2009 20:37 Uwe Timm - Am Beispiel meines Bruders von Bananenfischin
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Sich mit der eigenen Vergangenheit, den eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen und damit zu riskieren, dass der Weichzeichner von Erinnerungsbildern entfernt wird, ist eine schwierige Aufgabe. In Uwe Timms Buch wird sie in Angriff genommen.
Schreibanlass ist zunächst, dem Leben des Bruders nachzuspüren, der sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hat und schließlich 1943 neunzehnjährig beidseitig beinamputiert in einem Lazarett in der Ukraine stirbt. Der Erzähler, der an den 16 Jahre älteren Bruder nur eine einzige Erinnerung hat, versucht ihm nahe zu kommen, indem er Briefe und Tagebucheinträge zu deuten versucht, die oft mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Diese Fragen nach der Schuld des Bruders, die Unbegreiflichkeit der in den Briefen durchschimmernden Kaltblütigkeit und des fehlenden Mitleids werden konfrontiert mit den glorifizierenden Erzählungen der Eltern, für die der verlorene Sohn immer der Gute, der Starke, der Gerechte bleiben muss, der eine große Zukunft gehabt hätte.
So ist der tote Bruder im Leben des Erzählers stets gegenwärtig, ein gutes Vorbild, dem zu folgen sei und das den kleinen Bruder vor die unmögliche Aufgabe stellt, ein Leben am Beispiel seines Bruders, den er nie wirklich kannte, zu führen, so zu sein, wie der Bruder war oder hätte sein können, das zu tun, wozu der Bruder nie die Chance bekommen hat.
Hier zeigt sich dann, dass es um mehr gehen muss als um ein Aufschreiben der kurzen Geschichte des Bruders. Zum Verstehen der eigenen Identität muss auch die Geschichte der Eltern und der Schwester erzählt werden. Doch auch dies reicht noch nicht, ein noch größerer Kontext gehört unweigerlich dazu: der Zweite Weltkrieg, das Dritte Reich.
Die Familie Timm erlebt Schicksalsschläge, die in der damaligen Zeit alltäglich waren und somit einen hohen Wiedererkennungswert besitzen. Das „Schleifen“ der Kinder vom Beginn der staatlichen Erziehung an, der Verlust von Söhnen, das Ausgebombtwerden, die Trennung der Familie, der mühsame Wiederaufbau.
Da werden Erinnerungen wach z.B. an die Erzählungen des eigenen Großvaters, der Soladat war und auf dem Rückzug aus Rußland ein Bein verlor. Der Großvater, dem plötzlich etwas klar wurde, als er aus dem Lazarett in die Heimat zurückgebracht wurde. 20 km vor der Einfahrt in Berlin wurden die Verwundeten von Güterwaggons in Prachtwagen verladen. Am Bahnhof wurde dann Halt gemacht. Eine Menschenmenge wartete und jubelte, lobende Worte auf die Vaterlandskämpfer wurden gesprochen, Rote-Kreuz-Schwestern kamen und verteilten Schokolade und andere Leckereien. Für die restliche Fahrtstrecke wurden die Männer dann wieder zurückverladen. Der Großvater, der erst jetzt, im Alter, plötzlich weint, wenn er von seiner Verwundung erzählt.
Die Tatsache, dass so viele Menschen diese Blindheit geteilt, sich mitschuldig gemacht und das letztendlich alle einen hohen Preis bezahlt haben, macht die persönliche Erfahrung jedoch nicht banaler, sondern erhöht ihre Grausamkeit noch.
Bücher wie das von Uwe Timm sind wichtig für das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft, in der das mündliche Tradieren seinen Stellenwert verloren hat und die Täter- und Opfergeneration langsam ausstirbt. Am Beispiel seines Bruders wird das Schicksal einer ganzen Generation verdeutlicht, mit all den Widersprüchen und Unvereinbarkeiten.
Diese Wiedersprüche lässt Timm besonders auch durch die Form des Buchs hervortreten. Briefzitate wechseln sich mit kurzen narrativen Passagen ab, Berichte über den Bruder, die die in den Briefen angedeutete Kaltblütigkeit in Frage stellen, unerklärlich machen wollen.
Doch Timm zitiert nicht nur Briefe und Tagebucheinträge aus seiner eigenen Familie. Er zitiert aus Zeitungen, aus Reden, Briefen, Tagebucheinträgen, Büchern von Opfern und Tätern, es fallen Namen und Zitate von Himmler, Generalfeldmarschall von Manstein, Primo Levi, Imre Kertesz und anderen, auch Sören Kierkegard wird zitiert. Durch diesen hohen Intertextualitätsgrad wird ein Blick auf die Wahrheit aus den verschiedensten Perspektiven möglich.
Doch das Buch endet mit einem letzten Widerspruch: Das Tagebuchschreiben bei der SS war verboten, und doch wurde es der Familie nach dem Tod des Sohnes von offizieller Stelle geschickt. So wird klar, dass manche Fragen einfach offenbleiben, dass Vieles nicht geklärt werden kann.
Das heißt allerdings nicht, dass man es nicht versuchen sollte. Uwe Timm hat dies auf eine erstaunliche Art und Weise getan, die Mitempfinden, Miterinnern und Mitwissenwollen lässt.
Also: Erinnerung, sprich.
_________________ Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge
Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft
I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf) |
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