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Die Abwesenheit der Madame Chevallier


 
 
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anderswolf
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1069



Beitrag17.09.2022 00:36

von anderswolf
Antworten mit Zitat

Mit der subtilen Augenöffnung, dass Odette die Schwanenkönigin aus dem Schwanensee ist (keine Ahnung, wie ich das übersehen konnte), wollte ich eigentlich noch ein bisschen weiter rumrätseln, aber dann warte ich vielleicht lieber, bis du den Text überarbeitet hast und werfe einfach noch schnell ein paar zusammengestückelte Notizen dazu, die vielleicht aber auch schon angesprochen wurden.

Mehr habe ich das Gefühl als dass ich es weiß, dass hier ein Subplot versteckt sein könnte oder eine geheime Bedeutung, die sich mir nicht entschlüsselt. Passend ist das zum Schwarzen oder Schwarz werdenden) Schwan, der auf eine Theorie zur (Un)Vorhersehbarkeit von Geschehnissen anspielt (siehe Nassim Nicholas Talebs Buch Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse).
Ein Schwarzer Schwan (ähnlich der Weiße Rabe) bezeichnet ein gänzlich unvorhergesehenes Ereignis; und Madame Chevallier, nicht bekannt für Überraschungen, will eben alles genau vorhersehbar haben, unüberraschend, same procedure as last every year. Mit dem Unterschied, dass alles nur Staffage ist, unecht, Illusion, wie die Gäste nach und nach entdecken. Menschen erklärten sich, so Taleb, Unerwartetes so, dass es in ihre Erfahrungs- und Erwartungsmuster passt. Dabei unterlägen sie aber der Dreifaltigkeit des Missverstehens, nämlich
1. der Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen,
2. der retrospektiven Verzerrung historischer Ereignisse und
3. der Überbewertung von Sachinformationen, kombiniert mit einer Überbewertung der intellektuellen Elite.

Madame Chevalliers Gäste haben keine Ahnung, was das alles soll, sie bewerten ihre eigene Rolle, ihre gesellschaftliche Position zu hoch, und wenn man will, lässt sich auch erkennen, dass ihre Erinnerungen an die Details vom Vorjahr eher von ihren Erwartungen bestimmt werden als vom tatsächlichen Ereignis im Vorjahr.

Wobei ich hier schon arg spekulieren muss, und das ist die größte Schwäche des Textes. Dass ich bei so vielen ausgestreuten Brotkrumen irgendwie die Spur so sehr verliere wie die Gäste das Interesse an der Suche nach der Vermissten, und einige Schnipsel wie der zerrissene Brief auch mehr blaue rote Heringe in einem Mystery-Dinner-Krimi darstellen als relevante Teile der Geschichte oder ihrer Aussage ... Dass ich also etwas in den Text hineinlese, dass da wahrscheinlich nicht ist. Was natürlich auch wieder zur Dreifaltigkeit des Missverstehens passt. Oder, wie ich mich kurz vertippt hatte, des Mussverstehens.

Letztlich verliere ich aber mit jedem weiteren Lesen einen weiteren roten Faden.

Die ganze Feier ist offensichtlich eine Inszenierung, vielleicht war Madame ja von Anfang an auch nur eine Kunstfigur (also auch im Vorjahr). Das Fest sollte die vermeintlichen Wohltäter entlarven als das, was sie sind: Hedonisten, die sich von ihrem schlechten Umwelt- und Sozialgewissen letztlich auch nur von der Scham freikaufen, in ihrer Wohlstandsblase (inklusive Gated Communities) die tatsächliche Verwahrlosung der Welt ignorieren zu dürfen.
Denn das ist ja das Verhalten, das die Gäste sehr offensichtlich an den Tag legen: statt gleich die Polizei zu rufen, weil Madame entführt worden zu sein scheint, fallen sie lieber über das Buffet her und feiern ein rauschendes Fest, rufen sogar eher noch die Presse, um sich womöglich noch schnell in Gönnerpose ablichten zu lassen, wenn sie verkünden, welchen Organisationen sie Geld spenden werden wollen, bevor sie dann abdüsen und das Aufräumen der Polizei überlassen.

Gegen diese Interpretation spricht natürlich der zerrissene Brief, der offensichtlich nicht vom Schwan zerfleddert, sondern in Wut zerrissen und dann erst partiell vom Schwan gefuttert wurde. Der Inhalt des Briefes bleibt ein Rätsel, auch die lose Erwähnung des Manuskripts und der Entführung (was, glaube ich, in beiden Erwähnungen eine falsche Fährte darstellt), bleiben unerforscht. Es ist unbefriedigend.

Entweder ist das Rätsel also zu fest verpackt, als dass ich da die Knoten lösen könnte, oder es gibt kein Rätsel. Wahrscheinlich ist es, wie eine der Figuren sagt: "Wenn noch niemand was weiß, haben alle eine Idee, was dahinterstecken könnte. Aber was wirklich geschehen ist, erfahren wir nie."

In Platons Höhlengleichnis geht es nebenbei darum, dass man schon sehen wollen müsse, um erkennen zu können. Und dass vielleicht gleichzeitig, wenn man erkannt habe, nie wieder die Erkenntnis unerkannt werde verunmöglichen können.
Das ist vielleicht der Vorwurf, den der Text jener Schicht der Gesellschaft machen will: dass sie eben nicht sehen wollen aus Angst, dann auch erkennen zu müssen. Und dann eben auch konsequent handeln.

Also: es ist eine Mystery-Geschichte, die eine Botschaft hat, die aber nicht ankommt. So wie in der Geschichte die Botschaft der Madame nicht ankommt, weil die Nasen sich lieber am Buffet laben als nach der Madame zu suchen.
Oder: es ist einfach noch nicht fertig, denn, wie du ja schon angekündigt hattest, hattest du eigentlich zu wenig Zeit.

Es gibt übrigens ein Odette-Chevalier-Institut, das ist eine Schönheitsfarm in Quebec. Hat aber wahrscheinlich damit nichts zu tun. Oder vielleicht doch?
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nebenfluss
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Beitrag19.09.2022 16:09

von nebenfluss
Antworten mit Zitat

Hallo anderswolf,
vielen Dank für dein tiefes Hinabtauchen in den Text, auch wenn es am Ende in mancher Hinsicht unbefriedigend war. Dein Kommentar vermittelt mir, dass du dir die Sache alles andere als leicht gemacht (und hoffentlich auch ein bisschen Spaß dabei gehabt) hast.
Ich gehe anhand deiner Rezension (dann doch noch) auf einen Aspekt ein, zu dem sich in der Überarbeitung wohl nichts Wesentliches ändern wird: auf den Schwan.
anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Mit der subtilen Augenöffnung, dass Odette die Schwanenkönigin aus dem Schwanensee ist (keine Ahnung, wie ich das übersehen konnte), wollte ich eigentlich noch ein bisschen weiter rumrätseln

Vor dieser falschen Fährte sollte ich wohl doch eine Straßensperre errichten ...
Als ich die Szenerie des Charity-Events vor Augen hatte, fragte ich mich, ob der Schwan nicht etwas zu gut ins Setting passt, also vielleicht schon kitschig wirkt. Beim Nachdenken darüber, warum das so ist, stieß ich schnell auf den Schwanensee, der als 'bildungsbürgerliches Standardwerk' maßgeblich dafür verantwortlich sein dürfte. Ich fand heraus, dass die Madame keinen besonders extravaganten kulturellen  Geschmack besitzt, sondern sich am Kanon orientiert, den Schwanensee liebt und die Anwesenheit des Schwans bei ihrer Entscheidung für ausgerechnet diesen Landsitz den Ausschlag gegeben hatte. Als ich dann an dieser einen Stelle den Eindruck hatte, mal den Vornamen nennen zu müssen, kam mir Odette in Verbindung mit Chevallier sehr passen vor.
Es ist also vergleichsweise profan.  
Absolut ins Schwarze (haha) triffst du allerdings mit deiner Anmerkung zu Talebs Schwarzen Schwan (V.K.B. hat ihn auch erkannt). Besonders freut mich, dass du ...
anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Ein Schwarzer Schwan (ähnlich der Weiße Rabe) bezeichnet ein gänzlich unvorhergesehenes Ereignis; und Madame Chevallier, nicht bekannt für Überraschungen, will eben alles genau vorhersehbar haben,

... die von mir genau so gedachte Verbindung zwischen Ende und Anfang hergestellt hast. Die Verfärbung des Schwans soll auf das Scheitern des Vorhabens hinweisen, gleichzeitig ist der Schwan nicht nur selbst das unvorhergesehene Ereignis, sondern weiß auch als einziger (außer der Madame) von diesem Brief, der „wütend zerrissen“ wurde. Die Bedeutung des Briefes geht im Text aus mindestens drei Gründen unter ... aber ich wollte beim Schwan bleiben.
Noch unklar bin ich mir, ob ich ein weiteres Darling killen muss, quasi den letzten Satz. Ob das nicht eine Drehung zu viel ist, auch noch anzudeuten, der schwarze Schwan könnte nur seine Silhouette vor dem Sonnenuntergang sein (und seine Verfärbung wäre dann auch bei Sebastian schon eine optische Täuschung durch die Lichtverhältnisse gewesen). Wahrscheinlich beißt sich da zu viel gegenseitig in den Schwanz. Das Publikum ja ein Thema erkennen und sich nicht veräppelt fühlen.
Was mich auch noch zu einer weiteren Bemerkung von dir bringt:
anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Mit dem Unterschied, dass alles nur Staffage ist, unecht, Illusion, wie die Gäste nach und nach entdecken.

Wenn das auffällt, ist das schon mal gut. In der zweiten Version wird hoffentlich auch noch deutlicher werden, um welche Illusion es sich handelt.

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
denn, wie du ja schon angekündigt hattest, hattest du eigentlich zu wenig Zeit.

Es gibt übrigens ein Odette-Chevalier-Institut, das ist eine Schönheitsfarm in Quebec. Hat aber wahrscheinlich damit nichts zu tun. Oder vielleicht doch?

Meine Zeit hat tatsächlich nicht ausgereicht, um solche absurden Recherchen zu betreiben Laughing
Etwas schade ist, dass ausgerechnet rund um den Namen Chevallier recht viel gemutmaßt wurde. Etwas gedacht bzw. die Historie erforscht habe ich bei anderen Namen, aber das ist natürlich eher Zufall, ob das in der Bewertungszeit mit siebzehn/achtzehn Texten bemerkt wird oder nicht.


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