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Gondwana Gänsefüßchen
Beiträge: 40 Wohnort: Bad Oeynhausen
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24.11.2008 19:42 Sweet Dreams von Gondwana
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Ich starb im November 2008. Über die Art und Weise der Durchführung hatte ich ausgiebig nachgedacht. Lange. Den Abroller mit dem breiten Klebeband fand ich zunächst nicht. Wütend riß ich eine Schranktür nach der anderen auf, an manchen Stellen guckte ich sogar mehrmals und letztendlich ging ich in das Zimmer meines Sohnes, weil ich ihn dort vermutete. "Was ist denn?" fragte er, als er mir das gesuchte Objekt überreichte. "Nichts", sagte ich und sah ihm länger als gewöhnlich in die Augen.
Aus der Küche holte ich mir eine Schere. Dann schloß ich mich im Badezimmer ein. Zwei Wattebäusche, jeweils in ein Nasenloch gestopft, die Haare im Nacken zusammengefasst, begann ich das Klebeband um meinen Kopf zu wickeln, zuerst über den Mund, weiter bis über die Nase.
Es war ätzend. Grausig, keine Luft mehr zu bekommen. Wie oft war ich in den vergangenen Jahren nachts aufgeschreckt, mit dem Gefühl zu ersticken. Der Traum, aus dem ich vor vier Wochen schweißgebadet aufwachte, fiel mir wieder ein: Da war ein riesiger Raum, irgendeine Behörde, wo Daten über alle Menschen gesammelt wurden. Ich fand meinen Namen auf einer Liste mit vielen anderen. Dort waren fein säuberlich für jeden die verbleibenden Jahre, die er noch zu leben hatte, aufgeführt. Hinter meinem Namen stand keine Jahreszahl mehr.
Als ich den Druck, der sich in meiner Lunge ausbreitete, wahrnahm, ertönte aus dem Nebenzimmer laute Musik. Bass, der meinen Solarplexus fast sprengte.
"Sweet dreams are made of this ... who am I to disappear ..."
Ich riss die ganze Bandage ab, ließ mich auf den alten Stuhl meiner Großmutter fallen und starrte auf die Blutstropfen, die in schöner Regelmäßigkeit aus meiner Nase auf die weißen Fliesen fielen. Who am I to disappear ...?
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Erst heute fand ich heraus, dass es nicht disappear, sondern disagree heißt.
Manchmal können die falschen Worte die richtigen sein. Oder?
Sweet Dreams
Weitere Werke von Gondwana:
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Enfant Terrible alte Motzbirne
Alter: 30 Beiträge: 7278 Wohnort: München
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24.11.2008 19:49
von Enfant Terrible
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Wie könnte ich mir einen Text entgehen lassen, dessen Titel identisch ist mit einem meiner absoluten Lielbings-Ohrwurmsongs? Allerdings habe ich bis zur letzten Minute gehofft, es sei das Cover von Marilyn Manson gemeint...
Egal. Der Text ist sehr bewegend und beklemmend. Zwar ist die Idee, dass ein Song einen Wendepunkt im Schicksal kennzeichnet, nicht sehr neu, aber auf jeden Fall geht es in deiner Umsetzung tief unter die Haut. Ein bisschen länger und ausführlicher hätte ich mir den Text vielleicht gewünscht... und ich hoffe, dass der Ich-Erzähler nicht mit dem Verfasser identisch ist.
Da fällt mir gerade ein: Kennt jemand das Lied "Einsamer Sonntag"? Statistisch nachgewiesen ist an den Tagen, als dieses Lied im Radio lief, die Selbstmordrate extrem gestiegen, weshalb man den Song rausgenommen hatte. (weiß aber nicht genau, wann das war, ist wohl länger her)
_________________ "...und ich bringe dir das Feuer
um die Dunkelheit zu sehen"
ASP
Geschmacksverwirrte über meine Schreibe:
"Schreib nie mehr sowas. Ich bitte dich darum." © Eddie
"Deine Sprache ist so saftig, fast möchte man reinbeißen." © Hallogallo |
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Gondwana Gänsefüßchen
Beiträge: 40 Wohnort: Bad Oeynhausen
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24.11.2008 22:58
von Gondwana
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Vielen Dank für deinen Kommentar.
Die Version von M.Manson mag ich auch, aber ich bin halt mit dem Original "aufgewachsen"
Das Lied "Einsamer Sonntag" kenne ich nicht, aber es gab mal ´nen Film, der hieß "Gloomy Sunday" - da ging´s, glaube ich, um das Thema, was du ansprichst.
LG,
Gondwana
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Bananenfischin Show-don't-Tellefant
Moderatorin
Beiträge: 5335 Wohnort: NRW
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24.11.2008 23:26
von Bananenfischin
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Liebe Gondwana,
ein wenig länger hätte ich mir diesen bedrückenden Text auch gewünscht, und zwar aus folgendem Grund:
Es ist schwer nachzuvollziehen, dass der/die Ich-Erzähler/in so verzweifelt ist, Selbstmord zu begehen, wenn das eigene Kind sich im Nebenzimmer aufhält und einen womöglich noch findet.
Das mögliche Motiv wird ja nur ganz sachte angedeutet, was mir persönlich unter diesen Umständen nicht reicht.
Sehr stark fand ich diesen Satz: "Nichts", sagte ich und sah ihm länger als gewöhnlich in die Augen.
Das "Oder" am Ende würde ich weglassen, dann kann der Satz davor besser nachklingen, finde ich.
Liebe Grüße
Bananenfischin
_________________ Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge
Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft
I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf) |
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Gondwana Gänsefüßchen
Beiträge: 40 Wohnort: Bad Oeynhausen
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27.11.2008 20:36
von Gondwana
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Liebe Bananenfischin,
danke auch für deinen Kommentar . Ich lese dich immer gern, weil du so ein Talent hast, Wesentliches auf eine sehr verständliche Art deutlich zu machen.
Nachdem ich mir meinen Text nun nochmal durchgelesen habe, ist mir auch aufgefallen, dass eben diese, von dir vermissten, Informationen einfach fehlen.
Und das "Oder" lass´ ich weg ---> danke für den Tipp!
Liebe Grüße,
Gondwana
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