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Herz des Wirglers


 
 
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Minerva
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Beitrag20.11.2022 21:00
Herz des Wirglers
von Minerva
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Die Wälder flüstern immer hier oben, und immer dunstet Nebel von den Bergkuppen zu den Feldern hin; und wenn die Sonne scheint, schimmern die Ähren blond wie Linas Haar. Milan hat eins gefunden, auf den Stufen zum Brunnenhaus, aber er sagt es niemandem.
»Glaubst du, sie ist in den Brunnen gefallen?«, fragt Tore. Er beugt sich über den Schacht.
»Bestimmt nicht.«
»Dann hat der Wirgler sie geholt.«
»Niemals. Lina ist stark. Wenn, dann hat sie den Wirgler geholt.«
Tore lacht kurz, dann blickt er auf, traurig.
Aber Milan weiß es. Lina wird wiederkommen. Sie hat ihm sogar ihre Schatzkiste dagelassen, damit er darauf aufpasst. Aber das sagt er niemandem. Auch nicht Tore.
Er geht aus dem Brunnenhaus, es ist zu kühl, zu feucht, zu finster.
Und draußen wartet der Sommer.

An den Kreuzen auf dem Gottesacker schweben die fein gewebten Netze der Spinnen, in den Fäden hängt der Herbsttau wie Glöckchen, sie zittern im Wind.
»Aber in der Kiste liegt doch niemand«, flüstert Milan.
Mit Seilen wird die Kiste in das ausgehobene Loch gelassen. Lina bekommt auch ein Kreuz. Milan versteht das nicht. Sein Atem dampft empor; er geht hin und wirft eine Handvoll kalter Erde auf die Kiste im Loch.
Am Horizont ballen sich orangene Wolken auf.
Komm, mein Kind ...

Schneeschleier liegt auf den Kuppen und Wipfeln.
»Eins, zwei, drei – Butter, Brot und Ei.«
Mama stellt ihm den Teller hin. Milan will kein Brot und auch kein Ei, er will Lina wiederhaben.
Die Dämmerung glüht wie flüssiges Gold, die zuckerweißen Tannen wispern vor seinem Fenster. Komm, mein Kind ...
Am Abend guckt er in die Schatzkiste.
Steinchen, die ein bisschen glitzern, sind darin, Spiegelscherben, ihr Milchzahn und die Puppe, aus winzigen Leinensäckchen genäht, mit Stroh befüllt. Sie trägt Linas Haar.
Er öffnet ihr Kleid von hinten, hält inne, nimmt sein Taschenmesser, sticht und fährt den Rücken hinab.
Das Herz des Wirglers ist in der Puppe, hat sie gewispert. Der Stein ist glatt und flach wie ein Flussstein. Milan spiegelt sich darin, und je länger er hineinstarrt, umso finsterer wird der Stein, und er verschluckt das Wispern und Flüstern in tonlose Nacht. Und dann sieht er sie. Ihr Haar formt sich wie Goldrisse, wie Fäden und Rinnsale auf der Oberfläche.

Lina hält den nachtschwarzen Stein in der Hand, streicht mit den Fingerspitzen darüber. »Jetzt bist du für immer mein«, flüstert sie und legt das Herz mit Milan darin in die Schatzkiste.

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UtherPendragon
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U


Beiträge: 402



U
Beitrag28.11.2022 17:17

von UtherPendragon
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Uh, das ist cool! Die Übergänge sind gut gelöst für so wenig Platz, Lina ist mir bis gegen Ende des Textes zu allegegenwärtig - obwohl ihr Verschwinden nicht spezifiziert wird -, aber durch die Pointe erscheint mir dies gerechtfertigt und die Pointe ist gut, auch das Thema ist gut umgesetzt. Niedlich schaurige Mystery, die funktioniert.
Bewertungstechnisch mindestens Mittelfeld!
Best,
UP


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nebenfluss
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Beitrag28.11.2022 18:05

von nebenfluss
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Ein Beitrag aus meinem unbepunkteten Mittelfeld (quasi Plätze 11-18).

In einem mittelalterlich anmutenden Dorf geht das Gerücht von einem „Wirgler“ um, der offenbar junge Frauen entführt. Nur der treue Milan weiß, dass Lina nicht auf dem Boden des Brunnens oder sonstwo gerade gewirgelt wird, denn sie ist stark und hat dem Übeltäter schon vor ihrem Verschwinden das Herz herausgerissen, in eine Puppe genäht und in Milans Obhut gegeben. Warum er das der Dorfbevölkerung nicht verrät, bleibt ein Geheimnis.
Über drei Jahreszeiten zeigt der Text schlaglichtartig, wie Lina von den anderen erst vermisst, angesichts ihres Ausbleibens aufgegeben (ein leerer Sarg wird beerdigt) und schließlich vergessen wird. Am Ende öffnet Milan die Puppe und es passiert etwas, vielleicht eine Art Voodoo, so genau weiß man es nicht. Am Ende jedenfalls haben die beiden quasi die Plätze getauscht, Lina ist frei (auch wenn man immer noch nicht weiß, wo sie ist) und hat Milan in ihr Herz eingeschlossen, wozu auch immer dafür das ganze Drumherum nötig war. Ist Lina selbst der Wirgler? Was eventuell ein großartiger Showdown hätte werden können, bleibt hier leider aufgrund der Kürze viel zu blass, zu undramatisch und unverständlich. Vielleicht hat der offensichtliche Wunsch, beide Themenstellungen auf einmal zu erfüllen, zu diesem kryptischen Plot geführt. Oder es ist einfach keine gute Idee, ein Genre, das tendenziell auf Epos ausgelegt ist, in diese knappe Form zu zwängen. Mich hat jedenfalls auch dieser Fantasy-Beitrag nicht wirklich überzeugen können.


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hobbes
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Beitrag28.11.2022 20:17

von hobbes
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Hm. Ich bin versucht, die Geschichte zu mögen. Ich mag Märchen, die Geschichte hat einen schönen märchenhaften Ton. Aber am Ende stehe ich da und denke: Hä? Und dann fange ich halt an zu suchen und mir irgendwelche Gründe zurecht zu legen, warum ich die Geschichte nun mag oder nicht.
Und dann finde ich dummerweise einiges, was ich nicht mag.
Zum Beispiel das Wort Wirgler. Das ist nun wirklich höchst subjektiv, aber nun, was soll ich machen. Ich dachte außerdem, ich werde herausfinden, wer/was der Wirgler ist, das ist aber auch nicht der Fall. Obwohl, da bin ich jetzt arg pedantisch, der Wirgler ist halt der Wirgler, irgendeiner, vor dem z.B. man die Kinder warnt, muss man das jetzt noch ausführlicher machen, eigentlich doch nicht. Dann aber doch, denn dass der Wirgler so im Ungewissen bleibt, führt unter anderem zu meinem Hä am Ende. Also dazu, dass ich nicht verstehe, was da jetzt passiert ist und vor allem, ob ich das (Ende) schlimm finden sollte oder im Gegenteil gerade nicht.

Dann enthält der Text einiges, was es meiner Meinung nach nicht braucht und bei 400 Wörtern wiegt das natürlich umso schwerer, da muss doch eigentlich jedes Wort seine Berechtigung haben.

Zum Beispiel das hier:
Postkartenprosa hat Folgendes geschrieben:
Er geht aus dem Brunnenhaus, es ist zu kühl, zu feucht, zu finster.
Und draußen wartet der Sommer.

Wozu ist das gut, was soll das mit dem Sommer, wofür steht das Brunnenhaus, zwölftausend weitere Fragen hier einfügen, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe, ob sie überhaupt relevant sind.

Und wer ist Lina, also wer war sie? Schwester? Kinderhüterin? Freundin? Ganz was anderes?
Auch so etwas, das mir fehlt.


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V.K.B.
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Beitrag29.11.2022 11:51

von V.K.B.
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Cool, tolle herrlich altmodische Gruselgeschichte, Heimatfilm meets David Lynch vom Gefühl her. Chapeau, auf so wenigen Zeilen so eine Atmosphäre aufzubauen. Hat mir sehr gefallen.
Die Handlung bleibt mysteriös. Der Wirgler scheint eine lokale Legende zu sein (und auf die Geschichte beschränkt), im Netz finde ich ihn jedenfalls nicht. Ich denke etwas an den bretonischen Ankou. Milan will nicht wahrhaben, dass Lina weg ist und schon für tot erklärt und symbolisch beigesetzt wurde. Oder wurde ihre Leiche doch gefunden und man hat es den Kindern nur nicht gesagt? So oder so, Milan bleibt ihre Schatzkiste – und ein Flüstern. In der Puppe findet er einen Stein als Herz, verliert sich beim Hineinstarren darin und der Wirgler/Lina fängt damit seine Seele ein. Lina scheint der neue Wirgler geworden zu sein, aber ist Lina noch Lina? Würde sie Milan mit "mein Kind" rufen? All das bleibt unbeantwortet und das gefällt mir. Ich hasse übererklärte Gruselgeschichten, wo nichts mehr mysteriös bleibt. Denn der Schrecken liegt doch im Unbekannten, und da muss ich auch am Ende noch nicht wissen, was der Wirgler eigentlich ist.

Sehr gerne gelesen.

10 Punkte von mir

Beste Grüße,
Veith


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Michel
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Beitrag29.11.2022 15:09

von Michel
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Lina ist verschwunden, Milan vermisst sie. Am Ende besitzt sie ihn.
Wow, das sitzt! Ein feines Crossover zwischen Kurzprosa und Horror mit einer (un-)schönen Wendung am Schluss. Das ist eine der Geschichten, in denen sogar ich den Horror-Anteil aushalte. Sehr gruselig, sehr gut.


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Seit 27. April im Handel: "Rond", der dritte Band der Flüchtlings-Chroniken
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d.frank
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Beitrag29.11.2022 22:35

von d.frank
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Schwierig zu beurteilen, weil es im Wettbewerb ein bisschen verloren steht, mystisch, märchenhaft, eine Fabel vielleicht? Damit hebt es sich ebenso ab, wie es sich selbst ins Abseits stellt, schade eigentlich, denn sprachlich ist das gelungen, finde ich. Es transportiert eine Stimmung, ist atmosphärisch dicht und in sich geschlossen. Mit der endgültigen Interpretation hadere ich, muss an diesen Film So finster die Nacht / Let me in denken, aber so schlimm finde ich das persönlich dann auch wieder nicht, weil für mich muss nicht immer alles bis ins letzte Detail geklärt werden, nicht mit so einem Text. Schreibende, die ihre Prämisse in der Realität verorten, haben es natürlich ungleich schwerer, deswegen im Vergleich ein ein paar Punkte weniger.

edit:

Nun sind es doch sieben Punkte geworden und was ich zuerst favorisiert hatte, musste abrücken, einfach der Sprache wegen, die ich hier konsistent, gelungen und eigen finde.
Mag das wiederlesen und seinen unheimlichen Zauber verliert es dabei nicht.


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Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer
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Murnockerl
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Beiträge: 340



M
Beitrag30.11.2022 12:07

von Murnockerl
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Hier tue ich mir wieder einmal schwer. Ich mag den Stil, das Setting, die Atmosphäre - ein altertümliches Dorf, betrachtet aus Kinderaugen, Verlust, Kälte, ein mythisches Monster in den Wäldern. Leider verstehe ich trotz mehrmaligen Lesens das Ende nicht. Lina ist doch Milans Schwester, warum würde sie ihn in einen Stein bannen wollen? Wenn sie nicht tot ist, warum ist sie dann verschwunden? Warum hat sie am Ende wieder die Schatzkiste?
Ich habe mir mehrere Erklärungen in der einen oder anderen Weise zurecht gebogen, aber keine will so recht passen.
Auch wenn das Ende offen bleiben soll, fände ich es wichtig, zuminest so viel Klarheit zu schaffen, dass man (--> ich, vielleicht geht es anderen damit ja besser) versteht, welche Möglichkeiten auf dem Tisch liegen.

Da der Text meinen persönlichen Geschmack sehr trifft und ich ihn wirklich schön fand: Zehn Punkte.
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tronde
Klammeraffe
T


Beiträge: 522

Das goldene Aufbruchstück Das silberne Niemandsland


T
Beitrag01.12.2022 23:46

von tronde
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Hallo!
Schöne Bilder.
Der Schluss, mmh. Es irritiert mich die Schatzkiste, dann müsste sie ja wieder aufgetaucht sein? Und warum wartet Milan bis zum Winter mit dem Aufschneiden der Puppe?
Trotzdem gerne gelesen, gut geschrieben.

Herzliche Grüße!
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Nachtvogel
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 32
Beiträge: 117
Wohnort: Münster


Beitrag03.12.2022 02:04

von Nachtvogel
Antworten mit Zitat

Die Geschichte hinterlässt viele, viele Fragezeichen bei mir. Ich glaube, 400 Wörter haben einfach nicht ausgereicht, sie zu erzählen. Ich habe zumindest nicht verstanden, was es mit dem Wirgler auf sich hat und was jetzt überhaupt mit Lina passiert ist. Ist das so eine Körpertauschgeschichte und Lina hat sich jetzt Milans Körper gestohlen? Generell hätte für die Geschichte die Beziehung zwischen Milan und Lina noch viel weiter ausgearbeitet werden müssen. Mir ist überhaupt nicht klar, wie die beide zueinander stehen (Geschwister? Und warum vergöttert Milan Lina so und Lina hasst ihn anscheinend?). Aber wie gesagt, dafür bräuchte es mehr als 400 Wörter.
Sprachlich ist der Text gar nicht schlecht. Besonders die ersten zwei Sätze finde ich schön! Für Punkte hat es leider nicht gereicht.
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wohe
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W

Alter: 71
Beiträge: 632
Wohnort: Berlin


W
Beitrag04.12.2022 18:45

von wohe
Antworten mit Zitat

Die Vorgaben und die üblichen Kriterien (Stil, Aufbau, Spannung bzw. Stimmung, usw. = ok) sind erfüllt.
Mystischer Text, der eine Schwäche hat: der Satz „Milan hat eins gefunden“ läßt sich nicht einfach dem Schatzkästchen zuordnen und einen sonstigen sinnvollen Zusammenhang kann ich nicht erkennen.
Sonst aber gut konstruiert, läßt offen, ob der letzte Satz eine Metapher für die Sehnsucht des Jungen ist oder, was ich annehme, den Zirkelschluss beschreibt, in dem das verschwundene Mädchen sich des Jungen bemächtigt. Diese Uneindeutigkeit läd zum Nachdenken ein und erzeugt Spannung.
Gefällt mir trotz der von mir so empfundenen o.a. Unklarheit gut.
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finest.fire
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Alter: 36
Beiträge: 173
Wohnort: Berlin


Beitrag05.12.2022 12:04

von finest.fire
Antworten mit Zitat

mystisch, aber hat mich irgendwie abgeholt
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Constantine
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Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag05.12.2022 14:51

von Constantine
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Bonjour sehr geehrte Postkarte

Anscheinend behandelt diese Gruselmär etwas in der Art Rachegeist aus dem Brunnen wie man es aus diversen modernen Horror-Romanen und -Filmen her kennt, erinnert mich die Geschicht an "The Ring" und an diverse Formate wie "Tales from the Crypt". Womöglich stand für diesen Text der sogenannte Onryō, ein japanischer Rachegeist, Pate, der Rache an den Lebenden verübt.

Lina ist vermutlich im Brunnen ertrunken, ihre Leiche unauffindbar (weiß womöglich Milan mehr, aber verrät es niemanden, nicht einmal dem Erzähler, der auch nichts weiß?) beerdigt wird ihr leerer Sarg. Milan hegt ein Geheimnis um Lina, hütet über ihre Schatzkiste (eher eine Art Schatulle als eine Kiste) und ist sich sicher, sie kommt wieder.

Ja, und sie kommt wieder, während Milan aus einer kleinen Puppe den verborgenen Stein herausholt und betrachtet, fällt er (bzw. sein Herz) Lina irgendwie zu Opfer: Sein Herz ist plötzlich im Stein und Lina legt diesen in die Schatulle.

Nachvollziehen kann ich die Ereignisse nicht wirklich. Der Erzähler macht ein Geheimins daraus, warum Milan niemandem erzählt, dass er eine Strähne Linas auf den Stufen zum Brunnenhaus gefunden hat, auch wenn der Erzähler doch recht nah an Milan ist, scheint es kein personaler Milan-Erzähler zu sein, bleibt Milans Geheimniskrämerei nur an der erzählerischen Oberfläche, aber auch kein allwissender Erzähler, sonst wäre dies hier
Zitat:
Tore lacht kurz, dann blickt er auf, traurig.

nicht genauso oberflächlig geraten.
Auch wenig nachvollziehbar ist, in welcher Beziehung Lina, Milan und Tore zueinander stehen. Tore wird kurz nach der ersten kurzen Szene unerheblich für die Story und es dreht sich nur um Milan.

Am Ende ein überhastetes Ende, das mich verwirrt zurücklässt. Vermutlich aufgrund der Wortbegrenzung (7x Lina, 3x Schatzkiste, insgesamt 400 Wörter) schafft es der Text anfangs ein schönes, ländliches Setting aufzubauen und muss zum Schluss ein hastiges, gruseliges, dramatisches, überraschendes, mysteriöses, tragisches, horrormäßiges und leider wenig überzeugendes und leider mäßig überraschendes Standard-Ende dranhängen, wodurch der Text für mich sehr in Mitleidenschaft gezogen wird.

Ein zu oberflächlich geratenes Gruselstück mit einem unbefriedigenden Twist am Ende.

Es tut mir leid. Mich hat dieser Text leider wenig überzeugt: zéro points.

Merci beaucoup
Constantine
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Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag05.12.2022 17:59

von Heidi
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Der Titel

macht auf alle Fälle neugierig. Ich bekomme durch den Begriff „Wirgler“ noch vor dem Lesen ein Bild eines Geschöpfs jenseits dieser Welt in den Kopf.

Die Sprache

gefällt mir gut. Manchmal sind die Bilder für meinen Geschmack etwas zu überzeichnet:

Zitat:
Am Horizont ballen sich orangene Wolken auf.


Zitat:
Die Dämmerung glüht wie flüssiges Gold, die zuckerweißen Tannen wispern vor seinem Fenster.


Das sind nicht die einzigen Bilder, die mit üppigen Farben spielen. Durch sie wirkt der Text märchenhaft, was ja auch passt, aber irgendwie wirkt er dadurch auch ein wenig kitschig. Die Mischung kommt mir stellenweise als etwas zu radikal vor.

Insgesamt mag ich die Sprache aber gern, das Kindliche darin und auch das Klare.

Die Figur(en)

Milan wird als Figur lebendig. Seine kindliche Trauer um Lina wird deutlich, auch, wie er zu Lina steht, was er von ihr hält, von ihr denkt.
Mir gefällt, dass er über Lina denkt, sie sei stärker als der Wirgler. Lina selbst bleibt als Figur diffus, was aber auch nicht weiter schlimm ist. Tore kann ich nicht recht zuordnen, er ist eine Randfigur; erst lese ich ihn als Kind, ein Freund von Lina und Milan, später denke ich, es könnte ein Erwachsener sein. Aber das ist nicht relevant und seine Ausarbeitung als Figur ebensowenig.

Der Inhalt

Lina ist verschwunden. Milan und Tore fragen sich, wo genau sie sein könnte. Sie wird sogar ganz ohne Leichnam begraben, was Milan nicht versteht.
Nach der „Beerdigung“ geht Milan nach Hause und findet in Linas Puppe das Herz des Wirglers, es ist ein Stein. Darin sieht er Lina. Und Lina sieht – wo auch immer sie sich befindet – Milan ebenfalls in einem Stein, der so aussieht wie das Herz des Wirglers. Nun ist Milan für immer der Ihre.

Der Gesamteindruck

Die Sprache finde ich wundervoll. Es entsteht eine mystisch-kitschige Atmosphäre, die haften bleibt. Überhaupt wird das Kindsein ans sich lebendig, auch wie ein Kind denkt und was es denkt. Das gefällt mir ausgesprochen gut. An dieser Stelle kann ich zur Figurendarstellung überleiten, denn die geht damit einher, und auch die halte ich für gelungen.

Mein Kritikpunkt ist, dass die Sache mit dem Wirgler diffus bleibt. Es handelt sich um ein vermutlich dunkles Wesen, das Kinder holt. Im Grunde ist es nicht wichtig warum und weshalb und das ist auch nicht das, was ich kritisieren möchte.
Letztlich ist es das Ende, das mich dann etwas verwirrt. Lina, die den Stein in der Hand hält, ebenfalls wie Milan der nun an sich gebunden hat. Aber warum?, frage ich mich. Sie ist ein Kind, sie ist verschwunden. Ist sie nun der Wirgler? Das bleibt im Dunklen und das finde ich sehr schade, weil alles andere, gerade wegen der wirklich gut dargestellten Atmosphäre, recht gut gut gelungen ist. Ich finde den Text bis zu dieser Stelle:

Zitat:
Komm, mein Kind ...


richtig gut. Danach wird er schwammig und weiß nicht so recht wohin mit sich.

Es gibt trotzdem Punkte, allein schon wegen der Atmosphäre. Genaugenommen sechs davon.
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holg
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Beiträge: 2396
Wohnort: knapp rechts von links
Bronzenes Licht Der bronzene Roboter


Beitrag05.12.2022 18:21

von holg
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Content Warning: Nicht bis zum Ende lesen

Das ist schön.
In drei Miniaturen wird eine Geschichte erzählt, von einem verschwundenen Mädchen, von Vermissen und dem Vergehen der Zeit. Kurz, knapp, sprachlich auf den Punkt. Das ist toll gemacht.

Und dann kommen die beiden letzten Sätze. Kasper springt mit der Klatsche um die Ecke. Es gibt keinen Abschluss, kein Weiterspinnen. Eine Wendung muss her, ein Knalleffekt, eine Pointe. Törööö!
Schade. War so eine schöne Geschichte.

Nein wirklich. Ich lese bis zum letzten Abschnitt, bin begeistert, und ja, ich erwarte, dass da was kommt. Aber am Ende denke ich, ach nö.


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Why so testerical?
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Jenni
Geschlecht:weiblichBücherwurm


Beiträge: 3310

Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag05.12.2022 19:45

von Jenni
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Zuerst handelt der Text von einem verschwundenen Kind (Lina) und einem trauernden (Milan), das etwas über das Verschwinden weiß, die Idee einer Schuld schwingt mit und Hoffnung. Soweit fand ich das sehr nachfühlbar und schön. Lieblingsstelle: »Lina ist stark. Wenn, dann hat sie den Wirgler geholt.« aus dem Munde Milans, und wie viel Liebe darin steckt.
Dann kippt das ganze in eine Mystery-Geschichte, Lina ist der Wirgler und fängt Milan in einem Stein, dem Herz des Wirglers. Das ist auch immer noch schön geschrieben und funktioniert irgendwo auch, trotzdem weiß ich noch nicht so recht, ob ich diese Wendung mag.
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silke-k-weiler
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Alter: 49
Beiträge: 750

Das goldene Schiff Der goldene Eisbecher mit Sahne


Beitrag05.12.2022 22:59

von silke-k-weiler
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Lieber Text,

gern gelesen, leider hat es am Ende nicht mehr für Punkte gereicht. sad Schade, ich hätte Dir gern welche abgegeben, aber diesmal gestaltete sich die Verteilung schwierig.

Mir gefällt das angedeutete Element der dunklen Phantastik mit dem Stein und wie er offenbar von Milan Besitz ergreift und sich seiner Seele bemächtigt. Ob nur in der Vorstellung oder in einem Traum bleibt für mich offen.

Schöne Bilder, gelungene Atmosphäre.

VG
Silke
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MoL
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Beiträge: 1838
Wohnort: NRW
Das bronzene Stundenglas


Beitrag05.12.2022 23:07

von MoL
Antworten mit Zitat

Lieber Inko!

Ich verstehe die Geschichte nicht ganz, aber sie packt mich ungemein, vereint in wenigen, doch gewaltigen und malerischen Worten ein ganzes Drama und auch eine ordentliche Portion Mystik, was sie zu meiner Nummer 1 macht.


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dürüm
Wolf im Negligé

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Das bronzene Eis am Stiel Das Bronzene Pfand
Der bronzene Spiegel - Lyrik Podcast-Sonderpreis
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Beitrag06.12.2022 12:03

von dürüm
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Das Ende war mir zu unvermittelt. Plötzlich falle ich aus einem "sich eher wie Heimatroman anfühlenden Drama" mitten in finsterstes Fantasy( ist das noch Fantasy oder schon Horror?)

Hier hätte ich mir ein offeneres Ende gewünscht, ohne den Sprung ins Irreale, dann hättest Du es sprachlich sogar in meine Top Ten geschafft. Es war wirklich ganz knapp.

So leider keine Punkte.

Gruß
Kerem


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F.J.G.
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Beiträge: 1957
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Beitrag06.12.2022 12:50

von F.J.G.
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Wertes unbekanntes schreibendes Wesen,

man merkt, dass du dein Handwerk beherrschst.

Der Text ist flüssig lesbar, tiefsinnig, bedeutungsschwer, und zwar in keinster Weise aufgesetzt oder erzwungen.

Daher bin ich ziemlich sicher, dass sich für dich einige Punkte ausgehen werden.

Lieben Dank
Kojote


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Minerva
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Beitrag06.12.2022 15:43

von Minerva
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Es ist wie es ist, fragt bitte nicht ... Laughing

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Bananenfischin
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Silberne Harfe



Beitrag06.12.2022 19:16

von Bananenfischin
Antworten mit Zitat

Von mir gibt es zeitbedingt leider nur einen kurzen Kommentar.
Dieser Text ist für mich im Vergleich innerhalb dieses Wettbewerbs ein mittlerer Punktekandidat. Er ist gut geschrieben, rätselhaft, aber so richtig packt er mich nicht, ohne dass ich weiß, woran es liegt.
Letztlich wurden es 5 Punkte.


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I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
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