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Zwischen den Jahren


 
 
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FaithinClouds
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Beiträge: 158
Wohnort: Südlich vom Norden


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Beitrag26.11.2022 21:28
Zwischen den Jahren
von FaithinClouds
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Hallo, Leute!

Ich habe schon seit längerem den Gedanken gehabt, eine Fortsetzungsgeschichte zu schreiben, und möchte das deswegen hier mal versuchen. Die Geschichte spielt um die Weihnachtszeit. Ich würde jede Woche einen Teil hier reinstellen und dann eure Kritik abwarten. Wenn ihr etwas an den Geschichten auszusetzen habt, könnt ihr das gerne anmerken und ich werde schauen, ob ich es übernehmen werde (in jedem Fall aber natürlich dankbar für jede Form konstruktiver Kritik sein).
Der Text ist in der Ich-Erzählform geschrieben. Es wird Präteritum/Perfekt-Mischungen geben, weil die Geschichte den Sound einer Erzählung haben und damit näher an der Figur sein soll (also das ist schon gewollt).
Habt alle eine schöne Zeit "zwischen den Jahren" und alles Gute!🙏🏻

Zwischen den Jahren


1. Advent

In der Nacht, als dein Bruder starb, waren wir betrunken. Ich hatte am Nachmittag eine Flasche Jägermeister beim Real neben der Esso-Tankstelle gekauft, weil die Kassiererin da nie den Perso sehen wollte. Du hast mit dem Trinken weitergemacht, nachdem deine Eltern dich angerufen hatten. Was sie zu dir am Telefon sagten, hast du uns nicht verraten. Ich erinnere mich noch an deinen Blick, als du ins Zimmer zurückkamst. Du hast nicht viel geredet, aber umso mehr getrunken. Erst im Nachhinein konnte ich deine paar Worte  deuten.
Gegen Mitternacht hielt ich dir die Haare, während du in die Toilette gekotzt hast. Wir hörten die Musik aus Eriks Zimmer. Sie war dumpfer und schien von noch weiter weg als nur vom Nebenraum zu kommen.
Später haben wir uns rausgesetzt. Das Haus von Eriks Eltern hatte einen Balkon und du meintest, er sei zu groß für seine Familie. Erik war Einzelkind. Du hast ihm sein Geld geneidet. Er wiederum neidete dir die Geborgenheit, unter der du aufwachsen durftest. Unsere Zigaretten glühten in der Dunkelheit wie Leuchtkäfer. Ihr Licht wechselte unter unseren Zügen.
Vom Balkon konnte man weit nach Westen schauen. Erik sagte das. Ich hätte sonst nicht gewusst, wo welche Himmelsrichtung lag. Die kargen Felder breiteten sich flach zum Horizont aus, unterbrochen von Schnellstraßen und Eisenbahngleisen, auf denen manchmal einsame Lichter wie entlang einer Schnur durch das Schwarz wanderten. Erik wollte irgendetwas sagen, doch du bist ihm ins Wort gefallen. "Gio ist gestorben. Meine Eltern haben mich angerufen. Vorhin."
Wir haben daraufhin geschwiegen. Ich hielt meinen Atem an, damit das Glühen der Zigarette mein Gesicht nicht erhellte. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir nichts zueinander sagten. Es ist lange genug her, dass ich wieder darüber sprechen kann, ohne mir dabei anmaßend vorzukommen und gleichzeitig ist es  viel zu lange her, als dass meine Erinnerungen noch verlässlich wären.
Ich glaube, du warst diejenige, die als Erste wieder ihre Worte fand.
„Seid ihr alt genug, um zu saufen, aber nicht, um einen zu trösten, oder was?“, hast du gefragt.
Ich weiß nicht, was du damit sagen wolltest. Vielleicht weißt du das selbst nicht mehr. Vielleicht hast du das auch damals nicht gewusst.
Irgendwann meinte ich, dass es mir leidtue.  Während ich es sagte, mied ich deinen Blick. Es war leicht, die Nacht war dunkel genug. Erik meinte etwas Ähnliches. Du hast zu weinen angefangen und wir fühlten uns ungenügend an deiner Seite, weil wir dir nicht helfen konnten. Letztlich waren wir nur Kinder, die so taten, als seien sie erwachsen.

Deine Eltern sind zur Polizei gefahren. Gio wurde am Hauptbahnhof gefunden, sein Schädel war aufgeplatzt. Erik bot an, dass du bei ihm pennen könntest. Ich blieb auch da. Wir schliefen nicht, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken. Eriks Eltern waren im Urlaub, irgendwo in Spanien. Sie hatten ihm 300 Euro dagelassen und behielten Recht mit ihrer Kalkulation: Es reichte wirklich nur für eine Woche. Vor allem, weil er mit dem Geld, das nach dem Einkaufen übrigblieb, Gras und Bier kaufte.
Irgendwann gingen wir raus.
„Ich brauche einfach ein bisschen Luft“, hast du gesagt.
Ablenkung schien eigentlich das Wort zu sein, nach dem du gesucht hast.
Wir sind zu unserer alten Grundschule gelaufen. Bei Nacht von außen betrachtet, sah das Gebäude gar nicht wie eine Schule aus. Im Innenhof stand ein Klettergerüst, das zu unserer Schulzeit noch nicht dagewesen war. Erik hat irgendetwas übers Älterwerden gesagt und es passte nicht in den Moment. Wären wir noch so fröhlich wie am Abend gewesen, wären wir rauf aufs Gerüst gestiegen. Stattdessen setzten wir uns auf eine Bank unter der Platane inmitten des Hofs und kifften.
„Ich weiß nicht, ob das jetzt so eine gute Idee ist“, habe ich gesagt, als du den Joint mit spitzen Fingern entgegen nahmst.
Du hast mich gar nicht angesehen. „Ist doch eh keine Zeit für gute Ideen.“

Es war fünf Uhr, als euer Nachbar uns in eurem Hausflur gegrüßt hat, während wir uns möglichst nüchtern gaben. Er trug einen Blaumann und lächelte dir zu, so wie ich inzwischen im Treppenhaus im Vorbeigehen dem Nachbarsmädchen manchmal zulächele.
Die schlaflosen Stunden schienen deine Gestalt erst im Türrahmen zu verändern. Mit einem Mal sah man dir deine Müdigkeit an. Vielleicht hatte ich sie zuvor auch einfach als Traurigkeit missverstanden.

Gio, dein Bruder, hieß eigentlich Giovanni. Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war. Nicht durch dich, dir war egal, warum er tot war. Es sprach sich in der Schule herum. Jeder schien eine Meinung dazu zu haben.
Gio wollte Molly kaufen und war mit dem Dealer über den Preis in Streit geraten. Sie haben sich wohl gegenseitig hochgeschaukelt, bis der Junge deinen Bruder mit einem Teleskopschläger niederschlug. Er ist danach abgehauen und hat Giovanni an den stillgelegten Gleisen zurückgelassen. Später erzählte man sich, er hätte überlebt, wenn der andere Kerl den Krankenwagen gerufen hätte. Er hieß Marlon und war Schüler auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet. Weil er noch unter achtzehn war, wurde er nach dem Jugendstrafgesetz verurteilt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre er gekriegt hat. Dein Vater meinte einmal, Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, die Justiz in Deutschland sei ungerecht.
Seine behaarten Unterarme haben dabei unter der Spannung seiner geballten Fäuste gezittert. Ich denke, er hat sich vorgestellt, er könnte den Jungen selbst bestrafen.

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Ylvie Wolf
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Beitrag27.11.2022 14:26
Re: Zwischen den Jahren
von Ylvie Wolf
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Hallo FaithinClouds

Ich muss sagen, dass mich dein Text nicht gepackt hat. Das liegt wohl daran, dass ich mit der Erzählform nicht gut kann (Erzählung ist für mich schon gleich ein Ausschluss von Spannung) und auch mit der direkten Ansprache des Lesers / der Leserin.
Das ist aber ja nur meine subjektive Meinung, deshalb versuche ich mal, auf andere Aspekte einzugehen:

FaithinClouds hat Folgendes geschrieben:
1. Advent

In der Nacht, als dein Bruder starb, waren wir betrunken. Ich hatte am Nachmittag eine Flasche Jägermeister beim Real neben der Esso-Tankstelle gekauft, weil die Kassiererin da nie den Perso sehen wollte (Find ich gut als Einstieg. Man weiß direkt, dass deine Figuren minderjährig sind, ohne, dass du es explizit erwähnen musst). Du hast mit dem Trinken weitergemacht, nachdem deine Eltern dich angerufen hatten. Was sie zu dir am Telefon sagten, hast du uns nicht verraten. Ich erinnere mich noch an deinen Blick, als du ins Zimmer zurückkamst. Du hast nicht viel geredet, aber umso mehr getrunken. Erst im Nachhinein konnte ich deine paar Worte  (ein Leerzeichen zu viel) deuten.
Gegen Mitternacht hielt ich dir die Haare, während du in die Toilette gekotzt hast. Wir hörten die Musik aus Eriks Zimmer (finde ich problematisch. Wir erfahren erst im nächsten Abschnitt, dass sie sich in Eriks Haus befinden. Warum nicht hier ein "Wir hörten die Musik von nebenan, ..."?). Sie war dumpfer und schien von noch weiter weg als nur vom Nebenraum zu kommen.
Später haben wir uns rausgesetzt. Das Haus von Eriks Eltern hatte (hat, denn der wird ja immer noch da sein, oder?) einen Balkon und du meintest, er sei zu groß für seine Familie. Erik war Einzelkind. Du hast ihm sein Geld geneidet. Er wiederum neidete dir die Geborgenheit, unter der du aufwachsen durftest. Unsere Zigaretten glühten in der Dunkelheit wie Leuchtkäfer. Ihr Licht wechselte unter unseren Zügen.
Vom Balkon konnte man weit nach Westen schauen. Erik sagte das. Ich hätte sonst nicht gewusst, wo welche Himmelsrichtung lag. Die kargen Felder breiteten sich flach zum Horizont aus, unterbrochen von Schnellstraßen und Eisenbahngleisen, auf denen manchmal einsame Lichter wie entlang einer Schnur durch das Schwarz wanderten. Erik wollte irgendetwas sagen, doch du bist ihm ins Wort gefallen. "Gio ist gestorben. Meine Eltern haben mich angerufen. Vorhin."(Ist eine Dopplung, denn weiter oben schreibst du bereits, dass die Eltern angerufen hatten. Würde ich an einer der beiden Stellen kürzen)
Wir haben daraufhin geschwiegen. Ich hielt meinen Atem an, damit das Glühen der Zigarette mein Gesicht nicht erhellte. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir nichts zueinander sagten (und er hat die ganze Zeit die Luft angehalten?). Es ist lange genug her, dass ich wieder darüber sprechen kann, ohne mir dabei anmaßend vorzukommen und gleichzeitig ist es  (Leerzeichen zu viel) viel zu lange her, als dass meine Erinnerungen noch verlässlich wären.
Ich glaube, du warst diejenige, die als Erste wieder ihre Worte fand. (ah, ein Mädchen)
„Seid ihr alt genug, um zu saufen, aber nicht, um einen zu trösten, oder was?“, hast du gefragt. (Den Begleitsatz zur wörtlichen Rede benötigst du nicht. Du kündigst ja im Satz vorher an, dass sie es sagt)
Ich weiß nicht, was du damit sagen wolltest. Vielleicht weißt du das selbst nicht mehr. Vielleicht hast du das auch damals nicht gewusst.
Irgendwann meinte ich, dass es mir leidtue.  (Leerzeichen zu viel) Während ich es sagte, mied ich deinen Blick. Es war leicht, die Nacht war dunkel genug. Erik meinte etwas Ähnliches. Du hast zu weinen angefangen und wir fühlten uns ungenügend an deiner Seite, weil wir dir nicht helfen konnten. Letztlich waren wir nur Kinder, die so taten, als seien sie erwachsen.

Deine Eltern sind zur Polizei gefahren. Gio wurde am Hauptbahnhof gefunden, sein Schädel war aufgeplatzt. Erik bot an, dass du bei ihm pennen könntest. Ich blieb auch da. Wir schliefen nicht, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken. Eriks Eltern waren im Urlaub, irgendwo in Spanien. Sie hatten ihm 300 Euro dagelassen und behielten Recht mit ihrer Kalkulation: Es reichte wirklich nur für eine Woche. Vor allem, weil er mit dem Geld, das nach dem Einkaufen übrigblieb, Gras und Bier kaufte.
Irgendwann gingen wir raus.
„Ich brauche einfach ein bisschen Luft“, hast du gesagt.(Sie saßen doch auf dem Balkon?)
Ablenkung schien eigentlich das Wort zu sein, nach dem du gesucht hast.
Wir sind zu unserer alten Grundschule gelaufen. Bei Nacht von außen betrachtet, sah das Gebäude gar nicht wie eine Schule aus. Im Innenhof stand ein Klettergerüst, das zu unserer Schulzeit noch nicht dagewesen war. Erik hat irgendetwas übers Älterwerden gesagt und es passte nicht in den Moment. Wären wir noch so fröhlich wie am Abend gewesen, wären wir rauf aufs Gerüst gestiegen. Stattdessen setzten wir uns auf eine Bank unter der Platane inmitten des Hofs und kifften.
„Ich weiß nicht, ob das jetzt so eine gute Idee ist“, habe ich gesagt, als du den Joint mit spitzen Fingern entgegen nahmst.
Du hast mich gar nicht angesehen. „Ist doch eh keine Zeit für gute Ideen.“

Es war fünf Uhr, als euer Nachbar uns in eurem Hausflur gegrüßt hat, während wir uns möglichst nüchtern gaben. Er trug einen Blaumann und lächelte dir zu, so wie ich inzwischen im Treppenhaus im Vorbeigehen dem Nachbarsmädchen manchmal zulächele.
Die schlaflosen Stunden schienen deine Gestalt erst im Türrahmen zu verändern. Mit einem Mal sah man dir deine Müdigkeit an. Vielleicht hatte ich sie zuvor auch einfach als Traurigkeit missverstanden.

Gio, dein Bruder, hieß eigentlich Giovanni. Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war. Nicht durch dich, dir war egal, warum er tot war. Es sprach sich in der Schule herum. Jeder schien eine Meinung dazu zu haben.
Gio wollte Molly kaufen und war mit dem Dealer über den Preis in Streit geraten. Sie haben sich wohl gegenseitig hochgeschaukelt, bis der Junge deinen Bruder mit einem Teleskopschläger niederschlug. Er ist danach abgehauen und hat Giovanni an den stillgelegten Gleisen zurückgelassen. Später erzählte man sich, er hätte überlebt, wenn der andere Kerl den Krankenwagen gerufen hätte. Er hieß Marlon und war Schüler auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet. Weil er noch unter achtzehn war, wurde er nach dem Jugendstrafgesetz verurteilt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre er gekriegt hat. Dein Vater meinte einmal, Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, die Justiz in Deutschland sei ungerecht.
Seine behaarten Unterarme haben dabei unter der Spannung seiner geballten Fäuste gezittert. Ich denke, er hat sich vorgestellt, er könnte den Jungen selbst bestrafen (ich würde eher schreiben [...] vorgestellt, wir er den Jungen selbst bestrafte).


Ich finde, du springst sehr oft schnell hin und her. Von deinem Protagonisten hin zu Erik hin zum Vorfall hin zum Du. Hier zum Beispiel:
Deine Eltern sind zur Polizei gefahren. Gio wurde am Hauptbahnhof gefunden, sein Schädel war aufgeplatzt. Erik bot an, dass du bei ihm pennen könntest. Ich blieb auch da. Wir schliefen nicht, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken. Eriks Eltern waren im Urlaub, irgendwo in Spanien.
--> Vorfall. Erik. Ich. Erik. Das ist mir persönlich zu hastig.

Insgesamt würde ich diese Szene lieber nicht als Erzählung, sondern als erlebte Situation lesen. Da könntest du bei den Lesern Gefühle wecken. So bleibt das auf der Strecke.

Aber das ist vermutlich auch nicht deine Intention, du hast es ja bewusst so aufgebaut.

Ich hoffe, meine Anmerkungen sind etwas hilfreich. Sie spiegeln nur meine Meinung wieder (außer die Stellen mit den Leerzeichen, die sind nun mal zu viel ^^).

Liebe Grüße
Ylvie


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FaithinClouds
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Beitrag30.11.2022 08:33
Re: Zwischen den Jahren
von FaithinClouds
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Hey,

danke für deinen Kommentar😄

 und schade, dass die Geschichte dir nicht gefällt.

Die Leerzeichen verstehe ich natürlich. Deine Anmerkungen wegen der Story aber nur teilweise.


Ylvie Wolf hat Folgendes geschrieben:
Hallo
Gegen Mitternacht hielt ich dir die Haare, während du in die Toilette gekotzt hast. Wir hörten die Musik aus Eriks Zimmer (finde ich problematisch. Wir erfahren erst im nächsten Abschnitt, dass sie sich in Eriks Haus befinden. Warum nicht hier ein "Wir hörten die Musik von nebenan, ..."?).


Ich finde nicht, dass das so stört. Wenn es keine Geschichte wäre, vielleicht. Aber gleich in den nächsten Sätzen wird ja erklärt, wo sich die Protagonisten befinden.


Zitat:
Das Haus von Eriks Eltern hatte (hat, denn der wird ja immer noch da sein, oder?) einen Balkon und du meintest, er sei zu groß für seine Familie

Na ja. Die ganze Geschichte ist in der Vergangenheit geschrieben. Und der Erzähler erzählt sie im Rückblick. Finde auch nicht, dass das so falsch klingt.


Zitat:
"Gio ist gestorben. Meine Eltern haben mich angerufen. Vorhin."(Ist eine Dopplung, denn weiter oben schreibst du bereits, dass die Eltern angerufen hatten. Würde ich an einer der beiden Stellen kürzen)


Aber jetzt erst erzählt sie es dem Ich-Erzähler und Erik. Und dieser Part ist schon wichtig.

Zitat:

„Seid ihr alt genug, um zu saufen, aber nicht, um einen zu trösten, oder was?“, hast du gefragt. (Den Begleitsatz zur wörtlichen Rede benötigst du nicht. Du kündigst ja im Satz vorher an, dass sie es sagt)


Ja, den streich ich.👍

Zitat:
Ich brauche einfach ein bisschen Luft“, hast du gesagt.(Sie saßen doch auf dem Balkon?)


Nein („Wir schliefen nicht, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken.”) Außerdem weiß der Ich-Erzähler natürlich, dass es ihr nicht um die Luft geht, sondern darum, sich abzulenken. Deswegen mutmaßt er es im nächsten Satz

Zitat:
Ich denke, er hat sich vorgestellt, er könnte den Jungen selbst bestrafen (ich würde eher schreiben [...] vorgestellt, wir er den Jungen selbst bestrafte).


Ja, mein Satz klingt komisch. Den ändere ich.



Danke für deine Anmerkungen. Es hat mir schon geholfen. Bezüglich des Textaufbaus (also den monierten Sprüngen) würde ich aber noch auf andere Kritiken (wenn welche reinkommen) warten, um zu schauen, ob sie wirklich so störend sind.
Ich hoffe, du findest es nicht undankbar, dass ich nicht alle deine Vorschläge mit reinnehmen werde. Es ist immer eine Gratwanderung, wie viel Kritik man annehmen soll und wo man eher auf sein eigenes Bauchgefühl setzen möchte.
Trotzdem will ich nochmal betonen, dass ich dein Kommentar wertschätze und auch dankbar dafür bin, dass du dir so viel Zeit genommen hast😺

Alles Gute, liebe Grüße
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Ylvie Wolf
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Beiträge: 7
Wohnort: Leverkusen


Beitrag30.11.2022 10:18

von Ylvie Wolf
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Moin,

es freut mich, dass dir ein paar der Anmerkungen helfen konnten. Und natürlich ist vieles Geschmackssache, deswegen bin ich absolut nicht undankbar, keine Sorge smile
Ich kenne das ja von meinen Texten, dass man manches schreibt, weil man es eben genauso schreiben möchte und da will man niemanden reinpfuschen lassen wink

Bin gespannt, was die anderen (hoffentlich noch) schreiben.


Liebe Grüße
Ylvie


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Skatha
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Wohnort: Alpenraum


Beitrag30.11.2022 18:41

von Skatha
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Hallo FaithinClouds,

Zitat:
Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war.
Oben weiter klang es, als hätten sie gleich erfahren, wie Gio gestorben ist ("Deine Eltern sind zur Polizei gefahren. Gio wurde am Hauptbahnhof gefunden, sein Schädel war aufgeplatzt."), daher finde ich die Zeitangabe hier irritierend. Zwar wird rückwirkend erzählt, trotzdem hatte ich es zunächst chronologisch anders verstanden und stutze daher hier. Ist nur meine Leseweise, aber das würde ich oben weiter dann anders formulieren oder rausnehmen.
Zitat:
Später erzählte man sich, er hätte überlebt, wenn der andere Kerl den Krankenwagen gerufen hätte. Er hieß Marlon und war Schüler auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet.
Nachdem sich 'er' im ersten Satz auf Gio bezieht, bin ich beim zweiten Satz etwas gestolpert. Das würde ich umformulieren zB Besagter Kerl hieß Marlon und war selbst noch Schüler, auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet.
Zitat:
Dein Vater meinte einmal, Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, die Justiz in Deutschland sei ungerecht.
Da es zunächst für mich klang, als beginne die indirekte Rede nach dem ersten Komma, würde ich den Satz entweder umstellen (zB Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, meinte dein Vater...) oder den Einschub mit Gedankenstrichen deutlicher trennen.

Der Text behandelt an sich ein tragisches Thema und der doch eher nüchterne Erzählton passt da mMn durchaus. Außerdem sind ein paar schöne bildsprachliche Formulierungen drinnen, etwa wenn es um die Glimmstängel geht. Trotzdem fand ich keinen richtigen Zugang zur Geschichte. Manchen Erzähl- bzw. Gedankensprünge konnte ich nicht auf Anhieb folgen, auch hätte ich mir noch die ein oder andere konkretere Info zu den Figuren gewünscht (allen voran dem LI und dessen Beziehung zum Du).

Am meisten frage ich mich allerdings, weshalb die Eltern ihrer Tochter am Telefon diese schreckliche Nachricht mitteilen; und sie dann auch noch bei ihren Freunden lassen anstatt sie zu holen. Angeblich sei sie in Geborgenheit aufgewachsen, das Verhalten der Eltern passt hier mE nicht ins Bild. Ich fände es nachvollziehbarer, wenn die Eltern ihrer Tochter einfach nur sagen, es sei etwas passiert und sie solle sofort nach Hause kommen. Auch deshalb, weil sie und ihre Freunde offenbar noch recht jung sind.

Dass du dich auf wenig direkte Rede beschränkst, finde ich wiederum stimmig und trägt die Tragik der geschilderten Situation.

LG Skatha


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It is not despair, for despair is only for those who see the end beyond all doubt. We do not.
(J.R.R. Tolkien, The Lord of the Rings)
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FaithinClouds
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Beitrag30.11.2022 21:42

von FaithinClouds
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Hey Skatha,

auch dir vielen Dank für deinen Kommentar.

Ich denke, ich werde es abändern, und schreiben, dass der Bruder nicht tot, sondern im Krankenhaus ist, als die Eltern ihre Tochter anrufen. Sie fahren zu ihm, aber Gios Schwester soll bei ihren Freunden bleiben. Später stirbt er.  Dann ist das stimmiger😸


Zitat:
Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war. Oben weiter klang es, als hätten sie gleich erfahren, wie Gio gestorben ist .


Damit erübrigt sich das auch 😅


Zitat:
Später erzählte man sich, er hätte überlebt, wenn der andere Kerl den Krankenwagen gerufen hätte. Er hieß Marlon und war Schüler auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet.



Ja, das werde ich anpassen. 👍

Zitat:
Dein Vater meinte einmal, Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, die Justiz in Deutschland sei ungerecht. Da es zunächst für mich klang, als beginne die indirekte Rede nach dem ersten Komma, würde ich den Satz entweder umstellen (zB Monate später, als ich bei dir zum Abendessen war, meinte dein Vater...) oder den Einschub mit Gedankenstrichen deutlicher trennen.


Kann ich auch ändern.

Zitat:
Trotzdem fand ich keinen richtigen Zugang zur Geschichte. Manchen Erzähl- bzw. Gedankensprünge konnte ich nicht auf Anhieb folgen, auch hätte ich mir noch die ein oder andere konkretere Info zu den Figuren gewünscht (allen voran dem LI und dessen Beziehung zum Du).


Na ja, es sind halt Freunde. Ich wollte gar nicht viel über deren Beziehung reden, sondern mitten in die Erzählung reinsteigen.  Die Beziehung ergibt sich ja aus dem Erzählten. In einem Film wäre es  auch nicht anders. Da würde man genau die Szenen sehen, die ich eingangs beschrieben habe:
Freunde trinken in einer Wohnung. Sprung. Mädchen kotzt in Klo. Sprung. Sie sitzen auf dem Balkon, haben sich nicht viel zu sagen und rauchen. Also ich dachte, das sei so aussagekräftig genug.😓


Danke jedenfalls für deine Anmerkungen. Es ist echt hilfreich, wenn andere was zu einer Geschichte zu sagen haben, und ich weiß das wirklich zu schätzen.

Alles Gute!🙏
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Jenni
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Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag01.12.2022 00:10

von Jenni
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Hallo FaithinClouds,

mir gefällt deine Geschichte sehr gut. Der Text hat mich trotz müder und unkonzentrierter Verfassung mit den ersten Sätzen gekriegt und bis zum Ende des Kapitels mitgenommen. Ich konnte mir die Szene gut vorstellen, und die Figuren werden auf dem kurzen Stück bereits lebendig und interessieren mich. Auch sprachlich finde ich das routiniert und der Story angemessen erzählt.
Das Ende mit dem Vater deutet vieles an (Fragen zu Schuld und Selbstjustiz) und lässt mich gespannt darauf zurück, wie das weitergeht.

Auf jeden Fall werde ich erstmal dabeibleiben, wenn das eine Fortsetzungsgeschichte wird. Und vielleicht habe ich dann auch mal noch was Konstruktive(re)s zu sagen. Wink
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Nordlicht
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Beiträge: 3761



Beitrag01.12.2022 04:36

von Nordlicht
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Wow, super geschrieben! Ich lese weiter mit.
Die einzige Stelle, über die ich wirklich gestolpert bin, ist diese:

Zitat:
Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war. Nicht durch dich, dir war egal, warum er tot war.


Das klingt zuerst, als wäre er nicht durch sie umgekommen; vielleicht umformulieren in "nicht von dir"?


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BlueNote
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Beitrag01.12.2022 07:55

von BlueNote
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Hi FC!

Was für ein weihnachtliches Thema!
Ich denke, die Schilderung dieses Drogenmilieus wirkt auf uns Leser auch, wenn sie ehr nüchtern (wie ein Bericht) geschrieben ist, allein durch die Tatsachen, die sie vermittelt. Du hast dich für diese "Erzählform" entschieden, dann macht es keinen Sinn, sich auf jene einzulassen, die mit dieser "Erzählform" nicht zurechtkommen. Mir gefällt das, wenn ein Text jemanden mit "du" anspricht.

Jetzt ist halt die Frage, wie es weitergeht. Der Tod des Bruders hat ja bereits viel an Dramatik aufgeboten und ich frage mich, was bin zum 24 Dezember eigentlich noch kommt. Spannung erwarte ich nicht, vielleicht die Lösung irgend eines Rätsels ... Möglicherweise, was der Bruder für ein Mensch war (viel in der Rückschau zu schreiben, ist aber nicht einfach).

Also, gut gemacht, soweit - zumindest für mich. Absatz des Einheitsbreis, den man hier so gerne als Schreibtipp an andere weitergibt (Showing not telling, Reduktion von Adjektiven, Action zu Beginn, Erzeugen von "Spannung).

Der Einstiegssatz gefällt mir.

BN
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Beitrag03.12.2022 18:08

von FaithinClouds
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@Jenni

Hey und danke für deine Worte!

Es freut mich, dass der Text dir gefallen hat und du am Ball bleiben willst (auch wenn dadurch der Druck auf mich steigt xD).

Sofern du nichts an den Szenesprüngen auszusetzen hattest, würde ich die also drinlassen. 😅
Gerne kannst du in späteren Auszügen Sachen, die dir nicht so zugesagt haben, kritisieren. Ich lese jede Rückmeldung mit Sorgfalt!👍
Danke jedenfalls und ein schönes Wochenende!
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Beitrag03.12.2022 18:10

von FaithinClouds
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@Nordlicht

Auch dir danke für die Rückmeldung👌


Nordlicht hat Folgendes geschrieben:

Nach einigen Tagen erfuhren wir, wie er zu Tode gekommen war. Nicht durch dich, dir war egal, warum er tot war.

Das klingt zuerst, als wäre er nicht durch sie umgekommen; vielleicht umformulieren in "nicht von dir"?


Das werde ich anpassen! Danke dir👍 Ich finde das bei näherem Nachdenken nämlich auch. Zumindest holperts ganz kurz beim Lesen.

Alles Gute und ein schönes Wochenende!😸
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Beitrag03.12.2022 18:17

von FaithinClouds
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@BlueNote

Hey!

Danke auch dir für deinen Kommentar!

BlueNote hat Folgendes geschrieben:


Was für ein weihnachtliches Thema!


Ich finde schon😅 Es ist ja letztlich sowas wie eine Coming-Of-Age-Geschichte und am Jahresende wird das Vergehen der Zeit irgendwie immer greifbarer und schwerer. Außerdem ist es nicht mehr so lange hell und das schlägt aufs Gemüt.


BlueNote hat Folgendes geschrieben:
Jetzt ist halt die Frage, wie es weitergeht. Der Tod des Bruders hat ja bereits viel an Dramatik aufgeboten und ich frage mich, was bin zum 24 Dezember eigentlich noch kommt. Spannung erwarte ich nicht, vielleicht die Lösung irgend eines Rätsels ... Möglicherweise, was der Bruder für ein Mensch war (viel in der Rückschau zu schreiben, ist aber nicht einfach).


Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden😼  

Danke dir für deine Worte! Wie gesagt, es ist immer ein Spagat, wie viel Kritik man annimmt. Ich will nicht undankbar sein. Jeder hier macht das in seiner Freizeit und investiert persönliche Ressourcen in die Bewertung der Geschichten irgendwelcher Internet-randoms und da will ich nicht das Gefühl hinterlassen, es sei umsonst gewesen.
Gleichzeitig habe ich die Geschichte ja so geschrieben, wie ich es für richtig hielt und dabei eben auch bewusst Sachen anders gemacht, wie es mir dann im Nachhinein empfohlen wird. 😅  In diesem Zwiespalt will ich mich dann eben auch der Kritik stellen.

Anyway Dir auch alles Gute und ein schönes Wochenende!
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Beitrag03.12.2022 18:26

von FaithinClouds
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Hier ist die bearbeitete Version des 1.Advents. Ich habe einiges korrigiert. Der zweite Advent folgt noch! Liebe Grüße!

1. Advent

In der Nacht, als dein Bruder starb, waren wir betrunken. Ich hatte am Nachmittag eine Flasche Jägermeister beim Real neben der Esso-Tankstelle gekauft, weil die Kassiererin da nie den Perso sehen wollte. Du hast mit dem Trinken weitergemacht, nachdem deine Eltern dich angerufen hatten. Was sie zu dir am Telefon sagten, hast du uns nicht verraten. Ich erinnere mich noch an deinen Blick, als du ins Zimmer zurückkamst. Du hast nicht viel geredet, aber umso mehr getrunken. Erst im Nachhinein konnte ich deine paar Worte deuten.
Gegen Mitternacht hielt ich dir die Haare, während du in die Toilette gekotzt hast. Wir hörten die Musik aus Eriks Zimmer. Sie war dumpfer und schien von noch weiter weg als nur vom Nebenraum zu kommen.
Später haben wir uns rausgesetzt. Das Haus von Eriks Eltern hatte einen Balkon und du meintest, er sei zu groß für seine Familie. Erik war Einzelkind. Du hast ihm sein Geld geneidet. Er wiederum neidete dir die Geborgenheit, unter der du aufwachsen durftest. Unsere Zigaretten glühten in der Dunkelheit wie Leuchtkäfer. Ihr Licht wechselte unter unseren Zügen.
Vom Balkon konnte man weit nach Westen schauen. Erik sagte das. Ich hätte sonst nicht gewusst, wo welche Himmelsrichtung lag. Die kargen Felder breiteten sich flach zum Horizont aus, unterbrochen von Schnellstraßen und Eisenbahngleisen, auf denen manchmal einsame Lichter wie entlang einer Schnur durch das Schwarz wanderten. Erik wollte irgendetwas sagen, doch du bist ihm ins Wort gefallen. "Es ist was mit Gio passiert. Er ist im Krankenhaus. Meine Eltern haben mich angerufen. Vorhin."
Wir haben daraufhin geschwiegen. Ich hielt meinen Atem an, damit das Glühen der Zigarette mein Gesicht nicht erhellte. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir nichts zueinander sagten. Es ist lange genug her, dass ich wieder darüber sprechen kann, ohne mir dabei anmaßend vorzukommen und gleichzeitig ist es viel zu lange her, als dass meine Erinnerungen noch verlässlich wären.
Ich glaube, du warst diejenige, die als Erste wieder ihre Worte fand.
„Seid ihr alt genug, um zu saufen, aber nicht, um einen zu trösten, oder was?“, hast du gefragt.
Ich weiß nicht, was du damit sagen wolltest. Vielleicht weißt du das selbst nicht mehr. Vielleicht hast du das auch damals nicht gewusst.
Irgendwann meinte ich, dass es mir leidtue. Während ich es sagte, mied ich deinen Blick. Es war leicht, die Nacht war dunkel genug. Erik meinte etwas Ähnliches. Du hast zu weinen angefangen und wir fühlten uns ungenügend an deiner Seite, weil wir dir nicht helfen konnten. Letztlich waren wir nur Kinder, die so taten, als seien sie erwachsen.

Deine Eltern sind ins Krankenhaus gefahren. Gio war mit aufgeplatztem Schädel von einem Schienenarbeiter am Hauptbahnhof gefunden worden. Sie meinten, du müsstest nicht mitkommen.
Erik bot an, dass du bei ihm pennen könntest. Ich blieb auch da. Wir schliefen nicht, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken. Eriks Eltern waren im Urlaub, irgendwo in Spanien. Sie hatten ihm 300 Euro dagelassen und behielten Recht mit ihrer Kalkulation: Es reichte wirklich nur für eine Woche. Vor allem, weil er mit dem Geld, das nach dem Einkaufen übrigblieb, Gras und Bier kaufte.
Irgendwann gingen wir raus.
„Ich brauche einfach ein bisschen Luft“, hast du gesagt.
Ablenkung schien eigentlich das Wort zu sein, nach dem du gesucht hast.
Wir sind zu unserer alten Grundschule gelaufen. Bei Nacht von außen betrachtet, sah das Gebäude gar nicht wie eine Schule aus. Im Innenhof stand ein Klettergerüst, das zu unserer Schulzeit noch nicht dagewesen war. Erik hat irgendetwas übers Älterwerden gesagt und es passte nicht in den Moment. Wären wir noch so fröhlich wie am Abend gewesen, wären wir rauf aufs Gerüst gestiegen. Stattdessen setzten wir uns auf eine Bank unter der Platane inmitten des Hofs und kifften.
„Ich weiß nicht, ob das jetzt so eine gute Idee ist“, habe ich gesagt, als du den Joint mit spitzen Fingern entgegen nahmst.
Du hast mich gar nicht angesehen. „Ist doch eh keine Zeit für gute Ideen.“

Es war fünf Uhr, als euer Nachbar uns in eurem Hausflur gegrüßt hat, während wir uns möglichst nüchtern gaben. Er trug einen Blaumann und lächelte dir zu, so wie ich inzwischen im Treppenhaus im Vorbeigehen dem Nachbarsmädchen manchmal zulächele.
Die schlaflosen Stunden schienen deine Gestalt erst im Türrahmen zu verändern. Mit einem Mal sah man dir deine Müdigkeit an. Vielleicht hatte ich sie zuvor auch einfach als Traurigkeit missverstanden.

Gio, dein Bruder, hieß eigentlich Giovanni. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass er zu Tode gekommen war. Nicht von dir, du bist gar nicht erst in die Schule gekommen. Es sprach sich schnell herum. Jeder schien eine Meinung dazu zu haben.
Gio wollte angeblich Molly kaufen und war mit dem Dealer über den Preis in Streit geraten. Sie haben sich wahrscheinlich gegenseitig hochgeschaukelt, bis der Junge deinen Bruder mit einem Teleskopschläger niederschlug. Er ist danach abgehauen und hat Giovanni an den stillgelegten Gleisen zurückgelassen. Später erzählte man sich, Gio hätte überlebt, wenn der andere Kerl den Krankenwagen gerufen hätte. Der Dealer hieß Marlon und war Schüler auf der Gesamtschule unten im Neubaugebiet. Weil er noch unter achtzehn war, wurde er nach dem Jugendstrafgesetz verurteilt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre er gekriegt hat. Monate später, als ich bei dir zu Abendessen war, meinte dein Vater dann einmal, die Justiz in Deutschland sei ungerecht.
Seine behaarten Unterarme haben dabei unter der Spannung seiner geballten Fäuste gezittert. Ich denke, er hat sich dabei vorgestellt, er könnte den Jungen irgendwie bestrafen.

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realo
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Beitrag03.12.2022 18:38

von realo
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Das ist beim Lesen stets die Frage, möchte man vom Text weggebeamt werden oder möchte man bei sich bleiben, mit der Erweiterung Text. Ich gehöre meistens zur zweiten Kategorie und dann sind mir die aufeinanderfolgenden Superlative zu viel, es stumpft die Fantasie ab, bis zum gelangweilt sein. Die Haare hochhalten zum Kotzen reicht ja für das negative Gefühl erst einmal, um es zu verarbeiten. Ein paar Sätze später ist ein Kopf gespalten, so völlig aus heiterem Himmel, mich unterhält das nicht. Das ist zwar mit Buchstaben in der jeweiligen Kombination alles möglich, jedoch die Geschmäcker sind verschieden. Vielleicht soll es eine Satire sein, aber dafür ist es bei weitem nicht sarkastisch genug. Für eine literarische Erzählung fehlt die Spannung durch die Ausdrucksweise und den guten Stil. Soweit mein subjektiver Eindruck.
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FaithinClouds
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Beitrag04.12.2022 13:27

von FaithinClouds
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Hey @realo,

auch dir danke für deine Rückmeldung! Schade, dass die Geschichte dir nicht gefällt. 😓 Ich weiß auch nicht wirklich, was ich dir darauf schreiben soll. Natürlich respektiere ich deine Meinung. Es ist in Ordnung, wenn du die Geschichte nicht magst.
Was genau ist an meinem Stil "nicht gut"? Und warum hast du gedacht, der Text sei eine Satire?

Alles Gute und hab einen schönen 2. Advent!
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Beitrag04.12.2022 13:35
Re: Zwischen den Jahren
von FaithinClouds
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2. Advent

In der Schule versuchte ich, dir aus dem Weg zu gehen. Obwohl wir die Nacht, in der dein Bruder starb, miteinander verbracht hatten, konnte ich dir bei Tag kaum in die Augen schauen. Ich schämte mich, weil ich nicht für dich da war. Auch die Begegnung mit Erik habe ich gemieden. Sein Anblick erinnerte mich an den Abend, den ich um jeden Preis vergessen wollte. Vielleicht dachte ich, es könnte dadurch etwas wieder ungeschehen gemacht werden.
Drei Tage später hat mich mein Vater dann nach dir gefragt. Ich habe unaufrichtig geantwortet. Meine Worte waren nur Vermutungen. Ich glaube, er hat es gemerkt. Selten fand er passende Worte. Von ihm habe ich zu schweigen gelernt, wenn es nichts zu sagen gab.
„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit zusammen. Bald bist du erwachsen“, meinte er dann. Es kam mir richtig lächerlich vor. Er wurde manchmal unangenehm sentimental. Am Todestag unserer Mutter hörte er immer das Lied von Udo Jürgens, das sie so mochte. Ich konnte es jedes Mal kaum ertragen, wenn er mit feuchten Augen da saß und den Worten lauschte, die für ihn eine größere Bedeutung hatten als für uns.

Von der Beerdigung erfuhr ich erst am Freitag. Deine Schwester erzählte es mir in der Bahn. Sie sprach mich an, als ich aus dem Fenster schaute. Vor dem Baumarkt an der Haltestelle gingen die Pflanzen ein. Der Winter irrte bereits umher und war nachts spürbarer als tagsüber. Deine Schwester war immer ein bisschen in mich verliebt gewesen. Das hast du mir selbst einmal gesagt und ich wandte mich damals  ab, weil ich nicht wollte, dass du mich erröten siehst.
Als sie mich in der Bahn überraschte, habe ich ihr ihre Gefühle für mich nicht angemerkt. In dem Moment gab es vielleicht auch Wichtigeres. Emma war zwei Jahre jünger als du, aber ebenso hübsch, auf ihre eigene Weise. Ihre dunkelbraunen, lockigen Haare zuckten unter ihren Worten. Sie erzählte, dass die Beerdigung in zwei Tagen sei und ich kommen solle.
"Und wie geht es dir?", fragte ich.
Sie wusste nichts darauf zu antworten. Ich war nie gut darin, die richtigen Fragen zu stellen. Sie meinte, du würdest dich freuen, wenn ich käme, aber ich glaubte ihr nicht ganz.
Wir fuhren noch eine Weile, ehe sie aussteigen musste. Die verbliebene Strecke war zu lang, als dass man während der Fahrt schweigen konnte, ohne dass es unangenehm wurde. Ich habe sie etwas über die Schule gefragt. Es klang platt und allzu vorsichtig, doch sie war dankbar dafür, dass ich es versuchte. Das reichte ihr. Als sie ausstieg, hat sie mir zum Abschied gewunken, obwohl sie kaum einen Meter von mir entfernt stand. Sie wollte dadurch eine Umarmung vermeiden, obwohl sie sich nach einer solchen vielleicht sehnte. Wir handeln oft gegensätzlich zu unseren Sehnsüchten.

Am Tag der Beerdigung schien die Sonne. Ich hatte keinen Anzug und fühlte mich dadurch noch fremder unter deinen Verwandten. Sie sprachen Italienisch. Auch der Priester sprach Italienisch während seiner Predigt. Ich habe kein einziges Wort verstanden. Ich hätte aber auch nicht zugehört, wenn er es auf Deutsch gesagt hätte. Im Trauersaal saßt du mit deinen Eltern und Emma in der ersten Reihe. Ich sah nur deinen Hinterkopf, aber das störte mich nicht. Noch immer fürchtete ich, dir in die Augen schauen zu müssen. Erik war auch da. Ich hatte ihn am Mittag nach der Begegnung mit deiner Schwester angeschrieben und davon überzeugt, mitzukommen. Meine Beweggründe waren nicht edel. Ich hatte ihm eingeredet, es sei seine Pflicht, dir beizustehen, aber eigentlich wollte ich einfach nicht allein auf die Trauerfeier gehen.
Ich erinnere mich immer noch manchmal an kalten Tagen, wie unsere Schritte auf dem Kies knirschten, als wir zum Grab gingen. Wir bildeten mit einigen anderen Freunden und Bekannten deiner Familie das Ende der Prozession. Ich trug weiße Sneakers und meine Winterjacke. Das Hemd, das ich anhatte, hatte ich mir von Erik geliehen. Er war größer als ich, sodass ich es nicht ganz ausfüllte. Der Sarg wankte vor uns auf den Schultern deines Vaters und seiner Brüder, ein dunkles Boot in schwarzer See. Wir haben Erde in die Grube geworfen, nachdem der Sarg hinabgesenkt worden war. Sie fühlte sich so angenehm kalt und feucht in meiner geschlossenen Faust an, sodass ich sie gar nicht loslassen wollte.
Nach der Feier lud deine Familie die Trauergäste in ein Restaurant ein. Es gehörte einem Freund deines Vaters. Sie kannten sich seit ihrer Jugend. Auch er kam aus einem Dorf an der Amalfiküste. Erik und ich sind mitgegangen. Dein Vater bestand darauf.
„Dann kriegt ihr wenigstens was Richtiges zu essen“, hat er gesagt, im Versuch, die verlorene Leichtigkeit wiederzufinden. Wir willigten ein, weil wir ihn nicht verletzen wollten, und bereuten es sofort.

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realo
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Beitrag06.12.2022 11:58

von realo
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Diese Form erinnert mich an die Groschenromane, wie sie damals hießen, Trivialliteratur als Serie in billigen Heften mit großer Auflage. Das wahren Herz-Schmerz-Geschichten in plakativer Schreibweise für den schnellen Konsum. Manche Menschen mögen solche Dinge, genauso wie manche gerne simpel gestrickte Fernsehserien gucken, es ist so einfach sich davon berieseln zu lassen. So hat alles seinen Stellenwert, ist Geschmackssache und eine Frage der Lust. Ich lese Herz-Schmerz-Geschichten schon lange nicht mehr, aber ich erlebe sie real fast täglich mit den Mitmenschen. Ich bin da als Schriftsteller wohl eine Ausnahme, das gebe ich zu. Verkrieche mich nicht ins stille Kämmerlein, um mir die tollsten Geschichten auszudenken, erlebe sie real mit den Mitmenschen. Die größte Freude neben den virtuellen Möglichkeiten ist mir der persönliche Kontakt und das Erleben vor Ort. Deshalb sind triviale Geschichten weniger mein Geschmack. Jedoch ich weiß, wie viele Menschen gerne darauf zurückgreifen, nur sie äußern sich weniger.
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Jenni
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Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag07.12.2022 22:16

von Jenni
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Ich lese immer noch interessiert mit. smile
Die Konflikte des Erzählers und seine Angst sich mit der Du-Person auseinanderzusetzen finde ich authentisch. Vielleicht macht es auch in sofern Sinn, wie viel distanzierter das beschrieben ist als der erste Teil. Denn ohne den Eindruck im Moment noch an etwas Konkretem festmachen zu können: Den ersten Teil (erste Version) empfinde ich als unmittelbarer, da bin ich mehr im Geschehen, während mir der zweite Teil reflektierter und distanzierter erzählt scheint. Was in Bezug auf die geschilderte Situation wie gesagt für mich auch Sinn zu ergeben scheint, die Gefühle des Erzählers zum Geschehen mittransportiert.
Bevor ich mir dazu mehr Gedanken mache, möchte ich aber mal abwarten wohin das führt.
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Beitrag11.12.2022 12:28

von FaithinClouds
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@ realo

Hey,

danke für deine Nachricht. Es ist weiterhin schade, dass du den Text nicht magst. Du darfst natürlich deine Meinung haben. Dass du ihn mit Groschenromanen vergleichst, verletzt mich natürlich ein bisschen.
Vielleicht ist der Text einfach nicht für Leute wie dich gemacht (unabhängig davon, ob es wirklich eine "billige" Geschichte für simpel gestrickte Leute ist). Na ja.

Schönen dritten Advent und einen guten Start in die Woche!
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Beitrag11.12.2022 13:25

von FaithinClouds
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3. Advent

Das Restaurant gehörte zu einem Vereinsheim. Vito, der Besitzer, begrüßte deinen Vater im Eingangsbereich. Sie küssten sich auf die Wangen. Der Körper deines Vaters drückte sich an den seines Jugendfreundes. Der Anzug, den er trug, ließ ihn gedrungener wirken und beulte sich unter seinen Bewegungen aus. Seit ich mich zurückerinnern kann, war dein Vater immer ziemlich kräftig. In  diesem Winter begann das Alter seinen einstmals trainierten Körper zu verändern. Noch immer war er muskulös, doch man erkannte einen kleinen Bauch unter seinem Hemd, so wie bei vielen Fünfzigjährigen, die im jungen Erwachsenenalter regelmäßig Krafttraining ausgeübt hatten.
Deine Mutter redete an diesem Tag kaum etwas, nicht nur mit uns. Auch mit dir oder deinem Vater sprach sie nichts, was über Pragmatisches hinausging. Wortlos stand sie an der Seite ihres Mannes und hörte die Worte zwischen ihm und Vito. Ihr Blick war richtig schwer, so, wie er manchmal bei Menschen aussieht, die in die Ferne schauen.

Nach dem Essen bin ich mit Erik nach draußen gegangen. Auf dem Fußballplatz vor dem Restaurant stand der Nebel dicht wie Baumwolle über dem Grün. Erik hatte Gras dabei. Wir rauchten hinter den Umkleiden. Der Rauch vom Joint mischte sich mit dem Nebel. Erik sagte etwas über die Beerdigung. Er fand sie schwermütig. Ich sagte, das seien Beerdigungen immer. Er beließ es dabei.
Irgendwann bist du zu uns gekommen. Wir haben dich erst spät im Dunst gesehen. Du bist aus ihm hervorgetaucht wie in einem Film. Ich habe gefragt, wie es dir ginge. Du wolltest etwas sagen. Ich glaubte, es an deinem Blick erkennen zu können. Du hast es dann aber gelassen. Vielleicht schien dir der Moment nicht der richtige. Erik reichte dir den Joint. Zuerst hast du gezögert. Dann hast du ihn aber doch genommen.
Du hast zum Fußballplatz gedeutet und gesagt, Gio habe hier früher Fußball gespielt. Ich traute mich nicht, etwas dazu zu sagen.
„Welche Position?“, hat Erik gefragt.
„Verteidiger“, hast du geantwortet. Du bliest den Rauch aus, deine Lippen spitz wie beim Pfeifen. Wir schwiegen eine Weile. Die Fenster des Restaurants schickten ein gelbes Licht über den Platz. Es verlor sich diffus im Nebel.
„Bald ist Weihnachten“, sagte ich schließlich. Der Gedanke kam mir, als ich den Nadelbaum neben den Schiedsrichterräumen sah. Seine dunklen Konturen lagen halb im Weiß verborgen.
„Laber nicht. Es sind noch drei Wochen“, sagte Erik.
„Bei Aldi gibt’s schon Lebkuchen“, entgegnete ich. Mir fiel nichts Besseres ein.
„Die gibt’s schon seit Oktober.“ Während du es sagtest, hast du deine rechte Hand zu einem Oval geformt, wie es die Italiener in den Filmen immer tun.
„Ab wann ist dann sonst bald Weihnachten?“, fragte ich.
„Wenn der Weihnachtsbaum steht“, meintest du.
„Wir hatten in den letzten Jahren nie einen“, sagte ich.
Erik schien zu überlegen. „Dann würde ich sagen, wenn der Chevy-Chase-Film im Fernsehen kommt.“ Er lachte über seine Worte.
Ich sagte, dass ich den Film nicht kenne.
„Welche Filme schaut ihr denn zu Weihnachten?“ Erik forderte mit seiner geöffneten Hand den Joint von dir zurück.
„Keine Ahnung. Nichts eigentlich. Unser Vater macht vor Weihnachten oft Spätschicht, da können wir nicht viel zusammen gucken“, sagte ich.
Erik nickte und nahm einen Zug. „Und du?“ Er wandte sich dir zu.
„Tatsächlich Liebe.“ Du schlugst die Augen nieder. „Das ist der Lieblingsfilm meiner Mutter.“

Von dem Pflasterweg, der vom Spielfeld an die Umkleiden führte, erreichten uns irgendwann fremde Rufe.
Die Worte gehörten Emma. Ich erkannte sie erst, als sie sich uns bis auf wenige Meter genähert hatte. Erik versteckte den Joint hinter seinem Rücken. Der Rauch, der über seiner Schulter aufstieg, durchkreuzte seinen Versuch, zu verheimlichen, dass wir gerade gekifft hatten. Er hielt den Atem an und musste husten. Du hast gelacht, als du die Röte in seinem Gesicht bemerktest. Emma sah uns aus engen Augen an.
Sie drehte sich dir zu. „Papa sucht dich.“
„Ich komme gleich.“
Emma sah zu Boden.
„Danke, dass ihr gekommen seid“, sagte sie zu Erik und mir. „Ich hoffe, ihr fühlt euch nicht außen vor.“
„Gar nicht, alles gut“, sagte ich.
Emma lächelte schüchtern. „Es gibt jetzt Tiramisu, wenn ihr wollt.“ Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und ich hätte losheulen können. Ihre Freude über das Dessert auf der Beerdigung ihres Bruders: Deine Schwester schien der Welt ihre Ungerechtigkeit nicht lange böse nehmen zu können.

Im Restaurant standen deine Verwandten um einen Tisch in der Mitte des Raumes. Dein Vater ließ uns ebenfalls anstoßen. Er zog dich an seine Seite und raunte dir etwas zu, was ich nicht verstand. Man reichte uns Stielgläser, in denen irgendein trüber Likör stand. Er roch nach Zitrone. Das Glas war mit Kondenswasser überzogen. Als ich davon trank, spürte ich die Kälte an meinen Lippen. Erik hat das Gesicht verzogen.
Emma stellte sich zu uns und sagte, dass sie niemandem erzählen würde, was wir am Fußballplatz gemacht hätten. Es gefiel ihr, dadurch an unserem Geheimnis teilzuhaben. Ich bemerkte jetzt erst den Lidschatten um ihre Augen. Es war das erste Mal, dass ich sie geschminkt sah.
Ein Kellner brachte mir gegen Ende des Abends eine Pappschachtel und ich versuchte, ihm zu verstehen zu geben, dass es ein Missverständnis sein müsse. Dein Vater kam von der anderen Seite des Raumes. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte, er habe Vito gebeten, ein bisschen von dem, was in der Küche noch übriggeblieben war, für mich einzupacken. Anfangs versuchte ich, sein Geschenk abzulehnen, doch irgendwann gab ich nach.

Vor dem Restaurant hast du mich umarmt. „Danke, dass ihr da wart. Ich hab das gebraucht“, hast du gesagt, deine Augen in meinem Rücken verborgen. Erik stand neben uns und trat auf der Stelle. Er vermied es, dich anzusehen. Du hast dich aus der Umarmung gelöst und ich sah die Tränen, die sich dir in die Augen gestellt hatten. Als du Erik bemerktest, wandtest du dich ihm zu, um ihn ebenfalls in die Arme zu nehmen.

Zuhause empfing mich mein Vater. Er freute sich über das Essen. Ich habe gefragt, ob mein Bruder schon da sei, doch er verneinte. Mark hatte vor zwei Jahren eine Ausbildung als Anlagenmechaniker begonnen. Er wollte wie mein Vater Schicht arbeiten. Wenn er ausgelernt sei, würde er in eine eigene Wohnung ziehen.

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Nordlicht
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Beitrag19.12.2022 00:57

von Nordlicht
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Hey, ich lese noch mit smile Teil 2 finde ich sehr gelungen, bei Teil 3 wäre ich versucht, etwas zu kürzen - nicht radikal, sondern den Teil einfach etwas destillieren.

_________________
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Beitrag19.12.2022 21:51

von FaithinClouds
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4. Advent

Am Mittwoch nach dem zweiten Advent hat unser Vater mich und meinen Bruder überrascht: Er kaufte einen Weihnachtsbaum. Als er ihn durchs Wohnzimmer trug, um ihn auf den Balkon zu stellen, verlor er bereits Nadeln. Mark regte sich ein bisschen auf, weil er meinte, der Baum sei doch unnötig. Wir hatten seit Jahren schon keinen mehr zu Weihnachten gehabt. Sonst hatte unser Vater immer behauptet, die Wohnung sei dafür viel zu klein.

Wir machten uns auch generell nicht viel aus den Feiertagstraditionen. Kurz nach dem Tod unserer Mutter – ich muss damals neun Jahre alt gewesen sein - hatte es unser Vater das letzte Mal versucht. Er hatte uns am Abend vor dem sechsten Dezember gesagt, dass wir unsere Schuhe vor die Tür stellen sollten. Am nächsten Morgen haben wir sie wieder in die Wohnung geholt. Als wir die Schokoladennikoläuse aus dem Einstieg hervorholten, fiel uns auf, dass sie nass waren, obwohl wir die Schuhe trocken ins Freie gestellt hatten. Sie rochen auch richtig komisch. Schnell zählten wir eins und eins zusammen: Der Nachbarshund hatte in unsere Schuhe gepisst.

Den Baum hatte unser Vater jedenfalls beim Gartencenter in der Heinemannstraße gekauft. Bei Aldi besorgte er Christbaumkugeln und eine Lichterkette, die zu kurz war, als dass man ihn damit hätte ganz einhüllen können. Wir haben ihn gegen die Wand gestellt und so geschmückt, dass er von vorne betrachtet ganz passabel aussah. Zur Tapete hin sparten wir mit der Deko. Als mein Bruder von der Arbeit heimkam, schien er milde gestimmt. Er hat uns in knappen Worten gelobt. Bevor er sich den Baum von der Rückseite ansehen wollte, scherzte unser Vater noch, die sei noch nicht bezahlt, weswegen Mark keine allzu hohen Erwartungen haben sollte.

In den Wochen vor Weihnachten sind Erik, du und ich oft runter zum Rhein gegangen. Du hast gesagt, dich würde das Fließen des Wassers beruhigen. Erik hat seine Shisha mitgenommen. Wir saßen lange da und schauten dem Fluss zu, auf dem die Lichter der Hafenanlagen tanzten. Es war beinahe so, als könnte auch Licht, vom Wasser getragen, weit flussabwärts schwimmen, wo es sich dann irgendwo sammelte. Du sprachst nicht oft über Gios Tod. Das musstest du nicht. Wir dachten auch so oft genug an ihn. Einmal hast du gesagt, deine Schwester sei stärker als du.
„Wie meinst du das?“, habe ich dich daraufhin gefragt.
„Es ist einfacher für sie, weiterzumachen.“
Ich sah zur gegenüberliegenden Rheinseite, wo die Kräne, die die Container von den Binnenschiffen hievten, wie laublose Bäume im Dunkeln ausharrten.
„Nimmst du es ihr übel, dass sie weitermachen kann?“ Die Frage kam nicht aus meinem Mund, sondern von ganz woanders. Es war, als gehöre sie mir nicht ganz.
„Nein, ich bin nur neidisch, weil ich es nicht kann.“

Die Tage vor Weihnachten wurden unmerklich kürzer. In der Schule hast du dich selten zu Wort gemeldet. Ich saß dir gegenüber auf der anderen Seite des Klassenraums. Viele Male schaute ich zu dir hinüber, doch du erwidertest meine Blicke nicht. Du saßt deine Zeit ab, als sei sie eine Strafe, die du glaubtest, verdient zu haben, aber mit der du dich trotzdem nicht arrangieren konntest. Nachts, wenn wir uns trafen, erschrak ich über deine Stimme. Ich hielt es für ungesund, wenn man nur im Dunkeln sprach, aber sagte es dir nicht. Ich hatte Angst, dich zu verletzen.

An Heiligabend machte unser Vater Kartoffelsalat und Würstchen. Wir schalteten die Lichterkette des Weihnachtsbaums an. Ihr Licht reichte aus, um das Esszimmer zu erhellen. Mark hatte eine Freundin eingeladen. Ihre Eltern waren Türken. Sie konnte die Würstchen wegen des Schweinefleischs nicht essen, aber lobte den Kartoffelsalat. Sie hieß Aylin. Unser Vater hat sie gefragt, ob sie jemals Weihnachten gefeiert habe, was sie verneinte.
„Wir eigentlich auch nicht“, habe ich gesagt und sie lächelte schüchtern.
Von unserem Vater bekam ich ein Paar Kopfhörer. Er hatte das Geschenk nicht unter den Baum gelegt.
„Man muss es ja nicht übertreiben“, sagte er, als ich ihn darauf ansprach. Sie waren teuer. Ich habe ihm gedankt. Als ich ihm sein Geschenk überreichte, freute er sich. Nicht wirklich über das Geschenk an sich, sondern darüber, dass ich überhaupt an ihn gedacht hatte. Ich hatte ihm ein Rasierwasser von Adidas gekauft. Die Lichter des Baumes schwammen in seinen Augen wie jene unten am Containerhafen im Rhein. Vielleicht erinnerte er sich an Mama. Vielleicht begann auch einfach das Bier zu wirken. Ich ließ ihn gegen neun Uhr mit Mark und Aylin in der Wohnung zurück. Mein Bruder sah mich noch einmal mitleidssuchend an, doch ich ignorierte seinen Blick. Unser Vater schaltete gerade die Stereoanlage an und legte die Udo-Jürgens-CD ein.

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