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Teil 53 Alles ist im Fluß


 
 
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teccla
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 66
Beiträge: 160
Wohnort: Costa Blanca


Was suchst Du in Madagaskar?
Beitrag10.12.2008 13:14
Teil 53 Alles ist im Fluß
von teccla
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Die Fußballeuropameisterschaft war ein Erfolg. Improvisiert und chaotisch, aber gut.
Fortan hatten wir Interessenten und Stammkunden. Wir begannen auf der Terrasse organisierter zu arbeiten. Es wurden frisch gepresste Fruchtsäfte verkauft. Fruchtsäfte bekam man hier zwar überall, aber diese waren mit Leitungswasser verdünnt. Wir boten sie pur an. Vitamine pur. Milchshakes und die ersten Cocktails wurden ausprobiert und angeboten.
Jean Yves entdeckte seine Begabung als Barkeeper. Mit Vorliebe bereitete er Cocktails zu oder andere Mixgetränke.


Terassencafe am Abend

In der Küche wurde eine Arbeitsfläche gemauert und gefliest, Spüle und Warmwasserboiler eingebaut. Dies alles erfolgte nachts, um den laufenden Betrieb nicht zu stören. Rado, ein neuer Mitarbeiter, und ich verbrachten zwei Wochen Nacht für Nacht im Geschäft, um die Arbeiten zu überwachen. Nach diesen zwei Wochen war ich kaum noch ansprechbar. Tagsüber Geschäft, Termine und eine Mütze voll Schlaf im Abriss reifen Haus, nachts die Handwerker in den Geschäftsräumen.

Nicht nur das Terrassencafe erfreute sich großer Beliebtheit, auch das Internetcafé war von Beginn an voller Kunden.


Terassencafe am Tage

Bei Jean Yves stand ein Familienfest an. Er fragte, ob wir kommen können und Fotos machen. Er bat um Urlaub. Keine Frage, dass wir die Einladung annehmen würden und zumindest einen Besuch einplanten. Sein ältester Sohn, sieben Jahre alt, feierte das Fest der Beschneidung.
Jan und Sebastian fuhren dann auch an einem Samstagnachmittags zu Jean Yves. Von weitem glaubten sie noch, ein öffentliches Dorffest sei zufällig auch in der Nähe. Doch je näher sie kamen, merkten sie, dass dies alles Gäste waren, die zum Fest von Jean Yves gekommen waren.
Ca. 400 Personen feierten ausgelassen vier Tage und Nächte die Beschneidung des Jungen.
Sebastian fragte Jena Yves: „Wer ist das alles?“
Er sagte: „Familie“
„Und du kennst alle?“
„Ja“.
Sie reisten aus dem ganzen Land an. Sebastian machte Fotos. Jean Yves war sehr stolz, dass sein „Patron“ gekommen war. Tänze wurden vorgeführt. Solche Familienfeste waren ein absoluter Höhepunkt. Viele Familien verschuldeten sich dadurch auf Jahre.
Wir erfuhren, dass der Vater das Stückchen Haut, das seinem Sohn bei der Beschneidung entfernt wird, essen muss. Wir sahen uns an und schüttelten uns.
Eine andere Tradition war es, das Stück Bauchnabel, welches dem Neugeborenen irgendwann abfällt, aufzubewahren. Es wurde verpackt und aufgehoben.
Jean Yves zeigte stolz sein Stück Nabelschnur. Durch die Jahre verschrumpelt und unansehnlich geworden, bewahrte er es, wie ein kostbares Kleinod, auf. Andere Länder, andere Sitten.
Uns befremden diese Bräuche. Ich wurde oft gefragt, ob auch Mädchen beschnitten werden. Nein, dies wurde und wird nicht praktiziert.


Fest der Beschneidung

Die Papiere für den LKW waren noch nicht fertig. Das Inventar hatten wir, doch der LKW befand sich noch im Hafen. Wir wechselten den Transiteur und nach mehr als zwei weiteren Wochen bekamen wir den LKW aus dem Zoll.

Während der Mittagszeit kamen nur wenige Kunden. Diese Zeit genoss ich auf der Terrasse. Die Ruhe bei traumhaftem Wetter ließ die Gedanken spazieren gehen. Es war herrlich, bei leichtem Wind von der See und im Schatten der Bäume einen kalten Drink zu schlürfen. Herrlich.

Um im Internet zu surfen, musste ich natürlich warten bis das Geschäft geschlossen war, denn die Computerplätze waren fast immer besetzt.
Jan nahm wenig Rücksicht. Selbst wenn man ihn mahnte, dass Kunden warteten, räumte er nur widerwillig den Platz. Er beschäftigte sich täglich mit Online-Spielen.
Zur Mittagszeit oder am Abend rief er Jean-Yves oder Rado, die ihm von einem Restaurant ein Menü holen sollten. Sein Ruf „Rado! Einmal Steak mit Scheisse!“ kannten die Mitarbeiter und ich schämte mich.
Dieses „Steak mit Scheiße“ kostete so viel, wie unsere Angestellten am Tag verdienten. Sie konnten sich diese „Scheisse“ nicht leisten.
Im Widerspruch zu diesem Verhalten begann er, sein Äußeres zu vernachlässigen. Ständig hörte ich Kritik über ihn. „Kannst du dich nicht mal kämmen?“ war nur eine der fast täglichen Fragen. Selbst den Angestellten fiel es auf. Für einen Geschäftsführer war sein Verhalten einfach nur peinlich.

Dennoch ging dieser Monat mit Zufriedenheit zu Ende. Wir hatten mal wieder gezaubert. Aus dem Nichts entstanden Veranstaltungen. Den LKW konnten wir endlich aus dem Zoll holen. Die abendlichen Sportübertragungen auf der Terrasse gehörten nun schon zum normalen Leben an der Uferpromenade. Nach diesem Gewaltakt an Arbeit waren wir ausgepowert. Sehnsucht nach Urlaub und Erholung machte sich breit.

Doch der nächste Höhepunkt stand schon vor der Tür.
Die Olympiade in Athen.

Immer öfter arbeitete ich nachts durch. Sei es wegen der Gestaltung einer Webseite oder der Recherche im Internet. Es war mir nur nachts möglich, am Rechner ungestört zu arbeiten. Die Tage waren gefüllt mit Terminen bei den Ämtern wegen Genehmigungen und Formalitäten, mit dem Dienst in der Küche oder anderen Terminen.

Wir wechselten uns ab. Mein Leben bestand nur noch aus Terrasse, Küche und Internetcafé. Geschlafen wurde vormittags, wenn Jan die Aufsicht auf der Terrasse für ein paar Stunden allein übernahm..

Erfahrungen und Schmerzen lassen uns vorsichtiger werden. Wichtig ist, dass wir uns nicht verschließen, offen bleiben für das Leben, für das Neue.
Bei aller Geschäftigkeit gab es immer häufiger Momente, in denen ich reflektierte. „Was geht in mir vor? Was sagt mein Herz?“
Jan spielte noch immer eine große Rolle in meinem Leben.
Liebte ich ihn noch?
Hatte ich ihm verziehen?
Ich fühlte mich verantwortlich. Ich sorgte weiterhin für ihn, sein Essen, seine Wäsche, seine Launen. Um seine Nächte kümmerte er sich selbst.

Bei aller Vertrautheit, bei allem Verständnis und Verzeihen, bei allen Gemeinsamkeiten und Zusammenhalten, der Traum mit ihm gehörte der Vergangenheit an. Er stand neben mir und war doch Galaxien von mir entfernt. Die Vorstellung, mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen, löste keine Glücksmomente mehr aus, kein Schmunzeln stellte sich ein, kein Herz hüpfte. Eine Zukunft mit ihm in Zweisamkeit, eine Beziehung konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Ich hatte losgelassen. Doch er war für mich Partner im täglichen Kampf, Freund und Vertrauter.

In unserem Haus standen alle Möbel vom alten Internetcafe, viele Kisten. Dieses Haus war alles andere, als gemütlich. Dort wollte ich nicht bleiben, nicht in der kommenden Regenzeit. Seit dem letzten Zyklon hatte ich den Eindruck, dass es zerfällt. Breite Risse in den Wänden, um Fenster und Türen, die Stellen an der Decke, die herab zu fallen drohten und letztendlich die Enge mahnte zur Suche nach einem anderen Haus.

Nachts schliefen wir auf einer Matratze auf dem Boden des Internetcafes bei Alliance Francaise. Morgens, bevor das Personal kam, wurde die Matratze weg geräumt. Zum Duschen gingen wir ins Haus. Die Waschmaschine konnte ich dort nicht anschließen. Es war kein Platz. Geduscht wurde kalt. Kein warmes Wasser im ganzen Haus. Unter der Zimmerdecke bildeten sich Beulen, dort nisteten Termiten.
Ameisen vom Boden bis zur Decke. Von den Spinnen und Kakerlaken ganz zu schweigen.
Die Decke im Wohnzimmer wurde seit dem letzten Zyklon schwarz. Dort bildete sich Schimmel.
Vielleicht, so dachte ich mir, könnte man das Haus auch ausbauen. Eine gute Lage hat es ja, aber zunächst ging ich auf Suche nach einem anderen Domizil.

Die Sehnsucht nach einem schönen Zuhause kam auf.
Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, nicht nur eine Stelle, wo die Matratze liegt und Räume, in denen sich die Kisten stapelten, und die Angst, wenn es regnete, wo man denn dieses Mal die Schüsseln aufstellen musste.
Von Insekten zerfressene Bücher und vor sich faulende Sachen.
Ich sah mir Häuser an, suchte mit einem Makler nach einem neuen Heim. Jede Woche hatte ich nun Termine für Hausbesichtigungen. Doch entweder waren die Angebote in ähnlichem Zustand wie unser Haus, oder zu weit weg und abgelegen oder zu teuer.

Den LKW zu verkaufen erwies sich als schwierig. Es kamen viele Interessenten. Sie wollten jedoch den LKW zur Hälfte des Preises, um ihn dann in Tana teuer zu verkaufen.

Eines Tages wurde Jan von der Polizei angehalten, das Nummernschild des LKW würde nicht stimmen. Aha? Ja, tatsächlich, niemandem war es aufgefallen, nicht einmal dem Zoll.
Der LKW trug noch immer die Überführungskennzeichen aus Deutschland, die aber nicht in den Zollpapieren angegeben waren. Jan versprach, die Sache in Ordnung zu bringen.
Nun, wir brachten es in Ordnung. Jean Yves besorgte neue Blechschilder und malte das richtige Kennzeichen einfach auf. Fertig.
Problem erledigt.

Die Olympiade in Athen sorgte jeden Abend für ein volles Haus und für unpassierbare Gehwege vor der Terrasse. Wir hatten allabendlich volles Programm und der Umsatz war gut.
Viel zu tun, viel Erfolg.

Eines Abends, ich saß am Computer in der Küche, holte mich Gina, unsere Bedienung aufgeregt nach draußen. In einer Disziplin hatte unsere Mannschaft gewonnen. Die Siegerehrung begann.
Unser Personal stand an der Seite und strahlte mich an.
Ich war total gerührt.
Die deutsche Nationalhymne wurde gespielt. Am Ende begannen unsere Leute laut Beifall zu klatschen. Auch alle Gäste klatschten Beifall. Einige standen sogar auf.
Ein seltsames Gefühl, so weit von Deutschland entfernt zu sein. Nicht mehr dort leben zu wollen und doch, wenn die Nationalhymne erklingt, ist man stolz, traurig, gerührt, andächtig und bekommt Heimweh.
Warum?
Nationalstolz? Auf was? Warum?
Ich werde immer deutsch sein, auch wenn ich Deutschland verlassen habe und ich in diesem Land nicht mehr leben möchte.
Vielleicht weil dort so viele leben, die mir wichtig sind, meine Kindheit dort so schön war?
Nein, es ist mehr. Es sind meine Wurzeln.
Ein Teil meines Herzens liegt dort, in den Wäldern, in den Wiesen, im Morgentau auf dem Gras, in den Nebelschleiern, im frischen Schnee und in den hell erleuchteten warmen Stuben.



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